Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Zeitliche, zeitlose, ewige Geister

Kurzatmigkeit des Ruhms

Unter zeitlichen Geistern verstehe ich solche, die in ihrem Zeitalter, wie man sie auch betrachte, restlos aufgehen. Unter zeitlosen solche, die zu und von keiner Zeit als erschöpft gelten dürfen.

Kaum einer Schriftsteller-Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts ist bei Lebzeiten mehr Verehrung gezollt worden, als George Sand. Heute liest sie kaum jemand mehr. Aber doch beginnt man heute endlich einzusehen, dass die spätere Literatur ihr Unendliches verdankt. Die großen Russen wie die großen Skandinaven wären ohne sie schwer denkbar. Einst gefeiert, bald vergessen, oder doch nur in dem schemenhaften Sinne fortlebend, wie es die Ahnen tun, deren Namen der späte Enkel in verständnisloser Ehrfurcht von dem Grabstein abliest, deren wahres Sein nur noch dem Historiker in seltenen Fällen aufgeht: dies war das Schicksal nur zu vieler. Wieland, sogar Herder, um die Größten und Bekanntesten zu nennen, ist es also ergangen, sie sind in ihrer Wirkung verglüht. Von Modernen, freilich auf niedrigerem Niveau, wird es wahrscheinlich Bourget ähnlich ergehen. Man wird ihn vergessen, vielleicht verachten, nachdem man ihn eine Weile überschwänglich hoch geschätzt, und spät erst ermessen, wieviel Dank der psychologische Roman ihm schuldet. Heute werden diesen zeitlich Großen nicht viele gerecht. Man konstatiert die Kurzatmigkeit ihres Ruhms, die Vergänglichkeit ihres Lebenswerts. Man folgert daraus ein Missverständnis oder einen Urteilsfehler ihrer Zeitgenossen. Originale, die nur Wenigen etwas zu sagen haben, gelten in jeder Hinsicht für größer als die Sterne vergangener Zeitenhimmel, als die Abgötter verblichener Geschlechter. Man will nur das Zeitlose gelten lassen. Ist dieser Standpunkt berechtigt?

Ich will den größten Zeitlichen, von dem wir wissen, ins Auge fassen: Voltaire. Wie? Voltaire kein zeitloser Geist? Sein absoluter Wert, wie wir ihn heute beurteilen, steht jedenfalls in keinem Verhältnis zu der Wirkung, die er auf sein Jahrhundert ausübte. Wer ihn nach dem wertet, was er für uns bedeutet, wird ihm in keiner Hinsicht gerecht; nur aus seiner Zeit heraus ist er zu verstehen; insofern war er ein ausgesprochen zeitlicher Geist. Voltaires ganz einzige Größe bestand darin, dass er alle die Schlüsse zog, deren Voraussetzungen seine Epoche enthielt, und dass er sie so zog, wie diese Epoche sie aufzunehmen und zu verarbeiten fähig war. Nie hat er über die Möglichkeiten seiner Zeit hinaus geblickt, nie, Zwischenglieder überspringend, Einsichten ausgesprochen, die erst nach dem Hinwelken einer Generation verstanden werden konnten. Gewiss ist Voltaire, wie jeder große Geist, seiner Zeit vorangeeilt, nur ließ er sie dabei nicht im Stich; sie vermochte dem Führer zu folgen. Deshalb vergötterte sie ihn. Was er sagte, nahm sie auf, spann sie weiter; jede seiner Anregungen wirkte fruchtbar, nichts ging verloren. Eben deshalb aber konnte die Nachwelt nie mehr die richtige Stellung zu ihm einnehmen. Sie verstand nur noch Teile seines schillernden Wesens, den Witz, die Sprache, die Klarheit seiner Intelligenz, nie mehr den ganzen Menschen. Was er wesentlich gewesen, schien längst verarbeitet; kein Rest blieb nach. Geister von so unmittelbarer, aufs Nächste gerichteter Wirkung werden bald zu Elementen der Nachwelt; und an Elemente erinnert man sich nicht.

Auch Fichte, der Turnvater Jahn der Philosophie, und Herder, der chaotische Geistestitan, waren im Wesentlichen zeitliche Geister. Was Herder anregte, ist zum größten Teil schon in Erfüllung gegangen; er war nicht von denen, die allen Zeitaltern ein verführerisches Rätsel, ein produktives Staunen bleiben. Aber war er darum geringer als etwa Lichtenberg, der heute noch Anregung auf Anregung ausstrahlt? Gewiss nicht; er war ein Geist anderer Art.

Ich denke, wir nähern uns einem richtigeren Verständnis des Verhältnisses von zeitlichen und zeitlosen Geistern, als es im allgemeinen Bewusstsein lebt. Wenn uns die Legion Voltairescher Schriften heute nicht mehr dasselbe bedeutet wie dem 18. Jahrhundert, so beweist dies nichts gegen deren Verfasser. Wir sind im Unrecht, wenn wir George Sand niedriger einschätzen als so manchen engeren, aber originelleren Geist, nur weil sie uns heute nicht mehr viel zu sagen hat: George Sand war in den meisten Hinsichten sicher größer, als ihre noch heute lebendigen Zeitgenossen. Man kann beim Vergleichen, beim Abmessen der Begabungen aneinander nicht vorsichtig genug sein; zumal wo es sich um Unterschiede der Art handelt, ist ein quantitativer Vergleich nicht möglich. Die Zeitlichen sind mit ihrer Epoche kommensurabel, die Zeitlosen nicht. Die Inkommensurabilität ist an sich noch kein Vorzug, so wenig wie die augenblickliche, gleichsam unvermeidliche Popularität. Voltaire ging auf in seiner Zeit, Diderot nicht. War dieser darum größer? Ich wüßte es nicht zu sagen. Er war ein Geist anderer Art. Von allen Großen des 18. Jahrhunderts erscheint Rousseau als der Unsterblichste insofern, als er von allen im Lebendigsten fortwirkt. Möglicherweise steht seine größte Bedeutsamkeit noch aus. Aber war er darum mehr als die andern? — Seine Anlage war einfach einer länger andauernden oder häufiger wiederkehrenden Konjunktur gemäß. Es besteht kein Zweifel darüber, dass die meisten seiner Erkenntnisse falsch waren. Er war wesentlich das, was die Franzosen einen esprit faux heißen. — Andere wieder verdanken ihre zeitlos durchschlagende Wirkung geradezu ihrer ausdrucksvollen Armut. So unter Malern Manet, unter Dichtern Mallarme und unter Denkern Nietzsche. Deren Gaben waren übersichtlicher als diejenigen reicher besaiteter Naturen, unter anderen ihnen selbst. Sie ließen sich leichter fassen, leichter bestimmen. Aber ist es gerecht, ist es auch nur richtig, einen kleinen Geist einem größeren deshalb überzuordnen, weil er im Einzelnen Besseres geleistet hat? In letzterer Hinsicht gewiss. Aber da das Urteil über Groß und Klein tatsächlich nicht nach dem Maßstabe der Leistung allein gefällt wird, so täte man gut, diese anderen Erwägungen im Endurteil nicht unberücksichtigt zu lassen.

Es gibt kaum ein Gebiet, auf dem eindeutige Ergebnisse schwerer zu erzielen wären, als auf dem der kritischen Geistesgeschichte. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Beurteilung der Männer, die sich in keine der bisher angewandten Kategorien einreihen lassen, der ganz großen, der wahrhaft ewigen Geister: Shakespeare, Goethe, Kant. Über Kant hat Simmel treffend gesagt, er

gehöre zu den ganz großen Geistern, deren Bild sich mit den Wandlungen der Geschichte selbst wandelt, weil sie der Entwicklung dauernd eingefügt bleiben und darum, sozusagen, immer verschiedene Rollen spielen.

Die ganz Großen sind unfassbar. Über das, was Kant eigentlich gedacht hat, sind die Philosophen noch heute nicht einig; jeder legt ihn anders aus. Und ebenso wird Goethes Tiefstes der Menschheit ein ewiges Geheimnis bleiben, unergründlich wie die Natur. Wer war Goethe? Wir wissen es heute weniger denn je; bei fortschreitender Erkenntnis des Tatbestandes wird seine Persönlichkeit immer mythischer. Wie die Weltgeschichte nicht nur aus den Faktoren erwächst, die sich aus wirklichen Vorgängen unzweideutig nachweisen lassen, sondern auch aus unbestimmten Vorstellungen, die eine Zeit beherrschen, aus hingeworfenen Gedanken unmaßgeblicher Personen, aus rein theoretischen Urteilsfehlern und Irrtümern, aus unbegründeten Glaubenssätzen und Einbildungen: so ist die historische Persönlichkeit, wie sie der jeweiligen Generation erscheint, stets eine Synthese aus dem, was sie wirklich war, und aus dem, was andere über sie dachten. Im Lauf der Jahrhunderte wächst sie ins Ungeheure, oder wandelt sie sich so gründlich, dass die Realität immer mehr verblasst. Halbgötter und Sagenhelden, die übermenschlichen Symbole für verdichtete Wirklichkeit, bezeichnen doch nur das Extrem der Entwicklung, die jeder Geist durcheilt, der im Bewusstsein der Nachwelt überhaupt lebendig bleibt. Ob Siegfried oder Goethe, Shakespeare oder Wilhelm Tell: heute sind es mythische Gestalten. Die Entelechie der Natur hat nach ihrem Tode fortgewirkt. Aus ihnen sind Wesen geworden, in die ihre zeitliche Wirklichkeit nur noch als Teil eintritt. Wie oft hat der Anblick berühmter Männer enttäuscht! Der Ruhm tötet sein Objekt, um es dann erst wahrhaft zu beleben; er tut dem Lebendigen unrecht. Träte Christus plötzlich wieder unter uns, es würden wahrscheinlich die Meisten vom Christentum abfallen.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Zeitliche, zeitlose, ewige Geister
© 1998- Schule des Rades
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