Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

II. Von den Untergründen des Lebenskampfes

Rechtes Denken

Die mechanistisch-materialistische Deutung des Lebens, welche im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts dem wissenschaftlichen Schrifttum seinen Stempel aufprägte, bedarf keiner Berücksichtigung, weil sie de facto nie in vitalem Verstande vorgeherrscht hat: es genossen damals nur mechanistisch denkende Gelehrte das größte Prestige und diesen wurde nachgeplappert. Im großen ganzen hat, wo Wesensfragen überhaupt ernst genommen wurden, das christlich-religiöse Weltbild bis in unsere Tage weitergeherrscht, nur in immer unsicherer Dar- und Schaustellung, das Wort unsicher sowohl moralisch als geistig verstanden. Das konnte nicht anders kommen, nachdem einmal der Verstand seine Maßstäbe darauf anwandte, was seinen Normen nicht unterliegt. Hierauf und nicht etwa auf Fortschritt auf dem Wege religiösen Realisierens beruht das seither stetig wachsende Interesse für indische Metaphysik: diese zieht nämlich, von dem christlichen ähnlichen und deshalb christlichem Unbewusstem akzeptablen Urwirklichkeitserlebnis her zwei Konsequenzen, welche das dogmatische Christentum nicht ziehen konnte, weil es der Intention seines Stifters allzu offenkundig widersprach, die aber der Geist objektiver Wissenschaftlichkeit fordert: erstens, dass es auf das Persönliche letztlich nicht ankomme, weil ein allgemeiner und in Form einer Objektivation vorstellbarer Plan der Welt in ihrem Sein und Werden zugrundeliege; und zweitens, dass alles relativ sei. Max Weber hatte nämlich für alle Zeiten recht, da er über die von niemandem bestrittene Objektivitäts- und Unpersönlichkeitsforderung für alle Wissenschaft hinaus deren Freiheit von Werturteilen postulierte. Keine Religion der Welt setzt nun so wenig absolute Werte wie die indische: gut und böse sind ihr Aspekte des gleichen, eines kann sich ins andere verwandeln, der Läuterungs- und Heilungsvorgang wird nicht unter dem Zeichen des Soll vorgestellt, sondern einfach in Form einer Kausalordnung, für die man optieren mag oder auch nicht. Doch wenn heutige Europäer und Amerikaner indische Religiosität bekennen, so tun sie es, noch einmal, in Wahrheit, weil sie in ihren Tiefen noch Christen sind. Die erste nachchristliche Lehre, welche als ein Neues und als solches aufrichtig Aufgenommenes gegenüber den christlichen Voraussetzungen gelten darf, war nicht schon die mechanische Weltdeutung des 19. Jahrhunderts es war diejenige Freuds. Diese leugnete nämlich nicht das Seelische, an dessen Existenz kein Mensch christlicher Erbmasse ernstlich zweifelt, jedoch sie führte es; dem Geist des naturwissenschaftlichen Zeitalters gemäß, mittels der Reduktionsformel nichts als auf Triebhaftes und damit Physiologisches zurück. Die fortschrittliche Tiefenpsychologie hat nun zwar Freuds handgreiflichste Irrtümer und Missverständnisse überwunden, aber sie ist doch bei einer monistischen Energetik (der Libido-Lehre) stehen geblieben, dank der eben das bis zu einem gewissen Grade wirklich erreicht wurde, was die mechanistische Periode nur scheinbar erreicht hatte: auch das psychische und geistige Geschehen auf Erdhaftes zurückzuführen. Insofern gehört sogar C. G. Jung analytische Psychologie mit zur révolte des forces telluriques (RM, I). Die intentionale Identität ihrer Doktrin mit der altindischen oder altchinesischen, wie diese vielfach nachzuweisen versucht wird, beruht auf einem Missverständnis, welches auf Grund des perspektivischen Zusammenhanges aller Sinne sowie der Möglichkeit, jeden besonderen Sinn mit entsprechenden in anderen Sphären belegenen Sinnen in funktionellen Zusammenhang zu bringen (SE, I, 1), naheliegt; es wird in Europa tellurisch gedeutet, was im Osten pneumatisch oder spirituell gemeint war. Der lebenswichtigste Fehler hierbei liegt nun nicht darin, dass Irdisches und Geistiges in Zusammenhang, und nicht einmal darin, dass sie auf einen Generalnenner gebracht werden: er liegt in der Leugnung der unbezweifelbaren Vielfalt des Menschenwesens.

Von dieser Vielfalt gab schon unser erstes Kapitel einen soweit genauen allgemeinen Umriss, als dies zum ersten Inne-werden der wahren eigenen Natur und des wahren eigenen Wesens unerlässlich ist. Jetzt liegt uns ob, die gleiche Grunderkenntnis in bezug auf die Bereiche der Seele fruchtbar zu machen, welche die christliche Weltanschauung in die Unterwelt verdrängt, der Begründer der Psychoanalyse durch falsche Deutung an die Oberfläche gezerrt und die moderne Tiefenpsychologie wie die altindische Lehre — hier treffen beide wirklich zusammen — ihrer persönlichen Bedeutung entkleidet hat, indem sie bei der Vielfalt möglicher Lebenszentren innerhalb der Seele und der Wandelbarkeit und Ambivalenz aller psychischen Gestaltung stehen blieb. Denn was sich so unbegrenzt verändern und so Entgegengesetztes bedeuten kann, entspricht ganz offenbar nicht dem, was jeder geistbewusste Mensch als sein persönliches Subjekt erlebt. Verzichten wir darum auf jeden Vereinheitlichungs- und Reduktionsversuch, lassen wir insonderheit Körperliches und Seelisches so vorbehaltslos als Sonderlichkeiten gelten, wie das naive Bewusstsein sie erlebt. Da wird uns denn offenbar, dass es zwar keinerlei Leib-Seele-Einheit gibt, dass aber der psychische Organismus wohl ähnlich zusammengesetzt und artikuliert ist, wie der physische. Auch hier gibt es eine Ober-, Mittel- und Unterwelt, deren Bereiche nicht auswechselbar sind; auch hier stellen die verschiedenen Systeme — ich brauche das Wort im Sinn des Zirkulatorischen, Nervösen, Vegetativen usw. innerhalb des Körpers — in hohem Grade selbständige Behörden dar. Und auch hier ist das Niedere für das Leben des Höheren unentbehrlich.

Buddhas ungeheure und von keinem anderen je erreichte zeitlose Wirkung beruht zu einem großen Teil darauf, dass er als einziger bisher ein Weiterkommen auf dem Pfad, der zur Erleuchtung führt, mit Fortschritt in klarem und vorurteilsfreiem Bewusstwerden dessen, was im Menschen wirklich vorgeht, in notwendigen Zusammenhang brachte. Im Gegensatz zu allen anderen Heilanden lehrte er nicht imaginiertes Höheres vorzustellen, bis dass es wirklich würde, wodurch der Autosuggestion grundnützlich Tür und Tor geöffnet wird und bleibt — er lehrte den Mut: zur Anerkennung der Wirklichkeit, so wie diese ist. Zu diesem Ende gebot er insonderheit zunächst das mit letzter Deutlichkeit vorgestellte Häßliche und Scheußliche an den körperlichen Vorgängen zu meditieren, von der Defäkation bis zur Verwesung nach dem Tode. Und dieses wiederum nicht zwecks Irrealisierung des Körperlichen, wie dies die christliche Askese betreibt, sondern umgekehrt, zwecks Realisierung des Widerwärtigen als eines dem Menschen unabtrennbar Zugehörigen. Das Ergebnis war bei denen, in welchen der tiefere Sinn von Buddhas Lehre fruchtbar werden konnte, ein beispielloser Einklang des ganzen Menschenwesens, dessen fortschreitende Läuterung und Enthaftung nicht in einer Verleugnung des Erdhaften bestand, sondern in dessen Transfigurierung im Diesseits. Während also der brahmanische Inder in bezug auf seine Gegebenheit meditierte neti neti, das bin ich nicht, oder in bezug auf alles nur mögliche tat twam asi, das bist du, in welchen beiden Fällen das Bewusstsein der eigenen Person verdrängt oder abgetötet wurde, lernte der echte Buddhist sich zunächst vollständig mit allem, was er erfahrungsgemäß ist, persönlich zu identifizieren. Daraus ergab sich alsdann, auf Grund der Einsicht in die Nicht-Substanzhaftigkeit des Ich, als welches ein bloßer Vorgang, ein Essen und Gegessen-Werden sei,1 die höhere Bewusstheit, welche das Leiden aufhebt. Buddhas Grundeinstellung ist nun tatsächlich das angemessene Vorbild für jedermann, welcher sich selbst ganz so realisieren will, wie er tatsächlich ist. Denn nicht auf die immerdar Horizont-bedingten Theorien kommt es hieran, sondern die lebendige Einstellung gegenüber der Erfahrung.

Von dieser her nun ergibt sich für das aufgehellte Bewusstsein das Folgende: Auch der seelische, genau wie der körperliche Organismus hat seine Unterwelt. Auch die seelisch-unterweltlichen Prozesse sind im großen ganzen häßlich und widerlich. Aber auch sie sind nicht allein unabtrennbar, unüberwindlich und zu Schönerem unverwandelbar dem Organismus zugehörig: auch hier tragen und bestreiten und verkörpern sie das spezifisch irdische Leben. Hier bietet die Spannung zwischen Sexus und Eros das Urphänomen: ewig widerstreitet es Geist und Seele, des letzteren Sublimität mit des ersteren Obszönität zusammenzuschauen. Ewig erneut versuchen sie, sei es den Sexus zu idealisieren, sei es den Eros von diesem loszulösen. Aber der Mensch ist nun einmal so, wie er ist. Und stellt er sich so vor, wie er nicht ist, so macht ihn diese Lüge nur noch häßlicher. Verdrängte Sexualität vergiftet den ganzen Organismus, verherrlichte schwächt der Seele Eigenleben. Verdrängtes Seelentum verwandelt Götter in Teufel, verherrlichte Körperlichkeit entmenscht. Zu einem schönen Tier kann sich der Mensch nicht mehr zurückverwandeln; er kann nur zum von ihm selber pervertierten Haustier werden, zum Schweine oder zum Hund, oder aber aus der ihm vorgezeichneten Entwicklungsbahn ganz ausbrechen, dem Insekte zu. Da kommt offenbar nur die eine positive Lösung in Frage, durch rechtes Denken und rechtes Sich-Versenken, so wie der Buddha diese Begriffe verstand, im Verein mit der Generosität gegen sich selbst, welche ein Band der Sympathie schafft zwischen dem Ich und allem ihm zugehörigen Nicht-Ich, den Einklang des ganzen Menschenwesens herzustellen, welchen die Natur nur als möglich vorgebildet hat. Dies nun aber kann ausschließlich aus dem Geist vollkommener Wahrhaftigkeit heraus gelingen, welcher den Anblick aller Wirklichkeit aushält, welcher alle anerkennt, so wie sie ist, und aus vollkommenen Verstehen heraus dann erst, durch geistige Schöpferkraft, seinen intim-persönlichen Idealen Gemäßeres, als er vorfand, zu bilden unternimmt.

1 Gerade an dieser Stelle möchte ich mit höchstem Nachdruck darauf aufmerksam machen, dass der einzige bekannte spätere Geist, in welchem sich die ursprüngliche Einstellung Buddhas ganz echt neuverkörpert hat, der kürzlich verstorbene Deutsche Paul Dahlke ist. Ihn und nicht einen Oldenberg oder Rhys Davids studiere man, wenn man die Einzigartigkeit von Buddhas Lehre wirklich fassen will. Dahlke war wirklich Buddhist; und er wirkte als solcher desto echter, als er persönlich kein Metaphysiker, kein religiös tiefer Geist und schon gar kein Erleuchteter war. Andererseits hatte die wahrhaftige Realisierung seiner Natur nach Buddhas Vorbild aus ihm einen großen Heiler gemacht: der Einklang von Geist, Seele und Körper in ihm war so vollkommen geworden, dass er seine Heilkraft als Homöopath auf eine oft unheimlich wirkende Weise exteriorisieren konnte. An Dahlkes Wiederverkörperung der Buddha-Einstellung leuchtet im übrigen am deutlichsten ein, wie gänzlich unmetaphysisch, ja anti-indisch Gautama war. Eine Aufzählung seiner Hauptwerke bringt eine spätere Anmerkung. — Das Unterschiedliche und Sonderliche Buddhas in der Heilsauffassung im Rahmen der indischen Religiosität bestimmt am besten Heinrich Zimmers Studie Buddha in dessen Buch Indische Sphären (München 1935, R. Oldenbourg Verlag).
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
II. Von den Untergründen des Lebenskampfes
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