Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

Einführung

Schicksalsfrage

Die Schicksalsfrage für das Menschengeschlecht an diesem kritischen Punkte seiner Entwicklung ist, ob es gelingt, die so ungeheuer erweiterte Welt möglicher Machtwirkung auf das Innerliche zurückzubeziehen, und umgekehrt vertieftes Geist- und Seelentum dem Äußerlichen einzubilden. Dieser Frage gegenüber sind alle anderen beinahe irrelevant. Daher der Titel vorliegenden Buchs. Daher alle seine besonderen Kapitel sowie alle Ansatzpunkte seiner Fragestellungen. In der Vorrede zu Menschen als Sinnbilder schrieb ich 1925:

Wenn ich in einem Satz zusammenfassen soll, worin meine Lehre sich meiner Ansicht nach von der anderer moderner Philosophen unterscheidet, so muss dieser lauten: sie geht von der lebendigen Seele im Unterschied vom abstrakten Menschen aus; alle Fragen stellt sie von ihr her um. Der abstrakte Mensch war die Erfindung des 18. Jahrhunderts. Sie hatte, als Arbeitshypothese, ihre Vorzüge wie jede andere, denn es ist nicht möglich, ganz Falsches zu ersinnen. Der abstrakte Mensch bezeichnet, mathematisch ausgedrückt, das Integral der menschlichen Intellekt Seite. Die ist wesentlich unpersönlich; für sie gibt es nur Allgemeines, nichts Besonderes. Und soweit vom Intellekt her oder auf ihn hin gedacht und gelebt wird, hat sich die Voraussetzung seiner als letzter Wirklichkeit bewährt; dafür sind die theoretischen und praktischen Errungenschaften des Fortschrittszeitalters ein einziger Beweis. Andererseits jedoch haben die Ereignisse der letzten Jahrzehnte erwiesen, dass es vom intellektuellen Menschen her kein Weiterkommen mehr gibt; dass, wer heute im Sinn des 18. oder 19. Jahrhunderts fortschrittlich erscheint, in Wahrheit rückschrittlich ist; ja, dass weiteres Fortschreiten auf der bisherigen Bahn geradezu ins Verderben führt. Wie jede historische Etappe war eben auch die Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts eine einseitige. Die moralische und spirituelle Seite des Menschen verblieb außerhalb des Fortschrittsprozesses. Und nachdem dieses durch das experimentum crucis von Weltkrieg und Weltrevolution offenbar geworden war, ward es allgemein als Zeitaufgabe erkannt, den Bedeutungsakzent auf die Seele zurückzulegen. Leider aber wurde die Aufgabe zunächst in rückschrittlichem Sinn verstanden, der Wahrheit der Einsinnigkeit des Lebensprozesses uneingedenk. Die Errungenschaften der letzten zweihundert Jahre wurden verleugnet. Demgegenüber suche ich zu zeigen, dass die richtig verstandene Zeitaufgabe eine rein fortschrittliche ist; es gilt gar nicht, sofern wir weiter vorwärts und aufwärts wollen, den abstrakten Menschen mitsamt seinem Können zu verleugnen, sondern ihn in die Totalität des lebendigen Menschen zurückzubeziehen. Das aber bedeutet: es gilt die Wirklichkeit der Seele, als eines lebendigen Organismus, auf höherer Erkenntnisebene neu zu realisieren, die bessere Wirklichkeitserkenntnis des Mittelalters — denn dieses war sich der wahren Wirklichkeit allerdings bewusster als die Moderne — auf vorgeschrittener Verstehensstufe zu restaurieren.

Das, was ich dort von meinem Schaffen schrieb, führt vorliegendes Buch in äußerster Zuspitzung auf das Persönliche fort. Denn meiner Überzeugung nach kann, nachdem die Entwicklung in den letzten zehn Jahren in der von mir befürchteten Richtung viel weiter noch gediehen ist, als ich es damals erwartete, nur äußerste Wertbetonung des Innerlichen, Persönlichen und Intimen schauerlichster Entmenschung vorbeugen. Weit mehr noch denn zu Beginn unserer Ära erscheint heute das Christus-Wort was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele Mt 16,26 zeitgemäß. A R R O W

Das, was im Buch vom persönlichen Leben selbst zu lesen steht, brauche ich über das Gesagte hinaus nicht einzuführen. Doch möchte ich hier aufs Problem der Gefährdung des Menschen-Tiers noch etwas näher eingehen, weil dazu später kein rechter Anlass mehr sein wird, und zum Schluss eine grundsätzliche Erkenntnis, ohne jeden Ausblick auf Besonderes, klar herausarbeiten, von deren deutlicher Erfassung meiner Ansicht nach das tiefere Verstehen alles Besonderen abhängt. Der Mensch ist nicht allein kein Insekt, weshalb Insektifizierung unmöglich Höherbildung einleiten kann: dem Menschen-Tier als solchem fehlen bisher die meisten organischen Bereitschaften zur positiven Ausnutzung der dank Wissenschaft und Technik gewonnenen Vorteile. Das vielleicht Beste an Henri Bergsons Alterswerk über die zwei Wurzeln der Moral und der Religion ist der gelungene Nachweis, dass der Mensch von Natur aus nur für enge Gemeinschaften und kleine Gemeinwesen vorbereitet ist; daher das meiste des politischen Versagens, welchem wir allerorts in desto höherem Grade begegnen, je weiter die geschichtlich bestimmenden Zusammenhänge werden. Gleiches nun gilt, mutatis mutandis, auf allen Gebieten. Der modernen Schnelligkeit in möglicher Bewegung und Benachrichtigung entspricht bisher keine innere Erb-Veranlagung. Noch heute bemerkt an seiner Umwelt der Fußgänger am meisten; am meisten versteht vom Weltverlaufe heute noch der, der nicht mehr Tatsachen und Nachrichten zu verarbeiten hat, als solche Alexander dem Großen vorlagen. Von allen Italienern, die jemals Frankreich besuchten, hat bis heute Julius Caesar von diesem Lande am meisten gesehen und begriffen. Dieser Feststellung entspricht das Gegenbild, welchem man fortschreitend häufiger und in wachsend abschreckender Darstellung begegnet.

So stumpfe Menschen, wie es solche Rekordflieger sind, für deren Sinne und Begriffe zwischen Australien und Europa kein merklicher Unterschied besteht, gab es wahrscheinlich nie. Andererseits aber: sie müssen wohl stumpf sein oder werden, um das Leben, welches sie führen, auszuhalten, denn organisch ist der Mensch nicht vorgebildet dafür. Wer an einem Tage von Europa nach Australien gelangt, ist von allen anderen Wesen am ehesten mit dem Floh zu vergleichen, und kein Floh spränge unbefangen und zielsicher, wenn er im Sprung noch innere Erlebnisse zu verarbeiten hätte. So begünstigen, ja verlangen die modernen technischen Möglichkeiten Insektifizierung gerade im Sinne der Verdürftigung. Was die Einzigkeit des Menschen unter allen uns bekannten Wesen macht, ist, wie Max Scheler es glücklich formuliert hat, seine Weltoffenheit. Wie soll einer nun weltoffen bleiben, wenn er nur das bemerkt, was er bei einer Geschwindigkeit von fünfhundert Kilometer in der Stunde sehen kann, und wenn sein normaler Kontakt mit dem Nicht-Ich durch die mineralische Apparatur und die unpersönliche Stimme des Radios hergestellt wird? Wenn Sinne und Seele überhaupt auf keine differenzierte Weise angesprochen werden? Wer also leben muss, ohne dem von innen, von Geist und Seele her, gewachsen zu sein, der kann sich wirklich zunächst nicht anders halten, als indem er sich insektenhaft von allen für seine unmittelbaren Zwecke entbehrlichen Eindrücken abschließt. Der fliegende Mensch ist zunächst noch nicht dem Vogel vergleichbar: zunächst wirkt das Starre der technischen Mittel starrmachend auf seinen Geist zurück, begünstigt das feste Gehäuse die Entwicklung einer Käferseele.

Ähnlich nun, wie mit der Geschwindigkeit der Eigenbewegung, steht es mit allem hierher Gehörigen. Übertrieben guter Nachrichtendienst stumpft die Aufmerksamkeit ab; die Gewohnheit, stündlich vorgekautes Wissen mechanisch aufzunehmen, schwächt das Eigen-Denken; die passive Einstellung, welche Kino und Radio fordern und fördern, lähmt die Fähigkeit zur Konzentration; allzu häufig angenommene Suggestion tötet die Eigen-Initiative. Und im gleichen Verstande verlieren die Menschen im modernen technisierten Leben zunächst unaufhaltsam an Persönlichkeit überhaupt. Jeder Feudalherr, welcher selbstherrlich seinen eigensten Lebensraum bewohnte, war eine vollausgeschlagene Persönlichkeit. Heute unterscheidet immer mehr nur noch mehr-oder-weniger-Können einen Menschen vom anderen; das Sein spielt eine immer geringere Rolle. Die bisherigen Neuordnungen auf Grund des Leistungsprinzips bedeuten durchaus noch keine Höherbetonung der Persönlichkeit. Persönlichkeit ist ein Absolutum; ihr ganzer Wert beruht auf ihrem Sein. Können, Führen, Folgen aber sind Relationsbegriffe, welche sich niemals auf das Sein beziehen. Das Leistungsprinzip muss, je sachverständiger es gehandhabt wird, zu immer größerer Spezialisierung führen, das Prototyp des Spezialisten aber ist wiederum das Insekt. In dieser Darstellung und Aufzählung habe ich absichtlich karikiert, denn von allen Zeichnungen stellt die Karikatur, wenn sie gelingt, das Wesentliche am auffallendsten und darum einleuchtendsten dar. So darf ich denn jetzt wohl ohne weitere Erläuterung die folgende These aufstellen: das letztlich lebenswichtige Problem beim Fortschritt ist nicht die möglichst große Machtwirkung des Menschen auf die Außenwelt, sondern das andere, wie die vorläufige Nicht-Angepasstheit von Geist und Seele an die äußere Möglichkeit, welche allen äußeren Vorteil in Nachteil umzukehren droht, in Angepasstheit überzuleiten wäre.

Nun hat der Mensch ohne jeden Zweifel sein Wesenszentrum im Geist und seine Erlebnisbasis in der Seele: aus diesen zwei Tatsachen folgt mit zwingender Notwendigkeit, dass bei Geist und Seele und nirgendwo anders einzusetzen ist, wenn aus dem Gleichgewichtsmangel dieser Wendezeit neues und höheres Gleichgewicht hervorgehen soll. Aus den gleichen Tatsachen folgt aber auch, dass die erwünschte Entwicklung einzuleiten sein muss; es gibt keine absehbaren Grenzen für geistige und seelische Höherentwicklung; ebensowenig für Persönlichkeitsvertiefung. Ist aber die Einleitung möglich, dann wird die gewünschte Entwicklung auch — auf Grund des Naturgesetzes, dass das Unbewusste klare Vorstellung von selbst in Wirklichkeit umsetzt — auf die Dauer von selbst erfolgen. Gewiss auf Kosten einiger früherer Fähigkeiten, so wie das Lesen- und Schreibenkönnen in der Regel das Gedächtnis schwächt, doch im ganzen mit absolutem Gewinn. Die heutige Unzulänglichkeit des vorgeschrittenen Menschen ist also als solche keineswegs Schicksal, und noch weniger braucht es immer schlimmer mit ihm zu werden: eine Vollkommenheit höheren Grades, als solche je einem Menschentypus beschieden war, ist grundsätzlich möglich. Sie ist aber, noch einmal, ausschließlich dann zu erzielen, wenn der Bedeutungsakzent fortan direkt und ohne Übergang auf das persönliche Leben gelegt wird. Von aller Sachlichkeit muss von vornherein und grundsätzlich abgesehen werden. Alles Äußerliche muss auf das persönlich-Innerliche zurückbezogen, vom Intimen her muss auch das Kollektive gesehen und behandelt werden — erst nachdem dieses geschehen, was nur von der persönlichen und selbständigen Einsicht des Einzelnen her erfolgen kann, wird der Weg zum Heile angetreten sein.

Hiermit gelange ich denn zu der grundsätzlichen Erkenntnis, die ich in dieser Einführung von allem Besonderen losgelöst bestimmen wollte. Hierzu werde ich zwei übliche Begriffe in einer anderen als in der üblichen Bedeutung verwenden — doch was ich meine, dürfte aus der Verwendung selbst so eindeutig hervorgehen, dass ich mir eine Rechtfertigung sparen kann. Der Individualist in seinem Extremausdruck versucht alle Probleme vom Ich her und auf das Ich hin zu lösen; das gilt psychologisch nicht allein vom oberflächlichen materialistischen Egoisten, welcher das Welträtsel in Funktion seines persönlichen Wohlbefindens zu lösen unternimmt, sondern auch vom tiefsinnigen Spiritualisten, welchem alles Geist ist oder alles Selbst oder alles Gott; in allen diesen Fällen ist die persönliche Einzigkeit das lebendige Bezugszentrum. Der Kollektivist in seinem Extremausdruck glaubt alles und jedes von einem vielfältigen Ganzen her und auf dieses hin verstehen und behandeln zu können. Und auch dieses gilt psychologisch nicht allein vom oberflächlichen Vertreter des Typus, dem Marxisten oder Ameisenvergötterer, dem Gläubigen an einen möglichen allerfüllenden Staat oder an eine Menschheit, in welcher die Persönlichkeit unterzutauchen hätte, sondern auch vom wahrhaft tiefen Universalisten, welcher alles Persönliche als Symbol kosmischen Werdens versteht, wie solches von den meisten sakralen Weltanschauungen gilt, oder — hier habe ich speziell Alt-China im Sinn — alles Geschehen, persönliches, unter- und überpersönliches, auf einer Ebene kosmischen Geschehens zusammenschaut. Denn psychologisch handelt es sich in allen diesen Fällen um die gleiche Grundeinstellung auf ein überpersönliches Ganzes. Die Weltanschauungen des Individualisten und Kollektivisten sind nun beide ungegenständlich und müssen von höherer Einsicht ganz und gar verworfen werden. Alles Wissen stammt aus der Erfahrung im Sinne unmittelbaren Erlebens; alles Verstehen setzt vorurteilslose Hingabe des ganzen Menschen voraus. Es geht nicht an, auf Grund denkerischen Vorurteils und zum Besten solches zu vereinheitlichen oder auseinanderzureißen, was sich auf qualitativ bestimmte Weise dem Bewusstsein offenbart. Darum sind alle Monismen, alle Dualismen, alle Pluralismen, welche der erlebten Wirklichkeit Gewalt antun, schlankweg abzulehnen. Jener radikale Realismus, dem allein meiner Überzeugung nach alle positive Zukunft gehört, und welchen vorliegendes Buch nach allen Richtungen, die seine Thematik vorsieht, zu begründen trachtet, fordert die Anerkennung der integralen Offenbarung, das heißt der differenzierten totalen Wirklichkeit, so wie sie den ganzen Menschen wirklich affiziert, in der tatsächlich bestehenden Beziehung aller Teile zueinander; selbstverständlich vom Menschen her gesehen, denn diese persönliche Gleichung ist die lebendige Voraussetzung unseres ganzen Erkenntnisbegriffs. Legt man sich nun in der hiermit geforderten Unbefangenheit über das Menschenwesen in seiner Beziehung zum Weltganzen Rechenschaft ab, dann ergibt sich als Urphänomen dessen unzurückführbare ursprüngliche Vielschichtigkeit. Der Mensch ist wirklich der Mikrokosmos, welchen die Renaissance in ihm sah; alle uns bekannten Bestandteile der Welt, alle in ihm wirksamen Kräfte und Beziehungen leben in ihm. Und zwar so, wie sie das Bewusstsein tatsächlich affizieren, nicht in der Form der Hirngespinste und Reflexionselaborate, wie sie Phantasten konstruieren, die ihre Geisteleminate für wirklicher halten, als die Gegebenheiten unmittelbaren Erlebens.

Diese ganze Vielfalt gilt es nun zunächst als dem Menschenwesen zugehörig anzuerkennen. Auf der heutigen Erkenntnisstufe geht es nicht mehr an, den einen oder anderen Teil zu ignorieren, zu entwerten oder, allgemeiner gesagt, zu wähnen, das Lebensproblem könnte durch Vorurteil und Unwahrhaftigkeit gelöst und gemeistert werden. Auch der in seiner Überzeugung engste Mensch erstrebt als Ziel persönliche Erfüllung seines Lebens. Es gibt kein anderes tatsächlich wirkendes Generalideal — Erfüllung aber ist dann allein möglich, wenn der Mensch alles und jedes in sich an seinem rechten Orte anerkennt und dann aus der Ganzheit des Gegebenen heraus sein persönliches Leben formt. Was ich hier andeute, steht, soweit es sich um Theodizee, Kosmogonie und allgemeine Anthropologie handelt, in meinem Hauptwerk, den Südamerikanischen Meditationen, in für mich letztgültiger Weise ausgeführt; auf sie verweise ich hier ein für alle Male, wo irgendein Grundsätzliches am folgenden Texte unklar oder zweifelhaft erscheinen sollte. Die Grundeinsichten der Meditationen nun bedingen für das Problem des persönlichen Lebens die folgende Grundeinstellung — und diese möchte ich in dieser Einführung in Form einer These kurz bestimmen, damit der Leser zum rechten Verständnis der späteren Sonderbetrachtungen von vornherein eine Richtschnur besäße. Die letzte Instanz für jeden Menschen in allen Lebensbelangen ist seine tiefst-persönliche Einsamkeit, sein persönlich-geistiges Selbst. Ausschließlich von diesem her ist irgendein Lebensproblem richtig einzustellen und zu lösen. Doch der Mensch besteht nicht nur aus seinem Wesenskern. Direkt Unpersönliches gehört wesenhaft zu ihm.

Dieses nun muss er in seiner Unpersönlichkeit erkennen und doch als Unpersönliches sich selbst persönlich zurechnen. So ist zum Beispiel das Gemeinschaftsproblem, obgleich die Person der Gemeinschaft niemals letzte Instanz ist, doch nur vom Einzelnen her richtig zu stellen und zu lösen — nur eben auf ganz andere Art, als bisher geschah: die richtige persönliche Einstellung führt keineswegs zu falschem Individualismus. Die verschiedenen Betrachtungen dieses Buchs nun behandeln vom persönlichen Selbst her und auf dieses hin die wichtigsten unter den verschiedenen Schichten und Beziehungen, die unabtrennbar zum Menschenwesen gehören, in deren jeweiliger Eigenart, mit der Zielsetzung auf Erfüllung des Lebens. Die Kapitel Gesundheit, Von den Untergründen des Lebenskampfes, Seele und Der Urzusammenhang der Menschen bestimmen das Wichtigste unter dem erlebnisfähigen Unpersönlichen, das unabtrennbar zu jedes Menschen Natur gehört. Im Verfolg spitzt sich das Buch immer mehr aufs Persönliche und Geistige zu. Immer mehr erweist sich das Problem des Lebens in seiner Ganzheit als Problem der Kunst. Zugleich aber wird das Buch immer deutscher. Aus dem Erlebnis deutscher Not, deutschen Ringens und deutscher Möglichkeit geboren, benutzt es spezifisch-deutsche Problematik nicht nur als Ausdrucksmittel — viele Betrachtungen sind nur für Deutsche geschrieben und dürften nur für Deutsche schöpferischen Sinn haben, ja ihnen allein vielfach ganz verständlich sein. Schon darum ist das Buch vom persönlichen Leben ein ganz anderes als die Vie Intime, die ich für die Westvölker schrieb, obschon die Grundintention in beiden Fällen die gleiche war und obgleich manche längere Betrachtungen in beiden Schriften nur wenig voneinander abweichen. Vorliegendes Buch konnte ich nur als Deutscher im Deutschland der Jahre des großen Umbruchs und für Deutsche schreiben. Aber gerade auch solche Raum- und Zeitbedingtheit gehört mit zum Wesen alles Persönlichen, welches sich eben darin ganz erfüllt, dass es sich der gegebenen kosmischen Situation restlos einfügt und diese in ihrer persönlichen Einmaligkeit vollkommen zum Ausdruck bringt.

Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
Einführung
© 1998- Schule des Rades
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