Schule des Rades
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst
Sterndeutung
Freiheit des Willens
Es ist ein Vorurteil ohne realen Hintergrund, dass die moderne Naturlehre ein geschlossenes und vollständiges Weltbild verträte: geschlossen ist es nur, insofern es ausschließt, und vollständig nur innerhalb enggesteckter Grenzen. Alle Systeme, zu denen exakte Forschung geführt hat und die der wissenschaftlichen Kritik standhalten, kranken am gemeinsamen Gebrechen, dass sie von der Welt gar wenig übriglassen. Die Welt des Physikers ist geschlossen genug, aber nur Massen und Bewegungen finden Raum in ihr, und es gibt anderes mehr in der Natur; das energetische Weltbild erweist sich nur so lange als vollständig, als von dem Vielen, was als Energie nicht zu begreifen ist, abgesehen wird. Heute ist ein System, das die Gesamtheit einschließen soll und von einem einzigen, alles bedingenden Prinzipe ausgeht, in der Sphäre der Phänomene nicht mehr aufzustellen: je weiter die Forschung vordringt, je eindringlicher sie den Tatbestand analysiert, desto uneinheitlicher erscheint das Universum, desto fragwürdiger sein realer Zusammenhang.
Desto unbefriedigender natürlich unser Weltbild. Die kritische Philosophie hat gut lehren, dass die Frage der Einheit sich allein vom Standpunkte des Denkens aus stellt, und dass unser Begriffsvermögen nur einem geringen Ausschnitt der Wirklichkeit angemessen ist: der naive, ursprüngliche Mensch, der im Grunde auch im abstraktesten Gelehrten lebt, weiß mit einer ihm fremden Welt nichts anzufangen. Er findet sich nicht zurecht in einer Wirklichkeit, in der seine Gesetze nicht die obersten sind, die seinem Verständnis nicht entgegenkommt, deren Sinn nicht im Menschen liegt. Mit aller Zähigkeit eines tiefbegründeten Instinkts wehrt er sich gegen sie, sucht er sie zu zwingen, zu überlisten: die Welt muss, sie stelle sich wie sie wolle, ein lückenlos verknüpfter Konnex, muss vom Menschen aus begreifbar sein. In früheren Zeiten hatten es die Forscher nicht schwer, ihr Selbstgefühl gegen noch so unmenschliche Tatsachen zu behaupten: die christliche Heilsordnung verlieh allem Mechanismus Sinn, und die Wirklichkeit dieser Heilsordnung unterlag keinem Zweifel. Heute ist der Glaube an das Dogma erschüttert, wir wissen von den Ursprüngen zu viel. Und da das, was nicht Dogma ist, was nicht jenseits jeder möglichen Kritik als seiend vorausgesetzt wird, keinen Halt gewähren kann, so hat die Religion ihre Wundermacht verloren, der Wissenschaft die Waage zu halten. Auch jene Weltsynthesen abstrakter Art, die alles in sich begreifen und einstmals den Geist befriedigen konnten, vermögen dies heute nicht mehr: sie sind durch Kritik zersetzt, ihre Fundamente sind untergraben, sie sind hintergrundslos geworden. Wir sind ohne erlösende Religion, ohne beruhigende Metaphysik; wir fühlen uns heimatlos im unendlichen Weltraum, von allen Sternen enttäuscht. Was bleibt da den gequälten Geistern übrig, die, zur Selbstbescheidung zu schwach, in einer entmenschten Natur nicht zu leben vermögen? Nur eines: an solche Verknüpfungen zu glauben, die zwar nicht in der Sphäre des reinen Glaubens gelegen sind, da ihre vorausgesetzte Wirklichkeit in der Naturordnung zutage treten soll, die aber doch weder unzweideutig nachzuweisen, noch auch zu widerlegen sind, weil man sie aus den Phänomenen unmittelbar nicht ableiten kann: an Zusammenhänge mystischer Art. Es ist folgerichtig und leicht zu verstehen, dass gerade heute, auf einem Höhepunkte wissenschaftlicher Erkenntnis, jene längst totgeglaubten Disziplinen wieder erwachen, welche der keimende Forschergeist erdichtet hat: Sterndeutung, Magie und Geisterkunde; nicht minder folgerichtig, dass wir als deren eifrigsten Adepten den Männern exakter Wissenschaft begegnen, berühmten Physikern, Ärzten, Philosophen: denn diese werden von der Unmenschlichkeit der Natur am nächsten und schmerzlichsten berührt.
Nein, der Geist ist zum Dienen nicht berufen, zum Herrschen ist er geboren. Wo er dient, da tut er’s aus Politik: nur der ist Meister seines Stoffs, der dessen Gesetze kennt. Der Geist will genau so lange die objektive Wahrheit, als diese seine Macht beweist. Sobald es sich herausstellt, dass die Natur ihm nicht gehorcht, seine Normen nicht anerkennt, erwacht der Tyrann, wirft die Verfassung um, schlägt die Welt in die Bande der Phantasie. Den ersten Menschen war die Natur von vornherein unbegreiflich, daher setzten sie von vornherein eine menschengemäßere an ihre Stelle. Unsere Erkenntnismacht versagt erst in den Tiefen der Welt, erst dort sind wir gezwungen zu phantasieren, die Zusammenhänge zu schaffen, die der Geist verlangt. Und dieser Zwang wirkt als Befreiung, als Erlösung; die dienstbare Erkenntnis ist dem Geist ein Greuel. Jeder, auch der bescheidenste Forscher, der als Knecht harter Tatsachen seine Tage verbringt, lebt im Grunde nur von der Sehnsucht, eines Tages zaubern zu können. Diese Hoffnung ist es, die ihn aufrecht erhält. Der Zauberer ist ja Herr der Natur, er formt sie nach seinem Belieben; der Zauberer kann sich nicht irren, da sein Wille erst Wahrheit schafft; sein Geist erst ist Geist im vollen Sinn des Worts, da er ungebunden ist. Forschen wir dem nach, was unsere Seele heimlich liebt: die Welt der Feen und Kobolde ist ihr vertrauter als das kopernikanische Weltsystem. Jede Zauberwelt ist uns verständlicher als die objektive Natur, da sie Geist von unserem Geiste ist.
Das wundersamste Weltsystem, das Einbildungskraft jemals ersann, ist das der Astrologie; es ist das einheitlichste, geschlossenste und vollständigste, das sich denken lässt. Natur und Geisteswelt, Zufall und Notwendigkeit, Willkür und Schicksal begreift es organisch ein, und alles kosmische Geschehen besitzt tiefen menschlichen Sinn. Dem Sterndeuter ist das Weltall ein Uhrwerk, in dem jedes Einzelne auf das Ganze zurückweist und das Ganze sich in jedem Einzelnen bedeutend widerspiegelt. Die Kreise der Sterne zeichnen sich in den keimenden Seelen ab; was auf Erden wird und werden soll, steht droben am Himmel zu lesen. Die Gestirne in ihren Stellungen und Wanderungen sind die Projektion des Lebens in dem Raum, sie sind das Zifferblatt der Weltuhr. Sichtbares und Unsichtbares, Lebendiges und Lebloses, Kosmisches und Menschliches hängen dergestalt notwendig zusammen, der Sinn des Ganzen aber liegt im Menschen.
Die Astrologie lässt die Freiheit des Willens bestehen. Die Konstellation, die bei der Geburt die Form der Seele bestimmte und deren Progression das Schicksal bezeichnet, ist nur der sichtbare Ausdruck jener letzten unwandelbaren Züge, die den Grundriss des Charakters bilden und jenseits jedes freien Entschlusses beharren. Die Zukunft, die in den Sternen vorgezeichnet ist, blickt — weniger deutlich zwar — auch aus den Augen hervor, der Zwang der Sterne ist mit dem des Blutes eines Sinns. Fern davon, eine willkürliche Beeinflussung des Menschen durch fremde Gewalten zu behaupten, statuiert die Astrologie vielmehr einen lückenlos verknüpften, allseitig gespannten, intimen und notwendigen Zusammenhang aller kosmischer Elemente, ein bis ins Letzte zusammenhängendes Werden. Das Schwungrad dieses Werdens ist der gestirnte Himmel, ein winziges Rädchen im Werk jedes Einzelnen Freiheit. Unter der Voraussetzung, dass die Sterne Bedeutung besitzen, ist der Weltprozess kein blindes Treiben, sondern ein geregelter Ablauf, kein sinnloses Geschehnis, sondern ein sinnvolles Geschick. In einer solchen Welt findet der Geist sich mühelos zurecht: denn allüberall trifft er sich selber wieder. Alles hängt zusammen, hat Sinn, einen menschlich einleuchtenden Sinn. Das Ganze ist so kunstvoll angeordnet, dass keiner es ganz zu übersehen vermag, und seine Möglichkeiten sind so reich, so schillernd-vieldeutig, dass das Prinzip in keinem noch so bedenklichen Einzelfall als versagend betrachtet werden muss. Kein Wunder daher, dass die astrologische Welt allen denen, die zu ihr hinneigten, fester begründet erschienen ist, als nur irgendeinem Forscher seine Theorie: sie entspricht den Grunderfordernissen des Geistes, den zwingendsten Bedürfnissen des Gemüts. Was verschlägt es, dass die Elemente dieser Weltanschauung — die spezifischen Bedeutungen der Sterne und ihrer Kombinationen — unsinnig an und für sich und willkürlich bestimmt erscheinen? Willkürlich sind vom rein menschlichen Standpunkte erst recht die Produkte der Natur. Wie diese sehr wohl anders sein könnten, aber doch erfahrungsmäßig bestimmte immer gleiche Eigenschaften aufweisen, genau so sind die spezifischen Bedeutungen der Sterne in ihrem Dasein allerdings nicht weiter zu erklären, dafür aber durch vieltausendjährige Forschung als zutreffend dargetan. Seit chaldäischer Urzeit hat die Wissenschaft nicht aufgehört, ihre Voraussetzungen an der Wirklichkeit zu prüfen; soviel Induktion beweisen kann, müsste sie hier bewiesen haben. Der Sterndeuter, gestützt auf die älteste Weisheit des Menschengeschlechts, setzt die Tugenden der Sterne ebenso selbstverständlich voraus, wie die Gestirne selbst.
Die astrologische Weltanschauung ist an Schönheit nie überboten worden. Sie ist zugleich die hochmütigste, die je der Geist erschuf: die Bahnen ewiger Sonnen als Kurven flüchtigen Glückes, der gestirnte Himmel als Wahrzeichen persönlich-menschlichen Schicksals — stolzer als mit diesem Glauben hat Prometheus sich nie zu sich selbst bekannt, trotziger nie der Natur die Stirn geboten. Die Natur aber hat sich dem Geist gebeugt, der sie so herrlich zu vergewaltigen wusste: was droben am Himmel zu lesen stand, ist auf Erden meistens geschehen.
Die Sterndeutung hat sich Jahrtausende entlang als Erkenntnisquelle bewährt. Dies ist Tatsache, kann nicht bestritten werden. Und doch: wer die Ursache hierzu in den Sternen suchte, der mühte sich fruchtlos ab: die Elemente der Astrologie sind ohne denkbaren Bezug auf die Erfahrungswelt; im Rahmen der Naturordnung ist für sie kein Raum. Die Wahrheit der Astrologie ist wohl anderen Ursprungs: sie wurzelt nicht in der Natur, sie entspringt aus der menschlichen Seele. Sie ist echtes Geisteswerk. Sie ist aber deshalb nicht weniger wahr. Aus der Einbildungskraft geht der Keim jeder Wahrheit hervor, die Welt ist zuerst vom Geist erschaffen worden. Ursprünglich ist die Wirklichkeit uns fremd, wir sehen, verstehen sie nicht; wir sehen nur, was wir erdichten. Wir bilden uns ein in eine unmenschliche Welt, erfassen von ihr nur das, was sich unseren Begriffen einbildet, unsere Welt ist ein Kind unserer Phantasie. So berühren den Sterndeuter nur solche Tatsachen, welche die Wahrhaftigkeit seiner Kunst bestätigen müssen; so muss er überall die Beziehungen wieder entdecken, die denen seines Glaubens entsprechen. Es ist nicht möglich, ein Weltbild zu widerlegen, sofern es subjektiver Wirklichkeit entspricht: das Subjekt belichtet das Objekt; worauf kein Licht fällt, das bleibt unsichtbar. So haben viele Welten einander abgelöst, sie alle wirklich zu ihrer Zeit, sie alle in Dunkel aufgelöst, sobald die magische Lampe der Phantasie neue Wünsche und Erwartungen einstellte … In unserer Epoche mag die menschliche Welt in den Grundzügen mit der unmenschlichen Naturordnung übereinstimmen. Unsere Welt ist unsterblich geworden. Aber die Natur ist auf Kosten des Geists erstarkt, sie droht den Geist zu ersticken. Unsere Einbildungskraft ist erlahmt, unser Mut ist geschwächt, wir wagen, wir können nichts mehr. Aus Schöpfern sind wir zu Betrachtern geworden, aus Eroberern zu Unterhändlern. Immer weiter entfernen wir uns vom Typus des ersten Menschen, der zugleich der größte war: vom Halbgott Prometheus.