Schule des Rades
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst
Für und wider die Theosophie
Naturwissenschaft des Geistes
Heute will ich das kurz zusammenfassen, was ich über die Theosophie außer dem noch zu sagen hätte, was der Adyar-Abschnitt meines Reisetagebuchs und der vorhergehende, in etwas breiterer Fassung ursprünglich im Märzheft 1912 des Theosophist (Adyar-Madras) veröffentlichte Aufsatz über dieses Thema bringen. Beide Auseinandersetzungen orientierten sich hauptsächlich an der angelsächsischen, vornehmlich von Mrs. Annie Besant inspirierten Theosophenbewegung. Die folgende wird vorzugsweise auf deren deutsche, Steinersche Abart Bezug nehmen. Im Übrigen bemerke ich ausdrücklich voraus, dass ich mit diesen drei Abhandlungen den Gegenstand auch für mich nicht als erschöpft betrachte. Schon durch sie hindurch wird der aufmerksame Leser eine innere Entwicklung feststellen können. Es sollte mich wundern, wenn diese nicht bis zu meinem Lebensende anhielte, so dass ich nicht noch öfters Anlass fände, mich von neuer Grundlage aus dem Problem der Geisteswissenschaft
zu widmen.
Seit dem Jahr 1911, in dem ich zum erstenmal mit der Theosophie (in Indien) in persönliche Fühlung kam, hat diese in ungeheurem Maß an Bedeutung und Macht gewonnen. Dies hängt damit zusammen, dass sie durchaus ein Kind ihrer Zeit, mit ein Ausdruck dessen ist, was allem Werden Sinn und Richtung gibt, und diese Richtung sich immer mehr präzisiert. Die Welt von gestern stirbt, eine neue drängt gleichzeitig ins Dasein; der Gesamtzustand der Menschheit muss demzufolge ein krankhafter sein. So versteht sich das Vorherrschen von Zersetzungserscheinungen in dieser Zeit recht eigentlich von selbst, und dass solche innerhalb der theosophischen Bewegung besonders zahlreich vorkommen, bietet desto weniger Anlass zur Verwunderung, als deren ganzer Charakter sie zum Sammelbecken alles irgendwie Pathologischen — vom Aberglauben bis zum Neuro- und Psychopathischen — vorherbestimmt erscheinen lässt. Deshalb setzt sich die Theosophengemeinde zu einem beträchtlichen Teil aus solchen zusammen, welche nicht dem Neuwerdenden, sondern dem Sterbenden und Schlackenhaften angehören. Nichtsdestoweniger ist die theosophische Bewegung doch wesentlich jenem zuzurechnen. Sie ist ein Ausdruck unter anderem des Bestrebens, zu geistiger Wirklichkeit ein unmittelbares Verhältnis zu gewinnen, aus ihr heraus zu leben. In dieser Hinsicht stimmen buchstäblich alle als positiv zu beurteilenden Bewegungen dieser Zeit überein. Auf allen geistigen Fronten erscheint der Materialismus heute besiegt. Ob es sich, in der Philosophie, um Simmels drittes Reich, Husserls Wesenserkenntnis, die Welt der Werte oder des Sollens von Høffding und Rickert handelt, oder um die wachsende Hochschätzung der indischen Metaphysik; ob um die religiösen Bestrebungen Johannes Müllers und des New Thought, die neuen medizinischen Theorien von Freud bis Schleich: überall bricht sich die Anerkennung einer Realität jenseits des Sinnlich-Sichtbaren Bahn; immer mehr wird geistige Wirklichkeit eben als wirklich anerkannt, nicht bloß als Spiegelung oder Menschengeschöpf. Was der Theosophie nun innerhalb dieser Gesamtbewegung ihren Sondercharakter verleiht, ist, dass sie geistige Wirklichkeit von außen anzuschauen trachtet, wo diese sonst nur als subjektiv-innerlich erlebbar gilt. Sie ist insofern der letzte und äußerste Ausdruck des materialistisch-naturwissenschaftlichen Zeitalters. Aber gleich wie die noch so äußerliche Naturwissenschaft in ihrer eigensten Sphäre durchaus und einzig berechtigt ist, ebenso bedeutet jene Naturwissenschaft des Geistes
, als welche Rudolf Steiners sogenannte Geisteswissenschaft
am Treffendsten zu kennzeichnen wäre — denn sie behandelt das Geistige genau so von außen her, wie die Naturforschung die physische Welt —, sofern sie einen realen Gegenstand hat, nicht allein etwas überaus Interessantes, sondern etwas unbedingt Berechtigtes. Dass sie nun einen realen Gegenstand hat, bezweifle ich nicht, nicht zwar aus persönlicher Hellseher-Erfahrung, die mir fehlt, sondern aus Erwägungen der Wahrscheinlichkeit, die man in meinem Reisetagebuche nachlesen möge. Auf alle Fälle erscheint mir gewiss, obschon ich den Beweis dessen nicht erbringen kann, dass Gedanken, Gefühlen usw. innerhalb ihrer Sonderwelten spezifische Formen körperhafter Art entsprechen, welche ihr objektives Dasein kennzeichnen, was nichts anderes besagt, als dass das Geistige, das sich, von normaler Bewusstseinslage her betrachtet, als ein rein Innerliches, Subjektives, Unobjektivierbares darstellt, zugleich eine Außenansicht hat. Damit ist das Problem der Realität des Gegenstandes einer möglichen Geisteswissenschaft
im Steinerschen Verstande prinzipiell positiv entschieden. Und darauf kommt es an. Fortan kann kein Versagen im Einzelnen mehr in meinen Augen den Wert der Sache selbst in Frage stellen. Den Einzelbehauptungen der Okkultisten stehe ich abwartend gegenüber — die Zeit ist gewiss nicht mehr fern, wo wir Genaueres wissen werden. Im Bereich dessen, was man die Physiologie des Übersinnlichen nennen könnte, dürfte schon manches heute richtig erkannt sein. Dass die Dinge hinsichtlich der allgemeinen Zusammenhänge, zumal historischen Charakters, ebenso liegen sollten, mag ich nicht glauben: das Meiste dessen, was über die Innenseite des Geschichtsprozesses, zumal des Christus-Ereignisses offenbart
wird, klingt mir nach Wahn. Sicher ist ferner eins: sobald die Geisteswissenschaft
vom Geist im Sinn der Philosophie und Religion zu künden vorgibt, redet sie Unsinn. Das Geistige an sich
ist von außen überhaupt nicht anzuschauen, es ist nur innerlich, als Bedeutung, als Sinn zu fassen; und zu diesem wahren, inneren Sinn weist keine Deutungskunst im Steinerschen Verstande, die überall von außen nach innen vordringt, einen Weg. Sobald die Geisteswissenschaft
vom Geistigen selbst, und nicht bloß dessen Außenansicht, Erkenntnis zu vermitteln vorgibt, und dergestalt Religion und Philosophie ersetzen will, führt sie zur Aufstellung eines noch absurderen materialistischen Systems, als es dasjenige Haeckels oder Ludwig Büchners war. Allein Rudolf Steiner selbst begeht diesen Fehler nur gelegentlich, aus mangelndem Wortgewissen mehr als aus Einsichtsmangel, häufig verfällt ihm bloß seine Gemeinde und beinahe immer — leider — die der Adyar-Theosophen. Steiner selbst ist, seinen besten Seiten nach gewürdigt, ein echter Naturwissenschaftler, und kulturgeschichtlich beurteilt wohl der äußerste Ausdruck des verflossenen naturwissenschaftlichen Zeitalters, das in ihm in ein geistigeres einmündet. Weshalb es nicht gegen, sondern für ihn spricht, und jedenfalls für sein Wesen symbolisch ist, dass seine geistige Laufbahn in gewissen Hinsichten von Haeckel ausging.
Die Theosophie bezeichnet den letzten und äußersten Ausdruck des naturwissenschaftlichen Zeitalters: aus dieser Erwägung allein gelingt es ganz, ihre historische Notwendigkeit sowohl, als den Sinn ihres ungeheuren Erfolges einzusehen. Die Masse bleibt hinter ihren Führern typischerweise um mindestens dreißig Jahre zurück; also steht sie, was immer die Oberfläche ihres Geists bewegen möge, innerlich heute da, wo etwa Ostwald stand; die Rückwendung zum Geistigen hat sie noch nicht wirklich, physiologisch mitgemacht. (Hieraus vornehmlich erklärt sich der ungeheuerliche, in der Geschichte einzig dastehende Materialismus, der in den revolutionären Erhebungen der letzten Jahre, trotz aller idealen Programme, die als solche allerdings in eine edlere Zukunft hinausweisen, zum siegreichen Ausdruck gekommen ist.) Folglich kann ihr geistige Wirklichkeit genau nur insoweit einleuchten, als sie dieselbe von außen her sieht. Manche wundern sich darüber, wie es nur möglich sei, dass die Inhalte der Geheimlehren
, die noch bestenfalls als wissenschaftliche Wahrheiten bezeichnet werden können, den Gegenstand religiösen Glaubens bilden: dies ist eben ein Ausdruck unter anderem jenes wissenschaftlichen Zeitalters, das Religion nur als Wissenschaft zu verstehen fähig war. So glaubte Wilhelm Ostwald an die Energie. Und die theoretische Unzulänglichkeit dieser inneren Einstellung ändert nichts an ihrer historischen Notwendigkeit. Für die Mehrzahl gibt es heute tatsächlich keinen anderen Weg zur Religion zurück, als über die Wissenschaft, keinen anderen Weg zur Innerlichkeit des Geistes, als über dessen äußere Anschauung. Deshalb hat es in diesem Zusammenhang wenig Zweck, das Negative der Theosophie zu betonen: diese hat vielmehr gerade insofern ein geistiges Verdienst, als sie, den Materialismus auf die Spitze treibend, Materialisten über Materialisationen hinweg der Anerkennung geistiger Wirklichkeit zuführt. Diese Anerkennung bedeutet, kulturhistorisch, die Hauptsache.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich schon, dass die Rolle der Theosophie als bewusstseinsbetonter Bewegung die einer Vermittlerin, einer Übergangsstufe ist; und dass der ihr entsprechende Geisteszustand kein End-, sondern ein Anfangsstadium darstellt. Die Geisteswissenschaft
weist den Massen dieser Zeit am Einleuchtendsten den Weg vom Materialismus zur Geistigkeit zurück. Im Übrigen aber trägt sie ein neues Moment, das als Impuls wirkt, in das Geschehen hinein. Dies besteht eben in der erkannten Möglichkeit, die Geisteswelt von außen anzuschauen und sich so ihrer selbständigen Wirklichkeit zu vergewissern. Diese Möglichkeit lag im Großen noch niemals vor; kein Wunder daher, dass sie das geistig-seelische Gleichgewicht bei überaus vielen erschüttert oder aufgehoben hat. Hier liegt die tiefste Ursache jenes vielfach Ungünstigen, das sich an der Wirkung der Theosophie bemerken lässt. Jedes Eintreten eines neuen Impulses in das Geistesgeschehen bewirkt zunächst eine Verjüngung in dem Sinn, dass Entscheidungen und Klärungen, die innerhalb eines früheren Zustandes stattgefunden hatten, auf einmal wieder in Frage gestellt erscheinen. Wenn man mit Recht sagt, dass der Weg der Geschichte der der Spirale ist, insofern als ein erreichter höherer Zustand im Allgemeinen einem früheren mehr ähnele, als dem nächstvorhergehenden, so lässt sich diese Folge geradezu gemäß dem Schema von Haeckels biogenetischem Grundgesetz begreifen: die Ontogenie wiederholt die Phylogenie; es tritt zunächst eine Primitivierung ein. Der neue Impuls versetzt den psychischen Zusammenhang in Gärung, so dass Unterstes zu oberst kommt und umgekehrt; was einerseits weiterbringt, entwickelt andererseits zeitweilig um Jahrhunderte, ja um Jahrtausende zurück. (Analoges haben alle heute Lebenden am Kriegszustand erfahren, welcher die Kämpfer einerseits hoch über sich hinaushebt, andererseits zu Tieren zurückbildet.) So hat der theosophische Impuls die, welche er traf, in vielen Hinsichten primitiv gemacht. Bei den Führern äußert sich dies darin, dass diese in bemerkenswerter Weise den frühesten Führern aus mythischen Zeiten gleichen. Gleich diesen sind sie im äußersten Maße vielseitig, schweifen sie aus in Synthesen gewagtester Art, verquicken sie Dichtung, Religion, Politik und Philosophie, scheiden sie schlecht zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit; und in beiden Fällen hat dies den gleichen Sinn: von den wenigen Führern wird dermaßen viel verlangt, dass größere Kräfte von ihnen ausgehen, als ihnen ursprünglich innewohnen, und dass sie auch mehr geben, als sie letztlich verantworten können; sie müssten Übermenschen sein, wenn sie sich dessen enthielten. So wird jeder derartige Führer malgré lui unter anderem zum Mystagogen, Demagogen und im Grenzfall zum Charlatan. — Wenn nun die Primitivierung im Fall der wenigen Führer unter anderem Steigerung bedeutet, so äußert sie sich bei den Geführten fast rein negativ. Kaum fällt für die Masse die Disziplin exakten Forschenmüssens fort, oder der innere Halt einer grenzenschaffenden Tradition, so schweift sie aus in völlig hemmungsloser Leichtgläubigkeit; kaum werden gewisse Schleier ihr gelüftet, so wird sie neugierig im allerunsaubersten Sinn. Ihre niedersten Instinkte erscheinen aufgewühlt, eine Lehre, welche Selbstlosigkeit als einzig zweckmäßig erweist, wird Vorwand und Deckmantel schrankenloser Selbstsucht. Es ist kaum übertrieben, zu behaupten, dass die Masse der Theosophiegläubigen auf einer menschlich tieferen Stufe steht, als die Masse der Kirchengläubigen, der Ungläubigen und der wissenschaftlichen Agnostiker, besonders letzterer, da deren Wissensverzicht nicht wenig moralische Kraft verlangt. — Aber dieses Urteil sagt doch nichts aus gegen die Theosophie an sich; die Verjüngung, welche diese hervorruft, bedeutet ein eminent Gutes. Sobald jene als Urzustand, ja als Urchaos richtig erkannt ist, kann das Interesse für sie keinem dauernd schaden. Auf diese Erkenntnis vor allem kommt es an: denn sie ist die Trägerin des Impulses zur Differentiation, zu der inneren Klärung, dank der aus dem Chaos ein neuer, schönerer Kosmos werden kann. Sehen wir zu, wie dieser Prozess zu beschleunigen sei.