Schule des Rades
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst
Entwicklungshemmungen · Ein Mahnwort an diese Zeit
Der freie Mensch
Mit der Urteilskraft der Kollektivität ist es nicht zum Besten bestellt. Die Menschen tun ja wohl schließlich das Richtige, aber sie verstehen es meistens falsch; und wo eine verfehlte Theorie nun ihrerseits schöpferisch ins Leben eingreift, da kann sie das Trefflichste verderben, die günstigsten Resultate zunichte machen. Wirklich ist bisher jeder, auch der beste Weg auf diese Weise verfahren worden; der Mensch scheint nicht eher ruhen zu können, als bis er aus seinem Glück ein Verhängnis geschmiedet hat. Da ist zum Beispiel der Nationalismus, die moderne Vergötterung des Volkstums. Dass die Welt die Schmach der Vaterlandslosigkeit, das Verderben des Blutchaos erkannte, dass es Ihr klar ward, dass Großes und Schönes nur aus gesunder Wurzel erwächst und nur auf gutem Boden gedeiht, das war im gegebenen Stadium ein Glück und eine Rettung. Denn die natürlichen Bedingungen zur Züchtung edler Rassen drohten verloren zu gehen, daher musste das Bewusstsein einsetzen. Aber war es notwendig, von der Erkenntnis der biologischen Notwendigkeit einheitlichen Blutes, des Segens kraftvoller Bodenständigkeit, zur kritiklosen Verherrlichung des jeweiligen Volkscharakters fortzuschreiten? War es ein glücklicher Einfall, sein Ideal just in die Eigenheiten seiner Nation, nicht in ihr tiefstes Wesen zu versetzen? Dem Deutschtümler ist der Deutsche, wie er geht und steht, ein Gott, der übrigen Menschheit himmelhoch überlegen, ehrwürdig in allem … Nun hat der Deutsche gewiss allerlei vor anderen Völkern voraus, aber in vielen Hinsichten steht er ebenso sicher unter ihnen, und wer den Deutschen als vollkommensten Vertreter des Europäertums hinstellt, der spricht etwas recht Fragwürdiges aus. Indessen, lassen wir es gut sein; nehmen wir an, der Deutsche sei wirklich alles das, was seine Verehrer ihm zumuten: wäre es selbst dann sehr tiefsinnig und fördersam, seinen empirischen Charakter zu vergöttern? Das Ewige, unbedingt Wertvolle am Menschen ist doch das in ihm, was über die Nation hinausgeht, was nach Abstreifung des zeitlich und örtlich Bedingten übrigbleibt.
Wäre Homer nichts als ein Grieche gewesen, wir verehrten in ihm nicht den größten Dichter aller Zeiten; sogar spezifisch nationale Erscheinungen, wie Gogol oder Fritz Reuter, interessieren uns nicht um der Lokalfarbe willen, sondern deshalb, weil hier das Besondere so wunderbar farbig ein Allgemeines zum Ausdruck bringt. Im gleichen Sinne müsste der Deutsche, falls er der Idealmensch ist, in allem Besonderen einen allgemeinen, das Besondere gleichsam aufzehrenden Sinn verkörpern, wie dies bei den Größten des Volkes, einem Goethe, einem Luther, einem Bismarck, lauter echt deutschen Gestalten, auch wirklich der Fall war. In Goethe zumal war alles Besondere durchgeistigt, das empirisch Zufällige zur notwendigen Form geworden, zum Ausdruck einer Idee. Die Deutschtümler meinen es sehr anders: ihnen ist es gerade um das Raumzeitliche, Besondere, Ausschließliche zu tun, ihnen ist die Erscheinung das Wesen, die Schranke der eigentliche Wert. Lässt sich ein unseligeres Missverständnis denken? In bester Absicht tun sie nichts Geringeres, als die Volksidee zu verraten. Das formende Prinzip wollen sie festigen und lähmen bloß seine Kraft. Unter Engländern, Europas eigenartigstem und selbstherrlichstem Menschenschlage, fällt es keinem ein, in dem Sinne insular
zu sein, wie man hierzulande deutschtümelt: ihnen ist ihr Britentum selbstverständlich, ein bewährter und festgegründeter Standpunkt, von dem aus sie kühn und sicher in die Ferne blicken; sie denken nicht daran, durch Rückwärtsschauen und Selbstbespiegelung Zeit und Kraft zu vergeuden, und überlassen die Anglomanie neidlos dem Kontinent. Denn der Nationalismus ist das genaue Gegenteil eines schöpferischen Volksbewusstseins, er ist ein statisches, ja ein regressives Prinzip; er predigt Selbstzufriedenheit, nicht Selbstgestaltung. Das Empirische als Ideal hat noch keinen auf Höhen geführt.
Und was der Nationalismus für die Nationen, das bedeutet der Individualismus für die Individuen. Auch dieser ist eine Reaktionserscheinung, eine Erscheinung, die ursprünglich gesund und segensreich war, nun aber zur Erstarrung und zum Tode führt. Der abstrakte, unpersönliche Charakter, welchen die Welt im Fortgang des 19. Jahrhunderts anzunehmen begann, die Begriffsromantik mit ihren leblosen Gebilden, zuletzt die unaufhaltsam um sich greifende egalitäre Weltanschauung hatten das Individuum aufgescheucht. Und es war gut so. Es war geboten, die Abstraktionen zu entthronen, die Herrschaft lebensfeindlicher Werte zu brechen, bei der Betrachtung und Beurteilung des Lebens endlich wieder vom Leben auszugehen, Und es gelang insofern, als der keimende Individualismus die Seele wirklich ein erstes Mal befreit hat; er entrang sie den Schemen der Schulpädagogie, den Formeln einer falschen Wissenschaft, den Fesseln der Philistermoral; er gab sie dem Leben zurück. Nun aber sperrte er sie bald in desto engere Schranken ein: bald wurde der Sinn der Persönlichkeit in den Eigenheiten der Person erblickt, das Wesen mit der Erscheinung verwechselt, das Unendliche ans Endliche verraten.
In diesem letzten Sinne herrscht der Individualismus heute und bedeutet eine Hemmung für den Fortschritt unserer Zeit, wie ich eine ernstere nicht zu nennen wüßte. Unsere Zeit stöhnt nach innerer Freiheit, die Sehnsucht nach der Seele ist unzweifelhaft echt. Aber ihr Streben dahin wird durch die Verwechselung des Geistes mit seinen Grenzen gelähmt und zunichte gemacht. Es glauben nur zu viele, sich geistig befreien heiße: sein Ich mit seinen Eigenheiten durchsetzen — deshalb führt das Streben nach Freiheit so häufig zu ihrem Gegensatz, zu Nihilismus und Anarchie; es wähnen begabte Männer, das Suchen der Seele sei Sache der empirischen Psychologie — deshalb verweilen sie bei Erscheinungen, die sie schleunigst überwinden sollten. Ja wir begegnen sogar der Theorie, es gäbe schlechterdings nichts Tieferes im Menschen, als seine handgreifliche Individualität. Hier hat Nietzsche auf verderbliche Weise Schule gemacht: er zerbrach die dürre Seele
der protestantischen Philisterphilosophie, er verhalf dem Leben zu seinem Recht. Nun aber verschlang das Natürliche bald das Geistige ganz; der ganze Mensch soll im Physiologischen aufgehen. — Hätten die tiefsten Geister der Menschheit, hätten Indiens Weise, Griechenlands Denker, Deutschlands Mystiker und Philosophen wirklich umsonst gelebt? Sollte die Lehre, dass der Mensch mehr sei und folglich auch mehr sein solle als seine begrenzte Person, ein Unsinn sein? Gelangt Europa dahin, dieses zu glauben, dann ist es aus mit seiner Kultur. Denn sobald der Mensch im Empirischen sein Tiefstes anerkennt, dann ist ihm die Möglichkeit zur Entwicklung genommen, dann muss er so bleiben wie er war; dann ist er Sklave seiner Grenzen, Knecht seiner Beschränkung, bei Lebzeiten vom Tode besiegt. — Die Theorie, die im empirischen Sosein des Menschen die letzte Instanz erblickt, ist aber nachweislich falsch. Gleichviel, wie es mit der Willensfreiheit beschaffen sein mag, gleichviel ob es überhaupt je gelingen wird, den Grund der Seele zu durchschauen: tatsächlich unterliegen die Grenzen des Menschen seiner freien Wahl. Das Goethesche Urwort
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen
ist wohl wahr bezüglich der Richtung, die jeder verkörpert, seines innersten Seins, nicht aber in bezug auf sein Sosein, die Grenzen der Individualität; über diese ist er Herr. Herr zwar nicht in dem Sinn, dass er sich Talente anerziehen könnte, die er nicht hat, sondern in dem tieferen, einzig entscheidenden, dass es von ihm abhängt, wie er sein Sosein auf seine Seele bezieht. Und es gibt keine andere Freiheit, als die des Verhaltens dem Unabänderlichen gegenüber.
Da das Leben eine Relation auf die Außenwelt bedeutet, ohne diese schlechterdings nicht zu denken ist, so gehören die äußeren Umstände, deren es bedarf, recht eigentlich zu seinem empirischen Begriff. Die Luft, die ich einatme, ist mir nicht weniger notwendig als das Organ, mit welchem ich dies tue, ich bin berechtigt, auch jene zu meinem Ich zu rechnen. Wirklich gibt es Menschen genug, deren Lebensgefühl an äußere Lebensverhältnisse gebunden ist, die ihr Gleichgewicht verlieren, sobald sich diese verschieben. Solche Menschen sind recht eigentlich mit ihrem Besitz identisch; dieser steht in nicht minder inniger Beziehung zu ihrem Sein, als ihr Leib. Aber solche Menschen sind gewiss nicht frei. Nun wird keiner leugnen, dass es möglich ist, sich über die äußeren Verhältnisse zu erheben, sein Ichgefühl von diesen loslösen; ja dass es möglich ist, noch den Körper mit seinen Gebrechen zur Außenwelt zu zählen. In der Tat wird unter einem freien Menschen seit dem Altertum der verstanden, der sich die Materie unterworfen hat und nur von seinem Geiste bedingt ist. Aber hat sich der, welcher den Körper überwunden und sein Ichbewusstsein auf die geistige Sphäre beschränkt hat, wirklich schon zur vollen Freiheit aufgerungen? Ich glaube nicht: denn auch in der geistigen Sphäre gibt es äußere Verhältnisse, welche, als wesentlich anerkannt, die Seele am Aufflug verhindern. Wer sich mit seinem Können, seinen Fähigkeiten und Talenten identisch fühlt, der beherrscht sie nicht, der ist ihnen in genau demselben Sinne untertan, wie der Sklave seinem Herrn und der Genussmensch seinem Leib; der ist Knecht seiner geistigen Individualität.
Und ein solcher ist nicht frei. Er kann nicht hinaus über das, was ihn vor anderen auszeichnet, er steht und fällt mit seiner Eigenart, und wer seine Grenzen verneint, der verneint zugleich sich selbst. So muss er das, was er nicht ist, ausschließen, um sich zu behaupten, und dieses andere ist doch da; er muss seine Grenzen als absolute Werte setzen, und diese Werte sind es nicht; sein Selbstgefühl ist an Erscheinungen gebunden, die vergehen oder übertroffen werden. So wehrt er sich zeitlebens gegen Übermächtiges, Unabweisbares, und wo er fortschreiten könnte, erstarrt er immer mehr. Große Talente verbringen ein halbes Leben damit, größere zu verleugnen, Gelehrte kämpfen hartnäckig für Gedanken, die widerlegt oder überflügelt sind, und lebendige Geister überleben sich in kürzester Frist. Erst der ist frei, der über seiner Begabung steht, der seinen geistigen Besitz nicht anders ansieht, als die Güter der Außenwelt. Denn der braucht nichts auszuschließen, um zu leben, nichts zu verleugnen, um sich zu behaupten; von Zufälligem, Problematischem hängt er nicht ab. Stolz und frei schaut er aus nach unverrückbaren Zielen, die fortschreitende Gegenwart ist ihm stetige Verjüngung, und die Flucht der Erscheinungen ficht ihn nicht an.
Der freie Mensch ist nicht Individualist, er hat das Individuum überstiegen. Beim Empirischen verweilt er nicht, es ist ihm kein Problem, es versteht sich für ihn von selbst. Und wie er jede Tatsache gelten lässt, überall das Wirkliche erfasst und zu beherrschen weiß, so rechnet er auch mit den Grenzen seiner Person. Aber sie sind ihm keine Werte, er nimmt sie gar nicht ernst, er blickt über sie hinaus. Sein Geist fühlt sich eins mit dem Geist des Weltprozesses, der rastlos Individuen und Epochen durchfliegt, und durch alles Sterben hindurch bleibt er lebendig, immerdar ein quasi modo genitus. Er weiß nichts von Eitelkeit und kleinlicher Selbstsucht, über die Scheidung von Ich und nicht-Ich, von hier und dort, von heute und morgen ist er hinaus. Er kennt nur objektive Ziele, absolute Werte, die an Raum und Zeit nicht gebunden sind.
Und unsere lieben Zeitgenossen? Sie blicken nicht vorwärts, sondern zurück. Fortgerissen vom Zuge der Zeit klammern sie sich an das, was im Sterben begriffen ist, und erkennen die Zukunft erst, wenn sie bereits verging. Irregeworden an alten Idealen und unfähig neue zu schaffen, zu arm an Phantasie, um Richtungen von Grenzen zu unterscheiden, vernarren sie sich ins Empirische und erheben es zum Ideal. Das Zufällige, das Sterbliche, das Wertlose als Ideal … Über dem Meisten, was heute blüht, neigt sich schon das Totengeripp.