Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

VI. Weltfrömmigkeit

Gemüt

Georg Groddeck, jener merkwürdigste aller Ärzte, der eine Lao Tse-artige Mensch, der mir begegnet ist, improvisierte einmal auf einer Darmstädter Tagung der Schule der Weisheit eine Rede, in welcher er gegen Geist und Seele eiferte und als Höchstausdruck des Lebens das — Ei feierte: was dies vermöchte, ginge über die Kraft jeder anderen Lebensform. Seither ist mir diese Erinnerung das beste Sinnbild dafür, was der Deutsche meint, wenn er das Werden dem Sein vorzieht, das Dunkle dem Klaren, das Ungestaltete der Gestalt. Es ist nicht so, wie so viele Franzosen denken, dass die Deutschen eben noch jung wären: junge Völker sind meist am starrsten in ihrer Form (AV, VIII). Für das deutsche Bewusstsein liegt der Nachdruck, selbst im Falle höchster Kultiviertheit, auf dem Germinalen, mit welchem Begriff sich der allgemeine Sinn dessen, was Groddeck am Ei pries, wohl am besten fassen lässt. Und der Nachdruck liegt dort, weil die deutsche Seele tatsächlich germinaler ist als die irgendeines anderen mir bekannten lebenden Volks. Die besondere Anlage, in der sich dieses Allgemeine äußert, ist das deutsche Gemüt.

Dieses ist durchaus nicht gleichbedeutend mit Gefühlsfülle oder -reichtum oder -kraft, oder mit Emotivität oder Sensitivität oder Leidenschaftlichkeit: in jeder einzelnen dieser Eigenschaften stehen andere Völker den Deutschen zum mindesten gleich. Gemüt ist auch nicht gleichbedeutend mit Seelenfülle oder Seelenhaftigkeit, obgleich letzteres Wort auf deutsch einen ähnlichen Sinn hat wie gemütvoll; denn zweifelsohne eignet vielen anderen Völkern nicht weniger Seele.1 Das Wesentliche am deutschen Gemüte ist, dass es ein Nicht-Differenziertes ist; es ist das seelische Ei, aus dem sich die bestimmten Funktionen, für welche alle Sprachen Worte haben, im Lauf der Entwicklung herausdifferenzieren. Deswegen ist es auch ein Irrtum, Gemüt speziell als Gefühlsanlage zu verstehen. Gemüt ist ein viel Umfassenderes; ja es ist ein psychisch Allumfassendes. Dass das Wort in jedem ein emotionales Echo weckt, hängt damit zusammen, dass die Urform des spezifisch menschlichen Psychismus eben die Emotivität ist; beim Menschen tritt diese zu den Ureigenschaften alles Lebens, der Sensibilität und Irritabilität, hinzu, in ihr liegt der Mittelpunkt seines Erlebens; dies ist ein anderer Ausdruck für unseren in einem früheren Kapitel begründeten Satz, dass es die Seele ist, welche den Menschen macht. Im übrigen kennzeichnet den normalen Deutschen gerade, dass seine Gefühle undifferenziert sind. Aus noch Undifferenziertem kann freilich grundsätzlich alles nur mögliche Differenzierte werden. Daher der unter lebenden Völkern unerreichte Reichtum und die wunderbare Vielfalt ausgestalteter Sonderbegabungen, welche das deutsche hervorbringt. Daher die unerreichte Größe seiner größten Söhne: wenn sich Geist Ei-haft Seelischem einbildet, dann können Verkörperungen seiner von so hoher Originalität entstehen, wie solche differenziertes Seelentum ob seiner Festgelegtheit nicht hervorzubringen vermag. Daher die große deutsche Lyrik. Die Deutschen sind durchaus kein Volk von Dichtern: das Volk bringt nur besonders viele solcher als Ausnahmen hervor. Und ebenso steht es mit der deutschen Musik. Als Volk sind die Russen musikalischer; den meisten Russen fällt musikalisch-Eigenes ein, die meisten können improvisieren, die meisten bloß nach dem Gehör, ohne jegliches Üben, in vielstimmigem Chore richtig singen. Demgegenüber vermögen die allermeisten Deutschen nur Fremdes nachzusingen, und was sie nicht geübt haben, das können sie nicht. Von allen Völkern jedoch hat das deutsche bisher die größten musikalischen Genies hervorgebracht.

Das deutsche Gemüt ist also ein wesentlich Primordiales, mit differenzierten Funktionen und Anlagen Unvergleichbares. Und da das Gemüt den Deutschen macht, so genügt diese eine Erwägung zur Erklärung dessen, warum der Deutsche von anderen Völkern so schwer verstanden wird und warum der große Deutsche, welcher als Wert einleuchtet, allemal untypisch wirkt. Doch auch der Deutsche selbst versteht sich schwer. Nur differenzierten Inhalten ist Verstand gewachsen, und was den Deutschen als differentielles Wesen macht, ist gerade sein Undifferenziertes. Immerhin kann dieses beschrieben, und vom erkannten Irrationalen her kann weiter gedacht werden. Und da das Gemüt die Angel alles Deutschtums ist, so hat solches Weiterdenken im Zusammenhang eines Buchs vom persönlichen Leben für Deutsche sehr eindringlich zu geschehen. Hierbei aber kann ich vom emotionalen Aspekte des deutschen Gemüts beinahe absehen, weil dessen Bedeutung und Wert am wenigsten mit ihm zusammenhängen. Nur soviel sei hier darüber gesagt. Da ich über die Probleme des persönlichen Lebens für Franzosen schrieb, gab ich dem Buch den Untertitel essais proximistes, den ich dahin erläuterte, dass der Franzose einen besonderen Sinn für das persönlich Naheliegende hat; die ganze hohe französische Gefühlskultur ist insofern proximistisch. Doch solcher Proximismus ist nur möglich von ausgestalteter Person zu ausgestalteter Person. Von Ei zu Ei ist Verkehr schwierig. Jedes Ei trägt eine Schale: so erlebt der Deutsche ursprünglich alles für sich allein, als Monade ohne Fenster. Zusammenhang kennt er normalerweise nur nach dem Ausgekrochensein, in Form von Bruthitze und Nestwärme; und richtig auskriechen aus einer Eierschale muss der Deutsche in der Tat allemal, wo er Zusammenhang fühlen will. Daher das typischerweise Explosive jeder deutschen Annäherung, welche allemal als ungeheures Erlebnis empfunden wird; das Zerbrechen der Schale ist in der Tat ein katastrophaler Vorgang. Aus diesen kurzen Betrachtungen leuchtet ohne weiteres ein, warum Gefühlskultur dem Deutschen schwerer als anderen erreichbar ist: es fehlt die Voraussetzung distanzierter und zugleich doch naher Beziehung. Daher andererseits das besondere deutsche Bedürfnis für nächste Nähe, für allerkleinste Kreise, für Geheimes und Inniges. Daher die besondere Wärme des Zusammenhangs von Deutschen, wo solcher besteht; daher die einzigartige Innigkeit deutscher Weihnachtsstimmung. Daher aber auch die Gemütlichkeit, deren Wort-Zusammenhang mit Gemüt allein schon beweist, dass es sich hierbei um ganz anderes handelt als englischen Comfort. Gemütlichkeit bedeutet immer auch Formlosigkeit, Sich-Gehen-Lassen. Sie ist nie Werte-schöpferisch, sie bedeutet ein Aus-Lassen von Ur-Natur. Ziehen wir jetzt nochmals Entsprechungen unter anderen Völkern heran, dann wird uns vollends klar, ein wie Sonderliches und Einzigartiges das deutsche Gemüt in seinem emotionalen Aspekte ist und warum sich die Frage von Gemütskultur eigentlich nicht stellt. Der französischen émotion entspricht beim Deutschen mutatis mutandis, Erschüttertheit und Ergriffenheit, und Berührtheit ergibt gleich Rührung — ein psychischer Ablauf, welchem man bei Romanen selten begegnet. Der Gott Israels erbarmte sich, wenn er’s zu arg getrieben hatte; der antike Römer war hochherzig, Mitleid kannte er nicht; Franzosen und Spanier sind generös: Gerührtsein als Grundmotiv findet man bei Deutschen allein. Das aber beweist, dass das germinale Gemüt buchstäblich auf- und umgerührt wird; es kann sich dem Einfluss nicht entziehen und muss dem Gefühle nachgeben, um sich zu behaupten. Hierbei aber handelt es sich um eine so totale Reaktion des gesamten Organismus, dass sie auf klare und bestimmte Vorstellungen gar nicht zurückzuführen ist.

Wenn wir tief verstehen wollen, was Gemüt ist, müssen wir uns demnach anderem zuwenden als dem, was gewöhnlich unter diesem Wort verstanden wird. Wir müssen zur Einführung vielmehr auf die allgemeinen Seiten des Deutschtums ausführlicher eingehen, bei denen ich im Deutschland-Kapitel des Spektrums Europas, dessen Kenntnis ich hier im übrigen voraussetze, nicht verweilt habe. In seiner Zeitschrift Die Arche schrieb der gleiche Groddeck, mit dessen Erinnerung ich dieses Kapitel einleitete, einmal das Folgende:

Der Kannegießern (so nennt Groddeck sich selbst) weiß, dass dieses Volk in ganz anderem Sinne als die Engländer am Leben schafft. In ewiger Fruchtbarkeit niemals alternd, jung wie am ersten Tage, schenkt es als Mutter der Welt dem Gedeihen der heiligen Rasse der Weißen schaffende, fügsam geduldige, streitbare und nimmer müde Kinder. Was geht diese Mutter das Gezänk der Staaten an? Seit Jahrtausenden strömen von ihr fort Menschen und Völker, aus ihr geboren, hierhin und dorthin, nach Osten und Westen und Süden und Norden. Es bricht ihr das Herz nicht, wenn ihre Söhne von ihr abfallen, wenn sie sich, wie jüngst die Engländer, gegen die Mutter wenden; sie leidet, aber im Innersten unversehrt wendet sie den Blick vom Tage ab der Zukunft entgegen. Und kaum vernarben die Wunden, die ihre Kinder ihr schlugen, vergisst sie, was man ihr tat, und sendet neue Scharen von Angelsachsen und Franken und Alemannen und Schwaben in die Welt. Sie hat es nicht nötig, Herrin zu spielen, die Welt zu erobern, mit Heldentaten und Abenteuern ihren Namen in der Leute Mund zu bringen, sie braucht nichts zu werden, sie ist.

Es ist gewiss nicht nötig, aus dem Tatbestand, dass Deutschland eine ewige junge Mutter sei, die Folgerungen zu ziehen, welche Groddeck im Jahre 1927 aus ihm zog. Doch zu verstehen ist das deutsche Schicksal nur aus diesem Germinalen. Jeder einigermaßen bedeutende Deutsche ist ein in höherem Grade aus der Art Geschlagener, wie der bedeutende Mensch es unter allen Völkern ist; im Höchstfall wirkt er als richtiges Mutationsprodukt. Und jeder fühlt an erster Stelle seine Verschiedenheit. Daraus ergibt sich leicht Feindschaft und Verrat, wie solche unter anderen Umständen nie entstehen könnten. Wegen der gleichen Germinalität geht der Deutsche so leicht in fremden Völkern auf und assimiliert seinerseits andere so schwer. Als innerlich noch Ungestalteter nimmt er leicht und gerne fremde Gestalt an; solche Bekehrung von Volkstum zu Volkstum ist innerhalb nicht allzu fern verwandter Völker deshalb möglich, weil diese sich nicht durch das Blut und psychische Elementarmotive, sondern durch die besondere Einstellung eines im großen und ganzen gleichartigen psychischen Organismus unterscheiden. Oder aber der Deutsche gebiert, wo er als Eroberer auswandert, aus sich selbst heraus neues Volkstum; so erwuchsen nach der Völkerwanderung die vom deutschen Adel grundverschiedenen Oberschichten der meisten großen europäischen Völker aus germanischem Blut. Überall aber wirkt dieses, um seines Germinalen willen, verjüngend. Seinerseits nun kann der Deutsche, noch einmal, schwer assimilieren, weil seine Seele noch keine feste Form hat. Alle anderen Völker haben die Juden, sofern sie sich nicht grundsätzlich von ihnen distanzierten, in hohem Grade assimiliert; das macht, dass sie eine fest ausgeprägte Seele haben, die sich den Judenkindern unwillkürlich einprägt. In Deutschland sind die Juden bisher die der seelischen Form nach stärkeren, weshalb eine Verjudung Deutscher häufiger vorkommt als eine Verdeutschung von Juden. Um des gleichen Germinalen willen werden die Deutschen so leicht auch seitens solcher Völker, die an Kultur hinter ihnen weit zurückstehen, als Barbaren beurteilt: jeder Embryo mit seinen unfertigen und vorläufigen Organskizzen wirkt barbarisch, und das Ei gar hält keinerlei Vergleich mit primitivstem Gestaltetem aus, sobald man überhaupt den Maßstab der Gestalt anlegt. Doch um des gleichen Germinalen willen könnte andererseits das, was heute dem Deutschtum als tiefst-Ursprüngliches zugrunde liegt, im gleichen Sinn unsterblich sein wie das Keimplasma. Wir wissen von der Geschichte des Menschen­geschlechts noch viel zu wenig, um irgend etwas Endgültiges über Urerbe, spezifische Vererbungskräfte und Typenänderung aussagen zu dürfen. Doch wenn es wahr ist, dass viel mehr auf Vererbung als auf Umwelt-Einwirkung zurückgeht, dass erworbene Eigenschaften kaum oder gar nicht vererbt werden und Mutationen selten sind, dann ist zum mindesten wahrscheinlich, dass die Germinalität als solche ein uraltes Gen, ja vielleicht das Urgen des Menschen darstellt. Die ganze Vorzugsstellung des Menschen unter allen Tieren in bezug auf seine besondere Fortschrittsfähigkeit, beruht ja auf seiner Unfertigkeit; in den Meditationen ward gezeigt, dass der ungeheuer weite Schritt voran, den der Prozess des Einbruchs des Geists in das Naturgeschehen im Körper des Menschen gemacht hat, äußerlich damit zusammenhängt, dass des Menschen physischer Organismus auf einer früheren, weniger spezialisierten Stufe der Entwicklung stehenblieb als der aller ihm vergleichbaren Tiere, und dass das menschliche Individuum länger plastisch, das heißt jung bleibt. Der Mensch ist das wesentlich nicht spezialistische, das wesentlich sensitive, allen Einflüssen offene, feinnervige, seelisch zarte, leicht affizierbare und deshalb leicht verwandelbare Tier. So ist der Mensch überhaupt wesentlich das germinale Tier, denn alle Sensitivität impliziert Nichtfestgelegtheit. Fern sei nun von mir, zu behaupten, Adam sei Deutscher gewesen. Die menschliche Ureigenschaft der Germinalität hat sich im Laufe der Jahrtausende in extrem hohem Grade bei sehr verschiedenen Völkern geäußert, in jedem völkischen Sonderfall wohl plötzlich herausmendelnd, und in jedem Fall besonders spezifiziert. Trat irgendwo besondere Begabung zu germinalem Gemüt, was allemal einerseits Nicht-Festgefahrenheit, andererseits Speisung jener durch Urkräfte zur Folge hatte, so erstand allemal eine wahre Phalanx großer Neuerer. Heute nun ist unzweifelhaft das deutsche Volk das urtümlichste unter den weißen Völkern. Daher seine mögliche besondere Bedeutsamkeit in dieser Wendezeit, in der sich augenscheinlich eine neue Mutation des Menschen vorbereitet.

1
Woher die allein den Deutschen eigentümliche Kultur der Gemütsinnigkeit stammt, hat Alfred Weber in seiner Kulturgeschichte als Kultursoziologie (Leiden 1935, S. 287) meines Wissens zum ersten Male richtig beleuchtet. Zur Ergänzung unserer allgemeinen Betrachtungen, die ich im Text nicht durch Einzelheiten beschweren möchte, bringe ich in einer Anmerkung ein längeres Zitat:
Es sind (in Deutschland und anliegenden nordalpinen Ländern) die städtischen Schichten, die das geistige Leben tragen — aber, inmitten jener demokratischen Freiheitswelle, die geschildert wurde, ganz anders als die Renaissancestädte in Italien. Es mögen die Patrizier, die Zünfte, es mögen die Verlagsarbeiter politisch entscheidend werden, die Stadt mag ihre Autonomie behalten oder sie verlieren, für ihren kulturellen Lebensatem wird überall ausschlaggebend der kleine Mann, der mit dem Felleisen als Handwerker in die Stadt gekommen ist, besitzlos, auf Gemeinschaft und gemeinschaftliche Nahrungssicherung eingestellt. Er, der von Handarbeit in Selbstverwaltung dieser Arbeit lebende Genosse und sein sozialer Nachschub bestimmt seit etwa 1350 die Atmosphäre, in der man kulturell und geistig schafft. Man schafft im seelischen Bereich einer Lebensdemokratie, die, mochten größere oder geringere Teile der Handwerkerschaft aufgestiegen sein und zu Wohlhabenheit gelangen, in ihrem Wesen unverändert blieb. Sie ist als solche Lebensdemokratie ein einzigartiges Phänomen unter den Hochkulturen der Weltgeschichte. Die unteren Schichten der italienischen Renaissancestädte waren wie einst die unteren Schichten in der antiken Polis gewiss seelisch-geistig durchgeschlagen. Sie waren aber durch das Geld und die überlegene Geistigkeit überwältigt und, wie besprochen, in der Renaissance kulturell bedeutungslos geworden. Im Norden aber wurden die handwerklichen breiten Massen wenn nicht die Schöpfer so doch die Träger des Geistes der Kultur. Sie wurden dadurch Träger einer — sieht man tiefer — wegen der ungebrochenen Lebensspannungen im letzten Grund in den Flutungen der religiösen und sozialen Freiheitskämpfe rebellischen Kultur mit starken seelischen Reaktionen, die aus den unteren Schichten kommen. Daher: Auf die furchtbaren Heimsuchungen der Pest seit 1348 antwortet die Zeit aus ihren Tiefen mit Flagellantentum und Geißelbrüdern, aber auch mit Tanzmanien. Ihre Kämpfe führt sie mit schwer überbietbarer Bestialität, mit Rädern der politischen Gegner, lebendigem Begraben und dergleichen. Im Dasein lässt sie drastische Derbheit gelten, die leicht ins Obszöne geht. — Plastik und Bild verkörpern statt der ragenden Gestalten des 13. Jahrhunderts einen kleiner gewachsenen, deutlich von unten gekommenen Menschenschlag. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts bricht auch ein anderer Ausdruckswille durch, dort wo nicht höfische Einflüsse eingreifen, wie in Burgund. Statt stolzer Gehaltenheit wie früher, ein Hinabstürzen in rücksichtslosen Gefühlsausdruck, wenn auch gepaart mit immer größerem Können, der am Ende der Periode seinen Gipfel in Grünewalds hemmungslos gewaltigen Explosionen findet. Die Kunst, die Schönheit schließlich nicht mehr kümmert, ist in ausgesprochener Weise wieder erdgebunden, voll der Angst der Kreatur: ein Christus, der wie steifgefroren über die Kniee einer Madonna hingestreckt ist, rücksichtslos das Furchtbare der Erstarrung darstellend, diese Madonna mit einem Schmerzensausdruck von nicht mehr zu übersteigernder Letztheit, Empfindungsverdichtungen und Aufgeregtheit ausdrückende zerknitterte Gewänder — derartiges setzt sich fort durch anderthalb Jahrhunderte. Es ist hohe Kunst gewordene primitive Lebensangst, die sich an alles heftet, an den Ausdruck größter Tiefe, die erhabene Haltung, wie auch an Massivität und Grobheit. Das wunderbare deutsche Volkslied quillt in dieser Zeit auf, die Balladendichtung, von der wir heut noch leben — die Marienlieder in ihrer Innigkeit und Süße. Aber dicht daneben wächst die Unflätigkeit und hohle Spottlust. An den Kirchen sind über den frommen und gehaltenen Heiligen unten die anscheinend aus dem Urschleim entquollenen Wasserspeier oben.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
VI. Weltfrömmigkeit
© 1998- Schule des Rades
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