Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

VIII. Einsamkeit

Innere Entscheidung

Jetzt können wir die Eigen-Wirklichkeit sowohl als die besondere Wirkungsart des einsamen persönlichen Selbstes soweit exakt bestimmen, als dies die Grenzen möglicher Begriffsbildung erlauben. Das Selbst ist das Letztentscheidende im Menschen. An und für sich ist es unfassbar; man kann nicht einmal behaupten, dass es in irgendeinem irdisch-begreiflichen Sinne ist. Doch man darf das Folgende behaupten, und dieses ist zu verstehen: der Mensch ist letztlich das, wofür er sich in sich entschied. Wir sagten früher: das persönliche Selbst ist ein Selbsterzeugtes und Selbstgeborenes zugleich; die Persönlichkeit ist das Kind ihrer Taten; dies ist auch der wahre Kern des Karma-Gedankens sowie aller sonstigen Wiedergeburtslehren. Solche Entscheidung bedeutet zunächst eine Stillstandsgebärde1 im unaufhaltsamen Fluss des Werdens, eine Stillstandsgebärde, die wie die Konstituierung eines Gravitationszentrums in einem kosmischen Nebel wirkt, aus dem sich fortan ein Sonnensystem entwickelt. Nun schließen sich alle Elemente der Seele mehr und mehr um diesen Kern herum. Doch nie ist der Prozess vollendet, es sei denn am Ende des Lebens. Deswegen entscheidet letztlich erst der letzte Sinn, welcher erst am Schlusse offenbar wird; deswegen kann eine Bekehrung in extremis allem vorher Geschehenen einen neuen Sinn geben. Unterwegs aber verläuft alle Entwicklung von persönlicher Entscheidung zu persönlicher Entscheidung, von persönlicher Verantwortung zu persönlicher Verantwortung. Daher die Verurteilung des Zweiflers, des Lauen seitens aller höheren Religionen: wer sich für das Höhere in sich nicht entscheidet, der verscherzt sein Heil. Daher deren Idee einer letzten Verantwortlichkeit des Menschen: nur als Verantwortender existiert er metaphysisch. Daher das Glaubens-Gebot aller höheren Religionen: nur die innere Festlegung, die man eben Glauben heißt, schafft die Entscheidung, welche das Selbst in der Erscheinung ver-wirklicht.

Hiermit hätten wir einen plastischeren und farbigeren Begriff der Selbstverwirklichung gewonnen, als wir ihn bisher besaßen. In allen entscheidenden Zeiten sind die Geschicke der Menschen von Glaubenden bestimmt worden. Dass es hier nicht auf den Inhalt des Glaubens ankommt, beweist nicht allein die Vielfalt solcher, welche gleich gewirkt haben, sondern vor allem die Tatsache, dass die allermeisten Glaubenden, welche Geschichte gemacht haben, Monomane und sehr viele buchstäblich Wahnsinnige waren. Es waren die Tiefe und die Kraft des Glaubens als solche, welche ihnen ihre Macht über die Menschen gab. Dies nun hängt folgendermaßen zusammen. Im Glauben und erst im Glauben wird die Persönlichkeit mit dem, was sie vertritt, identisch und damit dieses zum Ausdrucksmittel ihres ganzen Wesens. Im Glauben werden Vorstellung und Sein, Subjekt und Objekt eins. Damit sammeln sich alle nur möglichen Strahlen, die von einem Selbste ausgehen, in einem Brennpunkt. Und gilt der Glaube diesem Selbste selber, dann, aber dann erst äußert sich dessen ganze magische Kraft. So erklärt es sich, dass schlechthin jeder, welcher an sich glaubt, und sei er der größte Schwindler oder Schuft, leicht Gläubige findet, welche sich zu ihm bekennen, und keiner, welcher an sich selbst in seiner Tiefe zweifelt. Beim Glauben kommt es eben nicht nur auf die Richtigkeit des Geglaubten, sondern sogar auf das subjektive Fürrichtig-Halten dessen, was er vertritt, seitens des Glaubenden verhältnismäßig wenig an: an erster Stelle kommt es darauf an, dass er an sich glaubt. Daher die ungeheure Suggestionskraft, welche Wahnvorstellungen wieder und wieder bewiesen haben: es war in Wahrheit die Suggestionskraft des Glaubens an sich selber derer, welche sie vertraten. Wie ich in Nord-Indien weilte, behauptete eine arme Frau, wie das dort nicht selten geschieht, sie hätte einen Avatar (einen Gott) geboren. Das ganze Städtchen glaubte ihr sofort, und zwar war die Überlegung aller Frauen, welche damals, wie meist, den Glauben propagierten, höchst einfach: ich habe nie behauptet, einen Gott geboren zu haben, warum sollte also Lakshmi es sagen, wenn es nicht wahr wäre? Die Bereitschaft im großen schafft das ungeheure Erlösungsbedürfnis aller Menschen und die tiefe Sehnsucht aller nach dem Wunder. Glaubt einer nur an sich, und besitzt er starke Suggestionskraft, dann ist alles möglich. Dann ist auch die Unechtheit und die Lüge kein absolutes Hindernis zur magischen Wirkung: nur Wirkung im Guten hindert sie.

Kommt es dermaßen wenig auf Wahrheit in wissenschaftlichem Verstande an, dann ist vollends klar, dass es sich bei der Macht der Persönlichkeit allein um das handelt, was wir oben magisch hießen. Es entscheidet absolut das irrationale geistige Sein als Substanz und das irrationale Bekenntnis zu ihm, das man eben Glauben heißt. Und so entzieht sich auch der Weg der Persönlichkeitswerdung so gut wie ganz dem Begreifen im Rahmen rationaler Normen. Dieser Weg ist ein einziges Aufsichnehmen von Risiko, eine einzige Herausforderung des Unvoraussehbaren, eine einzige Überraschung, und zwar nicht allein für andere, sondern auch für die Persönlichkeit selbst. Der Weg der geistigen Persönlichkeit zu ihrer Vollendung verläuft nicht allein, wie oben gezeigt ward, von Tat zu Tat oder von Werk zu Werk, mittels welcher der Schöpferische sich durch Festlegung immer neue Ausgangspunkte schafft: er verläuft von Entschluss zu Entschluss, und deutliche Vorausschau frommt dabei genau nur insoweit, als sie durch Rückblick unbelastet ist. Denn jedes Zurückblicken widerstreitet dem Wesen schöpferischen Ausstrahlens; es wirkt zum mindesten verlangsamend, und Verlangsamung der Fahrt mag, wie beim Radfahren, die Sicherheit des Fahrers gefährden. Selbstbespiegelung aber wirft die Strahlen zurück, so dass diese ihre Kraft einbüßen; daher allein die Verdammung der Eitelkeit, welcher Tugend ja sonst die meisten Annehmlichkeiten dieses Lebens zu danken sind; wer nicht gefallen will, ist selten liebenswürdig. Die Selbstverwirklichung vollzieht sich, noch einmal, ausschließlich mittels der Ausstrahlung; je verschwenderischer diese, desto reicher manifestiert sich das Selbst. Hier gilt das genaue Gegenteil der physikalischen Wahrheit, dass die Verausgabung das Kapital verringert.

Von hier aus wird nun vieles vormals Dunkle klar. Das persönliche Selbst wirkt am Anfang der Entwicklung ähnlich dem unsichtbaren Bauplan, welcher den Aufbau des physischen Organismus vom Ei bis zur Endgestalt regiert. Es ist ein funktionales Zentrum und mag das Führende genannt werden. Später konkretisiert es sich, immer noch außerhalb der Ich-Sphäre, und dann äußert es sich, gleichzeitig oder abwechselnd, in zwei Formen, welche dem Sinne nach nicht zusammenfallen, die jedoch beide sinngerecht sind: als Vorbild und als Führer. Das Vorbild als solches führt überhaupt nicht: im buchstäblichen Sinne des Zeitwortes leuchtet es ein, sofern es überhaupt wirkt. Einem Vorbilde kann man weder folgen noch es nachahmen noch sich ihm willentlich hingeben: einer tieferen Schicht als alles Empirische angehörend, ergreift es, wenn überhaupt, unwillkürlich von innen her, indem sich entweder das geistentsprossene Bild dem Erdgeborenen einbildet, oder aber dieses sich von jenem hinangezogen fühlt. Der seinem ursprünglichen Sinn gemäß verstandene altgriechische Begriff des Enthusiasmus, der Eingottung, gibt den Höchstausdruck dieses Geschehens wohl am besten wieder. Gleichsinnig richtig verstand (und versteht zum Teil noch heute) die griechische Kirche die wahre Bedeutung Christi für jeden Menschen: Er kann nicht nachgeahmt, es kann und soll Seinem Beispiel nicht gefolgt werden, wohl aber verkörpert Christus jedem das Sinnbild seines eigenen höchsten Zieles. Genau so nun bedeuten Eltern, welche das sind, was sie sein sollen, ihren Kindern nicht Führer, sondern unwillkürlich durch den eigenen Geist hindurch wirkende Vorbilder. Vorbild in gleichem Sinne war und ist endlich jeder große Geist, der in der Geschichte fortlebt. Dass es eben sein Bild als Sinnbild ist, nicht seine Tatsächlichkeit, auf die es ankommt (MS, IV), beweist die Tatsache, dass die ganz Großen beinahe allemal nicht so, wie sie tatsächlich als historische Erscheinungen gewesen waren, schöpferisch fortleben, sondern als Mythen, die nur ganz selten mit den Ergebnissen exakter Forschung übereinstimmen, oder genauer, als Gegenstände vieler, sich vielfach widersprechender Mythen. Der Mythos ist eben das Urbild lebendigst-geistiger Wirklichkeit. So konnte ich in Kant, der Sinneserfasser (MS, 188), schreiben: Es ist sinngemäßer, die Tatsachen am Mythos, als diesen an jenen zu berichtigen. Der Urausdruck des Geistes ist überall das Bild (SM, XI). So übt die Ikone auf die meisten stärkere geistige Wirkung aus als der leibhaftige Heilige, welchen nur wenige als solchen erkennen, wenn sie ihm gegenüberstehen.

Bedeutet nun die tatsächliche Wirklichkeit großer Persönlichkeit gar nichts? Sie kann freilich höchste Bedeutung haben, nicht aber im Sinn eines Vorbildes, sondern eines Führers. Des Führers Betätigungsart ist nicht still, geheimnisvoll und unwillkürlich, sondern energiegeladen, zwingend, mitreißend und empirisch nachweisbar. Sie verläuft ganz und gar durch Entschlüsse, Taten, Entscheidungen und Verantwortungen hindurch. Doch auch im Fall des Führers wirkt der tiefste Geist auf für den Verstand geheimnisvolle Art. In seinem Fall ist es nämlich die Entscheidung als solche, und nicht der Erfolg den sie hat, welche magische Kraft ausstrahlt. Wie über Buddha die Erleuchtung kam, da begleiteten diesen Vorgang, so berichtet die Legende, Katastrophen in den Reichen der Natur, der Dämonen, ja sogar der Götter; Ähnliches soll sich ereignet haben, da Jesus den Kreuzestod starb. Diese Mythen geben dem Tatbestande Ausdruck, dass aus der Tiefe mit großer magischer Kraft begabter Persönlichkeit erfolgte Entscheidungen auf alle ausstrahlen, die mit ihr en rapport stehen, und in ihnen verwandte Metamorphosen einleiten. Eine besonders lehrreiche Illustration dieses gesetzmäßigen Vorgangs bietet Adolf Hitler. Wie bei wenigen Rednern der Geschichte war bei ihm, in der Zeit der großen Entscheidungskämpfe, das Wort magisch geladen; wie wenige Volkstribunen stand er en rapport mit dem Unbewussten von Millionen. Damit griffen die Entscheidungen, welche Hitler in sich und für sich getroffen hatte, ganz von selbst auf diese Millionen über, und ein weit größerer Prozentsatz Menschen, als die Überklugen glauben, ist seither wirklich so verwandelt worden, dass sie das Leben anders sehen als vorher, die Probleme anders stellen, in einem neuen Lebensrhythmus schwingen und über neue und neuartige Entschlusskraft verfügen. Ist der Führer einer Gruppe nun wirklich ihr geborener und berufener Führer, dann ist auch er es wirklich, welcher für sie die ihr gemäßen Entscheidungen trifft — denn die seinen strahlen dann auf die anderen aus; dann verantwortet er tatsächlich für alle. Eines solchen Führers Tun und Lassen ist allemal real symbolisch: mit der Hinrichtung eines Rebellen wird Entsprechendes in der Seele aller, die zum Bannkreise des Führers gehören, hingerichtet, durch sein Schöpferisches wird seiner ganzen Gefolgschaft Schöpferisches, soweit vorhanden, geweckt, durch seine Entscheidung für einen Weg wird dieser schließlich für alle zu dem Wege. Dies erklärt das plötzliche Entstehen ganzer Reiche, ganzer Weltreligionen, ganz neuer weltumfassender Lebensformen, welches reflektierender Verstand so schwer begreift, die aber wirklich allemal in unglaublich kurzer Zeit durch die Zusammenarbeit neuer Menschen, von denen niemand früher etwas wusste und die nun für ihre neue Aufgabe von langer Hand vorbereitet scheinen, erwachsen sind.

Liegt nun vom Standpunkt des persönlichen Lebens die Tragik jedes, welcher als Vorbild wirkt, darin, dass nicht seine Tatsächlichkeit, sondern sein Mythos die ungeheure Wirkung ausübt, weswegen sich wenige für den lebendigen Menschen, für sein Kämpfen und Leiden, sonderlich interessieren, so besteht die Tragödie des Führers, zumal des politischen, darin, dass er bewusst verzichten muss, um seine Aufgabe zu erfüllen. Als Führer eines Volkes kann jeder, so reich ausgeschlagen er im übrigen sei, offenbar nur das Führende ausleben, und das ist auf der Ebene des Empirischen immer nur ein geringer und oft unpersönlicher Bruchteil seiner; daher das Symbolische alles dessen, was ein Führer als solcher tut und tun muss, das Zeremoniale und Amtliche seines Auftretens. Weniges von dem allen kann ihm persönlich viel bedeuten, und umgekehrt kann ihm ungeheuer Vieles dessen, was er tun muss, als Menschen nicht liegen. Hieraus folgt denn einmal mehr — jetzt aber in großartiger Symbolik herausgestellt — die letzte Einsamkeit des Geists. Sogar der Mensch, welcher am meisten mit der Gemeinschaft zu tun hat, ist letztlich einsam; desto mehr, als gerade er niemals allein ist. Ja gerade er ist der einsamste von allen Menschen.

1 Das Problem der inneren Entscheidung behandelt auch von meinem heutigen Standpunkt im wesentlichen richtig und vollständig mein 1919 geschriebener Aufsatz Erscheinungswelt und Geistesmacht (jetzt in Philosophie als Kunst abgedruckt); näher kommt meiner heutigen Lösung der dritte Vortrag im Freiheits-Zyklus von Wiedergeburt. Mit dem Problem der Stillstandsgebärde befasst sich der gleichfalls 1919 entstandene Essay Worauf es ankommt (jetzt in Schöpferische Erkenntnis). Über das Problem des Glaubens habe ich schon 1906, in Unsterblichkeit, das von meinem Standpunkt Entscheidende verlautbart.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
VIII. Einsamkeit
© 1998- Schule des Rades
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