Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

I. Gesundheit

Einstellung und Haltung

Ziehen wir nunmehr aus unseren vielfältigen Betrachtungen über das Gesundheitsproblem die letzten Konsequenzen, die schon an deren Stelle für das persönliche Leben gezogen werden können. Max Schelers Bestimmung des Menschen als des weltoffenen Tiers gilt gerade auch in bezug auf seine Physis und auf seine Psyche, soweit diese erdbedingt ist (SM, VIII, IX).1 Nichts ist wichtiger, als sich zunächst hierüber klar zu werden, dass trotz des abgeschlossenen Charakters des Warmblüterkörpers die Dinge bei ihm doch nicht grundsätzlich anders liegen, als beim Seestern, woselbst das Weltmeer die Rolle der Lymphe und des Blutes spielt, und dass die Seele der Umwelt gegenüber ein völlig Offenes ist. Nur Verkrampfungen und künstliche Schranken, wie Komplexe und falsche Vorstellungen, können diese ursprüngliche und wesentliche Weltoffenheit verringern und beeinträchtigen. Daraus folgt aber, dass es einen grundsätzlichen Irrtum bedeutet, in der Gesundheit des Individuums ein Absolutum oder eine selbständige Einheit zu sehen. Gerade das Gesundheitsproblem kann nur von universalistischer Einstellung her verstanden und gelöst werden. Im ersten Kapitel der Meditationen habe ich geschildert, wie die Minerallageremanationen auf den Höhen der Anden das vorherbestehende Gleichgewicht des Organismus zersetzen und daraufhin ein Bild dessen zu geben versucht, wie die großen Änderungen der Faunen und Floren, über welche die Paläontologie berichtet, verlaufen sein mögen. Heute erleben wir ohne pathologische Begleiterscheinungen Analoges in Australien. Aus Europa eingeführte Kresse, Stachelbeeren und Heckenrosen wuchern dort dermaßen und auf so neue Weise, dass sie zu einer ähnlichen Landplage geworden sind, wie die Heuschrecken in Afrika; Gleiches gilt von Kaninchen und Katzen. Sicher empfänden die betreffenden Organismen bei genügender Bewusstseinshelle diese Änderung als Gesundheits- und Vitalitätssteigerung. Und doch hat sie nichts mit den fraglichen Subjekten zu tun; sie ist ganz und gar umweltbedingt. Ähnlich steht es mit Epidemien, ähnlich mit Heilquellen und klimatischen Stationen. Grundsätzlich darf man sagen, dass keinerlei Gesundheit unabhängig von dem, was außerhalb des Organismus in Raum und Zeit da ist und geschieht, bestimmt werden kann.

Doch eben darum stellt das Gesundheitsproblem den Angelpunkt des Problems des persönlichen Lebens dar. Der konkrete Mensch ist eine Beziehung, und von keinem ihrer Elemente kann bei seiner Bestimmung abgesehen werden. Das für den persönlichen Menschen letztlich Wesentliche ist das Selbst, als welches, von außen her beurteilt, vollkommen einsam ist. Dieses Selbst lebt aber andererseits in bezug auf alles Nicht-Selbst. Und von seiner Einstellung und Haltung diesem gegenüber hängt es ab, wie weit es sich in der Welt des Erscheinenden verwirklicht. Also sind Einstellung und Haltung für einen jeden und auf allen Gebieten das letztlich Lebenswichtige (SE, 399 ff.). Deren Richtigkeit oder Sinngemäßheit aber ist andererseits dem Grade des Verstehens proportional. Freilich gibt es solche Glücks- und Sonntagskinder, die schon von Mutter Natur richtig eingestellt wurden. Doch deren Wissen ist nicht übertragbar, ihr Beispiel bleibt unfruchtbar. Nur wer da zeigen kann, wie man es halten und machen soll, kann anderen helfen. Und nur wer da für sich bewusst weiß, worauf es ankommt, ist fortschrittsfähig über seinen gegebenen Zustand hinaus. Diese Einsichten implizieren nun aber die weitere, dass es letztlich doch nur auf den Einzelnen und Einzigen ankommt, und dass das Selbst auch auf dem an und für sich unpersönlichen Gebiete der Gesundheit als letzte Instanz entscheidet. Als persönlicher Ansatzpunkt der Beziehung, welche der konkrete Mensch ist, ist das Selbst, grundsätzlich gesprochen, ursprünglich schöpferisch. Dass es das ist, beweist die bloße Existenz der Medizin. Denn offenbar ist hier nicht die tatsächliche Wirkung von Chemikalien das Wesentliche: dieses liegt in dem, dass der Geist sie zu entdecken, zu schaffen und zu nutzen weiß. Nun ist es eine Frage der größeren oder geringeren vorhandenen geistigen Schöpferkraft, ob einer das passive Objekt von Umweltseinflüssen ist, ob er sich trotz diesen halten kann, dem Eigen-Gesetz seiner Persönlichkeit gemäß, oder vom Geist aus Krankheiten zu heilen vermag. Selbstverständlich ist solche Heilung vom Geist her möglich, denn Umstimmung des organischen Allgemeingleichgewichts erledigt die Krankheit, die einen anderen Gleichgewichtszustand befallen hat. Und ist einer, dank dem Vorhandensein von Liebe und Heiltrieb, fähig, diese Heilkraft zu exteriorisieren, dann ist der echte Wunderheiler da. Doch nicht auf die für immer seltenen Sonderfälle kommt es im Zusammenhang dieser Betrachtungen an; es ist sogar schädlich, zu viel bei ihnen zu verweilen, denn deren Gedenken lenkt die Aufmerksamkeit von dem ab, was jeder selber leisten könnte und sollte. Worauf es ankommt, ist die innere Haltung zu gewinnen, welche die wahre Stellung des Menschen im Kosmos wahrheitsgemäß spiegelt. Alles andere und Praktische findet oder ergibt sich dann von selbst.

1 Vgl. auch C. G. Jungs Vortrag auf der Weisheitstagung 1927 Mensch und Erde, betitelt Die erdbedingte Psyche (Der Leuchter 1927 o. c.).
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
I. Gesundheit
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