Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

X. Freiheit

Ideal der Freiheit

Soviel über die historische Ansicht des Problems. Doch alles nur mögliche Historische liegt als individuelle Möglichkeit in jeder Seele vorgebildet. Nur deswegen kann der Einzelne von sich aus eine Tradition verleugnen oder sich in eine neue Tradition hineinleben, so dass sie tatsächlich zu der seinen wird, gleich wie dies vom neuen Glauben gilt, zu dem sich einer aufrichtig bekehrt. Heute nun verleugnen außerordentlich viele Deutsche, die sich sehr wohl weiter zu ihm bekennen könnten, das traditionelle abendländische Freiheitsideal. Wie hängt das, zusammen?

Die nächstliegende und einfachste Antwort ist hier, wie in der Regel, die im Großen zusammentreffendste: von Natur aus will kaum ein Mensch frei sein. Nur das Gebot der Gemeinschaft, welcher er angehört, weckt diesen Willen in ihm und erhält ihn lebendig. Hört jener Druck nun auf, dann entspannt sich auch dieser. Ich zitiere hier am besten einen Abschnitt dessen, was ich 1925 in dem Schlussvortrag der Darmstädter Weisheitstagung Gesetz und Freiheit (abgedruckt in Wiedergeburt) über den ursprünglichen Widerwillen gegen die Freiheit ausführte:

Jedes Kind will gehorchen; das schlimme Kind ist das Kunstprodukt der Unfähigkeit seiner Erzieher. Nur der Allerüberlegenste verträgt ein Leben außerhalb des Rahmens eines bestimmte Regelung bedingenden Berufs. Beinahe jeder braucht eine Stellung, auf die er sich berufen möge; daher das groteske Wachsen des Selbstbewusstseins mit Titel und Rang; er will im Namen von etwas, was er nicht selbst ist, also unfrei handeln können. Oder er will im Namen eines Vorgesetzten reden, in welchem Fall dann der persönlich Ängstlichste so oft und ach! so gern den Helden spielt. Oder aber er stellt, als Dichter, das, was er wirklich ist und denkt, in Form erfundener Gestalten heraus, während kaum eine Autobiographie je wirklichkeitsgemäß war. Oder aber er will durchaus das Recht auf seiner Seite haben. Auch dies beweist nichts anderes als Willen zur Unfreiheit — bei dem zweifelhaften Werte alles positiven Rechts ist es dem Überlegenen innerlich gleich, ob er objektiv recht hat oder nicht. Oder aber er folgt der Sitte, der öffentlichen Meinung. Dem gleichen Phänomen begegnen wir auf religiösem Gebiet. Kein abendländischer Religionsstifter hat, wie Harnack einmal feststellte, im eigenen Namen zu reden gewagt; jeder von ihnen berief sich auf eine feste Autorität. Ja vielleicht hat es unter Religionsstiftern überhaupt nur einen gegeben, dem es mit der Selbstbestimmung und -verantwortung ganz ernst war: Buddha. Aber charakteristischerweise sah letzterer im Leben einzig Leiden und nur eine mögliche Erlösung davon: das individuelle Verlöschen. Mit dem Willen zur Freiheit im Sinn von Selbstverantwortung ist es also nachweislich schlecht bestellt. Dies gilt extrem auf dem Gebiet der Politik. Beweis dessen ist allein schon das über die Maßen undeutliche Bild, welches das Lied Freiheit, die ich meine von dieser entwirft: es scheint wie absichtlich dem vorbeugen zu wollen, dass sie aus dem Mythos je zur Wirklichkeit würde. Freiheit der Presse, des Kannegießerns usw. mag einer ehrlich anstreben — ganz frei sein will kaum jemand. Emanzipierte Klassen, wie heute das Proletariat, binden sich unverzüglich an sehr viel festere Programme, als die traditionellen Hüter der Autorität sie jemals aufstellten, und nehmen sie in einem Grade ernst, welcher allein innere Unfreiheit beweist. Innere Freiheit hat nämlich ihren untrüglichen Exponenten am Humor; wer über das, was er vertritt nicht lachen kann, ist subaltern. So versiegte auch der ursprüngliche Freiheitsdrang der Protestanten gar bald im Kleinkram dogmatischer Spitzfindigkeiten, über welche die innerlich sichere katholische Kirche längst erhaben war. Und nicht besser steht es mit denn Willen zur Freiheit im Sinne schöpferischer Betätigung. Unter Tausenden verlangt es nicht einen wirklich darnach; gerade die verschriene mechanische Arbeit, die nur ein Minimum an Initiative erfordert, ist der meisten Ideal. Und will etwa der typische Forscher wirklich frei sein? Er sucht feste Wahrheiten, psychologisch betrachtet, vor allem dazu, um diese als bindende Autoritäten anerkennen zu können; nur ganz wenige verstanden ihr Wahrheitssuchen je im Sinne Lessings. Insofern bedeuten alle Theologien, Jurisprudenzen, okkultistischen und sonstigen Theorien Sicherungen der Feigheit, bedeutet das meiste Denken recht eigentlich Flucht vor der Freiheit; es sucht nach Rückversicherung im Beweis. Feigheit in diesem Verstand ist tatsächlich historische Grundtatsache. Deshalb vor allem genügt erfahrungsgemäß persönlicher Mut allein schon, um sich durchzusetzen; darum schaden dem bedeutenden Menschen von Mut die größten Fehler nie ernstlich, solange er nur an sich glaubt. Die Krone des Willens zur Unfreiheit bezeichnet der Gnadenglaube. Dieser legt, gemäß Felix Weltschs1 guter Fassung, den Nachdruck auf die metaphysische Geborgenheit im Gegensatz zum metaphysischen Mut, als welcher der Wille zur Freiheit wesentlich ist; denn deren Begriff hat nur Sinn, solange etwas unentschieden ist und zu entscheiden bleibt. Dem Gnadengläubigen ist aller Wert schon verwirklicht; man braucht ihn nur hinzunehmen, nur mit sich geschehen zu lassen. Wer nun in diesem Sinn die Gnade will, der will Erlösung vom Suchen, will endgültigen Frieden und folglich die Unfreiheit. Der hat sich, psychologisch betrachtet, für die kindliche Einstellung entschieden.

Unfreiheit entspricht sonach den Urinstinkten weit besser als die Freiheit. Und dies hat noch andere Ursachen, als die bisher aufgezählten. Im gleichen Tagungsvortrag hieß es weiter:

Es ist nicht notwendig, das Geschehen auf das persönliche Sinneszentrum zurückzubeziehen und durch persönliche Sinngebung Verantwortung zu übernehmen. Irgendwie läuft das Geschehen auf alle Fälle ab, und es ist freilich einfacher, sich dessen Gefälle zu überlassen. Und nicht nur einfacher: es ist vor allem sehr viel weniger anstrengend. Nichts erfordert größere Anspannung, als alle vorhandenen Kräfte in sich zu sammeln und sie alsdann verdichtet in bestimmter Richtung auszustrahlen. Das ist keine metaphysische Behauptung, sondern eine Erfahrungstatsache. Nichts verlangt ferner größeren Mut, denn wer die Freiheit will, will eben damit das Risiko. Die Freiheit als reines Aktualitätsproblem steht, und fällt mit der Ungewissheit des Ausgangs. Freilich involviert der Gnadenglaube, theoretisch beurteilt, das gleiche Risiko, aber dessen Bewusstsein wird dadurch praktisch annulliert, dass wer sich zur Gnade bekennt, von vornherein an eine weise und sichere Führung glaubt, somit das faktische Risiko durch die Voraussetzung der Geborgenheit für sein Bewusstsein aufhebt. Dass Freiheit wesentlich Wille zum Risiko ist, lässt sich durch ein historisches Beispiel unmittelbar beweisen. Freiheit besteht, wie wir sahen, in neuer Sinngebung; folglich muss sie, wo sie sich der Welt zukehrt, ihren Exponenten an deren Verwandlung haben. Es geht nun nachweislich die meiste und größte Verwandlung der Welt im Westen auf die Lehre Johannes Calvins zurück. Diese ist, theoretisch betrachtet, phantastisch widerspruchsvoll. Der Absicht nach war sie eine reine Gnadenlehre, faktisch aber forderte sie die äußerste persönliche Initiative, denn sie behauptete weiter, dass die Gnadenwahl sich am Erfolg erweist. Damit machte sie den Willen zum Risiko zum Angelpunkte alles, auch des religiösen Lebens; und die historische Wirkung war die, dass die direkt und indirekt calvinisch inspirierte Menschheit von allen aller Zeiten ihre Freiheit in der Welt irdischen und erdhaften Geschehens am stärksten bewiesen hat. Alle moderne Beherrschung der Erde durch den Geist geht auf Calvins Impuls zurück. Wogegen die katholische Menschheit, deren Prinzip Autoritätsglaube ist, ganz wesentlich nicht weltgewaltig, nicht, fortschreitend ist. Dass es sich nun bei der Bestimmung der Freiheit als Willens zum Risiko um kein Präjudiz zugunsten des modernen Fortschritts handelt, erweist sich daraus, dass die Verhältnisse beim Lassen, zum Zweck des Freiwerdens von der Welt, genau so liegen wie beim Tun. Erstens bedarf es hier noch größerer Anstrengung, noch energischeren Schwimmens gegen den natürlichen Strom des Lebens. Dann aber hängt der Erfolg auch hier absolut vom Bejahen der Unsicherheit ab. Einen Teil dieser Frage behandelte schon der Anfang dieses Vortrags. Das Weitere ergibt sich aus dem indischen Leitspruch: Schaffe unentwegt, doch gib jeden Augenblick die Früchte deines Schaffens preis, der indischen Lehre, dass der Befreite über alle Bindung — auch die einer bestimmten Lehre — hinaus ist, und der indischen Praxis, das Ziel als wesentlich ungewiss hinzustellen, unermeßliche Geduld zu fordern (die aber nicht im bloßen Harren der Gnade besteht!), von der indischen Meinung völlig abgesehen, dass Befreiung vollkommenes Lassen alles Irdischen voraussetzt, was sicherlich schwerer ist als alles nur mögliche Tun.

Näheres und Weiteres darüber, was Freiheit, erkenntnistheoretisch geurteilt, ist und nicht ist, wird der Leser in dem Zusammenhange finden, welchem obige Zitate entnommen sind. Hier brauchen wir nur dies eine festzuhalten, wie wenig es, von der Natur des Menschen her geurteilt, zu verwundern ist, wenn eine Gruppe oder ein Volk einmal auf bisher genossene Freiheit verzichtet.

Unsere noch so kurzen erkenntniskritischen Betrachtungen erklären implizite aber auch, warum nicht sehr hochstehende Menschen, welche Freiheitsrechte besitzen, selten auf anderes bedacht scheinen, als darauf, sie zu missbrauchen und damit deren Idee zu diskreditieren. Wenn es der stetigen Anstrengung bedarf, um Freiheit zu behaupten, dann kann es gar nicht anders sein, als dass des Menschen instinktives Wesen in erster Linie darnach trachtet, die Freiheitsbehauptung gemäß dem Gesetz des geringsten Kraftmaßes zu betätigen — denn alles instinktive Wesen ist träge. Praktisch heißt dies, dass der Mensch alle Kraft dafür einsetzt, für Freiheitsrechte zu kämpfen, nicht dafür, innere Freiheit zu beweisen. Indem der Mensch nun überhaupt für Rechte kämpft, stellt er sein Geistiges in den Dienst der Gana; im zweiten Kapitel sahen wir ja, dass die Ideen von Besitz und Recht nicht im Geist, sondern in der Unterwelt ihren Grund haben. Diese nun lebt ihr Eigenleben, dessen Eigengesetzen gemäß, ganz von selber aus, ohne Anstrengung, unermüdlich, so wie das Herz ohne je zu ermüden schlägt. Deswegen ist der Kampf um Freiheitsrechte das wenigst Anstrengende, was freiem Willen überhaupt zugemutet werden kann. Hier ist jeder niedere Mensch ohne weiteres bereit, sogar scheinbar sehr große Strapazen auf sich zu nehmen; er ist bereit dazu, weil diese eben in Wahrheit keine sind, denn die Gana drängt ihn dazu, er indes gibt ihrem Drang nur nach. Indern hier aber der Initiative-fähige Wille in den Dienst der Gana tritt, gewinnt er auch Teil an deren Urblindheit. Daher die Sturheit und Unbelehrbarkeit der meisten, die für ihr Recht kämpfen. So schlechte Menschen, wie dies abstrakter Betrachtung vorkommen mag, waren weder die Deutschen, welche für die Idee der Demokratie die nationale Würde preisgaben, noch die, welche Preußens Rechte gegen das Reich verteidigten, und ob letzteres darob zerfiel: Überantwortung an die Gana hatte sie blind gemacht. Aus der gleichen Ursache lassen sich Fanatiker ihres Rechtes lieber totschlagen, als dass sie nachgeben: der Gana bedeutet der Tod nichts, nur Richtungsänderung bedroht ihre Identität. Letztinstanzlich kämpfen Rechtskämpfer niemals für Freiheit, sondern um Besitz, und das am rechtmäßigen Besitz psychologisch wesentliche ist, dass er der freien Verfügung entzogen ist. Hier bietet die Liebe die instruktivsten Beispiele. Sicher hat die ungeheure Strenge der Gesetze, welche die Treue der Frau sichern sollen, ihr Grundmotiv in dem Freibleibenden und Unverbindlichen jeder Liebe, welcher kein Philister innerlich gewachsen ist. Solches Risiko demoralisiert ihn. Bei der ehelichen Treue spielen gewiss auch andere Ursachen mit. Doch wenn es in manchen Kreisen schon für ungeheuerlich gilt, eine Verlobung abzubrechen, wenn in anderen die Normen für freies Zusammenleben (Verhältnisse) noch strenger sind, als die für die Ehe gültigen, so kann dies nur mit der Angst des Mannes vor der Freiheit zusammenhängen. Ich spreche ausdrücklich vom Manne, denn jede echte Frau weiß zu tief, was liebe ist, um deren Unzuverlässiges nicht zu verstehen, selbst, wenn sie unter ihm leidet. Deswegen überwächst sich bei ihr ein schweres Liebeserlebnis in der Regel leichter als beim Manne.

Indem wir das Problem von Besitz und Recht in das Freiheitsproblem mithineinbezogen, haben wir auch eine weitere Koordinate zum Verständnis dieser Zeit hinzugewonnen. Was die liberalistische Welt Freiheit hieß, war zum überwiegenden Teil der Besitz von Rechten und Vorrechten; um diese ging der wahre Kampf; persönlich-geistige Ziele spielten nur eine sehr geringe Rolle, die Frage innerlichen Frei-Seins blieb ganz ungestellt. Und Ähnliches gilt offenbar auch von den meisten sogenannten Freiheitskriegen. Selbstverständlich gilt es nicht von solchen, die eine große, noch nicht verwirklichte Idee unter schwersten Opfern zu verwirklichen unternehmen: zu diesen bedarf es der schöpferischen Einbildungskraft, und solche eignet allein dem Geist. Wohl aber gilt es von allen, deren Wesen darin besteht, dass sie Besitzrecht verteidigen. Nur deswegen hat man überhaupt darauf kommen können, Bienen und Ameisen und Hornissen, die gegen ihre Behausung Bedrohende vorgehen, Freiheitskämpfer zu heißen. Auch wenn wilde Tiere aus ihrem Käfig hinausstreben, ist es nicht um der Freiheit willen, sondern weil sie einen anderen Lebensraum gewohnt sind. Eben deswegen gewöhnen sich fast alle schließlich an die Gefangenschaft.

Die übliche Form, die Frage der Freiheit zu stellen, ist also offensichtlich falsch. Dass der intellektbegabte Mensch allemal zwischen verschiedenen Entscheidungen wählen kann und insofern, indeterminiert ist, steht überhaupt nicht in Frage; diese Tatsache besteht als eins seiner wichtigsten zoologischen Differentialkennzeichen. Doch nicht auf solche Wahlfreiheit bezieht sich jenes Freiheitsideal, für dessen Idee und Verwirklichung im Leben das Menschengeschlecht, seitdem es geistig erwacht ist, durch alle Rückschläge hindurch immer wieder gekämpft hat; für selbstverständlich Gegebenes kämpft keiner mit Inbrunst; auch dort tut er es nicht, wo zufällige Umstände sie an normaler Äußerung hindern. Ebensowenig deckt sich das Freiheitsideal mit der Vorstellung von Ungebundenheit oder Gesetzlosigkeit. Gesetzlosigkeit und Ungebundenheit widerstreiten der Weltordnung; wo sie zeitweilig möglich sind, dort enden sie gar bald mit der Verderbnis dessen, der sich auf sie einstellte; im übrigen ist freies Leben und Wirken auf seine Art ein genau so gesetzmäßiges Geschehen wie alles andere.2 Das Ideal der Freiheit betrifft ein gänzlich und wesentlich anderes: die Zuordnung aller Lebensäußerungen und -umstände auf das im Menschen, was in dem wesentlichen Sinne frei ist, in welchem jeder Wesens-bewusste Mensch das Wort unwillkürlich versteht, so dass dieses Freie alle Gegebenheit letztlich bestimmt; es betrifft also weder ein Recht noch eine funktionale Möglichkeit, sondern die reale Vorherrschaft eines bestimmten, durchaus konkreten und substantiellen Teils des Menschenwesens, welcher im Unterschied von anderen Teilen das ist, was man frei heißt. Die Zuordnung auf diesen Teil geschieht mittels jener Wahl- oder Willensfreiheit (auf die genaue Definition kommt es hier nicht an), in welcher die meisten Philosophen das Wesen der Freiheit sehen. Und zwar ist letztere funktionale Freiheit hierbei so sehr nur Mittel, dass es für den Kern der Sache gleichgültig ist, ob sie echte Autonomie ausdrückt oder nur die Möglichkeit verschiedenen Reagierens auf gleiche Reize, so dass letztlich der Reiz bestimmt: nur Nicht-Festgelegtheit überhaupt, also Indeterminiertheit im klassischen Wortverstande ist vonnöten, damit das Mittel im Sinn der einzig wahren Freiheit funktioniere. Das Eigentliche an der Freiheit ist also nicht die Möglichkeit, frei zu wählen, auch die nicht, frei zu handeln: sie ist die Möglichkeit, frei zu sein. Diese aber ergibt sich aus dem vitalen Sinn, welchen die funktionale Freiheit — im Sinn von Wahlfreiheit, Zustimmungsfreiheit, usw., in der Erkenntnistheoretiker so oft ihr Ganzes sehen — hat oder haben kann. Dieser vitale Sinn besteht darin, dass der Mensch fähig ist, den Akzent in sich und außer sich so oder anders zu legen, und dass es sich bei solcher Akzentlegung um keinen formalen oder bloß funktionalen, sondern um einen real schöpferischen Vorgang handelt. Je nach der Akzentlage erscheint das Nicht-Ich nicht nur verschieden — es wird realiter anders. Damit erweist sich denn die Freiheit an erster Stelle als Fähigkeit zu schöpferischer Initiative. Nicht auf dem auch-anders-Können gegenüber der Festgelegtheit von Reflexbogen und Instinkthandlung liegt bei ihr der Nachdruck, sondern auf der Möglichkeit, aus innerer Indifferenz heraus feste Entscheidungen zu treffen, welche Entscheidungen fortan als Tatsachen und Kräfte dem Weltgeschehen einverleibt bleiben.

Von hier aus erscheint wohl vollkommen klar, inwiefern alle fortschrittliche Veränderung der Welt durch den Menschen an seine Freiheit gebunden ist: in seiner angeborenen Natur liegt keine andere Umgestaltung der Umwelt vorgebildet, als solche jedes Tier auf seine Weise vornimmt. Von hier aus erscheint klar, warum es vom Menschen selbst abhängt, ob er verinnerlicht oder veräußerlicht. Vor allem aber erscheint von hier aus — und zwar wohl zum ersten Male — verstandesgemäß vollkommen deutlich, inwiefern Freiheit nicht nur Mittel und Weg, sondern auch Ziel sein kann. Schauen wir unsere Erkenntnis der Vielschichtigkeit und Verschiedengerichtetheit der so komplexen Menschennatur mit den Tatsachen zusammen, dass der Mensch den Akzent in sich so oder anders legen kann, und dass die Wirklichkeit der Lage entsprechend anders nicht nur erscheint, sondern wird, dann ergibt sich das Folgende. Legt der Mensch den Nachdruck auf seine Mineralität, dann versteinert er; legt er ihn auf seine Reptilität, dann verschlangt oder verkrötet er. Legt er ihn auf seine Gana, dann unterstellt er sich damit ganz deren Norm, dann begibt er sich seiner Freiheit, das Gesetz der blinden Trägheit beherrscht ihn zuletzt ganz und gar. Gleichsinnig kann er in seiner Sensibilität, seiner Emotivität, seiner Intellektualität sein reales Lebenszentrum haben, und entsprechend bestimmen ihn vorherrschend oder letztlich die Eigen-Normen der betreffenden Sphären. Er kann buchstäblich seine Seele verlieren, wenn er sich, in der Bildersprache des Mittelalters ausgedrückt, dem Teufel verschreibt, er kann buchstäblich bei Lebzeiten seinen Geist aufgeben, wenn er sich ganz dem Nicht-Ich überantwortet, anstatt es in sich hineinzubeziehen. Will der Mensch nun in dem wesentlichen Sinne frei werden und als Ergebnis sein, wie solches Jedes intimer Freiheitswille fordert, dann muss er allen Nachdruck auf das Freie in sich selber legen. Dieses Freie nun aber ist rein geistiger Art. Es ist das einsame Selbst, das wir in Einsamkeit, soweit es der dortige Zusammenhang ermöglichte, bereits bestimmten. Dieser lebendige Geist, des Menschen metaphysischer Wesenskern, ist weder Verstand noch Vernunft noch irgendeine besondere Funktion: er ist Substanz. Der Intellekt gehört ganz und gar der Erdsphäre an, genau wie der Instinkt; er ist Selbsterhaltungsmittel des erdverhafteten Lebens (SM, IX). Die Vernunft kann einen Aspekt des Geistes ausdrücken und auswirken, doch zusammen fällt sie mit letzterem nicht. Da alle Erkenntnismittel des Menschen erdgeboren sind, so ist der Geist, welcher wesentlich nicht irdisch ist, überhaupt nicht zu erklären, denn alle Erklärung bedeutet Zurückführung. Seinerseits offenbart er sich, und die Offenbarung muss vom Menschen unbefangen hin- und angenommen werden — andererseits aber wird jedem, der sich nicht willkürlich gegen sie absperrt, die erforderliche Offenbarung zuteil, denn schlechthin jeder Mensch ist des Geistes teilhaftig, und meist in höherem Grad als er es selber weiß. Nur dadurch, dass das Unbewusste mit Geistigem kommuniziert, von dem das bewusste Ich nichts weiß, lassen sich plötzliche Bekehrungen zum Geist, in welcher Form auch immer, überhaupt erklären. Der Geist aber ist, noch einmal, keine Funktion und keine Gabe, sondern Substanz; ja, er ist das im wahren Wortsinn Substantiellste, was im Menschen lebt. Deswegen hat er Eigenschaften, er ist selber keine. Man meditiere doch das traditionelle Bild Gottes in seinen verschiedenen Abarten: Er ist das eigentliche Urbild des Geists. Kann der Mensch nun Gottes innewerden, so kann er’s erst recht des Geistes, der eine Gegebenheit seines Normalbewusstseins ist. Und er kann seiner grundsätzlich leichter im eigentlichen Verstande innewerden als irgendeines Nicht-Ich, denn der Geist ist es, auf welchen er als Subjekt unwillkürlich alles und jedes bezieht. Erklärlicher wird der Geist durch diese Überlegung mitnichten, im Gegenteil: als letzte Instanz einerseits und andererseits als irrationale Wirklichkeit erkannt, ist er nun grundsätzlich als unerklärlich und undefinierbar erwiesen, mit welcher Erkenntnis über alle Philosophien und Theologien, welche den Geist so oder anders definieren, als oberflächlichen Belanglosigkeiten der Stab gebrochen ist.3 Man kann des Geists nur innewerden und seine erfassbaren Eigenschaften beschreiben. Eine von dessen wichtigsten aber ist die Freiheit.

Doch kehren wir zunächst zum Problem des Widerwillens gegen die Freiheit zurück. Nach allem Vorhergehenden sollte jetzt ohne weiteres einleuchten, wieso der Mensch, der mit seinem tiefsten Grund nach Freiheit strebt, mit allen anderen Schichten seines Wesens doch nichts oder nur wenig von ihr wissen will und warum er so leicht und gern auf sie verzichtet, wo er sie hat und damit faktisch unfrei wird. Zunächst muss er sich der Gana-Bestimmtheit entringen, und das ist mühsam. Dann muss er die Freiheit vorstellen und wollen, auf dass der Akzent in ihm sich auf sie hin verschiebe — und das erfordert Anstrengung. Ferner muss er an seine Freiheit glauben, damit die Vorstellung auf das ganze Unbewusste einwirke und die tiefgreifenden Wandlungsprozesse in ihm einleite, deren es zum Freiwerden bedarf — das aber ist noch anstrengender. Endlich setzt der, welcher den Nachdruck auf seine Freiheit legt, damit seine eigene Unbedingtheit, welche vollkommene Verantwortung impliziert — doch nur der sehr Starke trägt Verantwortung freudig. Und nicht minder sollte jetzt einleuchten, warum der Mensch die Freiheit, welche er hat, aus ursprünglicher Neigung lieber missbraucht als richtig anwendet. Letzteres vermag er nur in fortwährender Selbstanspannung und Selbstkontrolle. Freiheit ist ja eben gerade nicht Losgelöstheit und Unverantwortlichkeit und Nachgeben der eigenen Neigung: vielmehr bedeutet letzteres ein Kapitulieren des freien Geistes vor der trägen Gana. Daher beinahe alle negativen Erscheinungen der liberalistischen Ära, die sich beim weichen und labilen Deutschen natürlich viel auffälliger geäußert haben als bei fester gefügten Völkern. Der typische Deutsche glaubt seine Freiheit zu wahren, indem er eigensinnig, eigenbrötlerisch ist, indem er stur auf seinem Standpunkt beharrt, für seine verbrieften Rechte zänkisch streitet, seine Ansichten blind verteidigt, seiner jeweiligen Stimmung hemmungslos nachgibt, das Große einem kleinen Teile opfert, mit dem er sich gerade identifiziert: in allen solchen Fällen nutzt er bloß seine formelle Wahl- und Entscheidungsfreiheit aus, um seiner Gana ihren Willen zu tun. Daher die beispiellose moralische Schwäche, welche dieser Deutschentypus beweist, sobald er sich echter Initiative gegenübersieht: dann fällt er unbesehens um, passt er sich restlos an, fügt er sich widerstandslos dem Druck und Zwang — lauter typische Antworten der Initiative-unfähigen Unterwelt.

Im Gegensatz zu dem, was so viele behaupten und glauben, ist es also in keiner Weise verwunderlich, dass bei einem Umbruch, wo die Volksschichten alter Kulturtradition ihre vorbildliche Bedeutung verlieren — zum großen Teil, weil sie derselben tatsächlich, kulturell und biologisch, verlustig gegangen sind —, Verzicht auf Freiheit und Selbstbestimmung zur Parole wird. Dort, wo keine echte Selbstbestimmung vorliegt, wo Freiheitsrechte lediglich dazu dienen, Gananeigungen zu befriedigen, liegt tatsächlich das nächste Heil in einer Ordnung, deren Hauptziel die Disziplinierung der Gana ist. Das nächste, aber nicht das dauernde und letztentscheidende. Alle Geschichte beweist vielmehr, dass das Freiheitsideal das eine unsterbliche Ideal des Menschenwesens ist; keine Geschichtskonjunktur hat es je auf lange geschwächt, geschweige denn entwurzelt. Gleich wie beim Tode jedes französischen Königs gerufen wurde: le roi est mort, vive le roi!, so wird das Ende der traditionellen Formen von Freiheit dann allein einen positiven Sinn gewinnen, wenn aus diesem Tode neue Freiheit sprießt. Und nur wenn diese neue Freiheit eine Freiheit höherer Art ist, wird die Verjüngung, die wir durch Rückzug auf die Natur erleben (A, II, 1, NW, 1, RM, I), einen Fortschritt einleiten.

1 Felix Weltsch, Freiheit und Gnade (München, Kurt Wolff Verlag).
2 Alle Gedankengänge, die wir hier nur berühren oder skizzieren, sind in meinem in Wiedergeburt abgedruckten drei Vorträgen der Darmstädter Tagung des Jahres 1925, betitelt Gesetz und Freiheit, genau ausgeführt worden. Auf sie verweise ich hiermit, zumal bezüglich dessen, dass auch die Auswirkung von Freiheit allemal ein gesetzmäßig verlaufender Prozess ist.
3 Einer der wenigen ernstzunehmenden Philosophen dieser Zeit ist Nikolai Berdjajew, denn als tiefreligiöser Mensch weiß er erlebnismäßig vom Geist. Aber auch bei ihm beeinträchtigt das Bestreben, den Geist zu definieren, den Erkenntniswert seiner Gedanken. So tief er die Freiheit erlebnismäßig versteht: als Denker geht er von griechisch-christlicher Dogmatik aus, und niemand hat heute mehr ein erkenntnismäßiges Recht, ein historisches Dogma als letzte Instanz anzuerkennen. Überdies ist er denkerisch und kritisch auch nicht annähernd so begabt, wie als religiös Erlebender. In seiner letzten Schrift Ich und die Welt der Objekte (die seither übrigens auch französisch unter dem Titel Cinq méditations sur l’existence, Paris 1936, éditions Montaigne, erschienen ist), in welcher Schrift Berdjajew überraschenderweise seine Weltanschauung in die Sphäre der Existentialphilosophie hineinzubeziehen versucht, tritt letzterer Umstand manchmal geradezu peinlich in Erscheinung.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
X. Freiheit
© 1998- Schule des Rades
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