Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

XI. Das Leben als Kunst

Persönlicher Stil

Nunmehr können wir, ohne Missverstehen befürchten zu müssen, die diplomatische Kunst auf die Ebene des Lebens als Kunst hinaufheben, welche wir früher als die Ebene des eigentlichen Menschenlebens bestimmt hatten. Echte Diplomatie besteht nicht im klugen Abwägen von Interessen, Wünschen und Worten, sondern in der spontanen Fähigkeit, von der Synthesis des eigenen Menschentums her andere Synthesen gleicher Ordnung richtig zu sehen, zu verstehen und entsprechend zu behandeln. Diese Fähigkeit ist rein positiver Artung. Dass sie das ist, beweist die eine Erwägung, dass sie ohne Liebe zum Mitmenschen niemals Erfolg hat. Denn wenn schon jedes Tier unmittelbar auf Sympathie, Antipathie und Gleichgültigkeit, auf Mut und Furcht reagiert, so gilt Gleiches erst recht zwar nicht vom bewussten Ich, wohl aber vom letztentscheidenden Unbewussten jedes Menschen. Weil dem so ist, deswegen sind große Diplomaten so selten, sind solche, wo vorhanden, beinahe immer erfolgreich. Bekanntlich flößte Bismarck allen Staatsoberhäuptern an erster Stelle Vertrauen ein, wurde Talleyrand von allen Machthabern Frankreichs, die einander ablösten, trotz aller anfänglicher Bedenken mit der Betreuung von dessen Interessen betraut: beide waren, obschon in bezug auf beinahe alle Einzelfälle Menschenverächter, in tiefster Seele Menschenfreunde, nur aus sehr großer innerer Distanz heraus. Es ist nicht richtig, dass Bismarck nur Deutschland, Talleyrand nur Frankreich geliebt hätte. Meister der Diplomatie konnten beide sein, weil sie unwillkürlich das nationale Du zum nationalen Ich hinzunahmen und in der Nation auch deren einzelne Vertreter bejahten. Deswegen schenkte Bismarck recht eigentlich Frankreich sein Kolonialreich, gewann Talleyrand so viel Verlorenes zurück: die Sieger über Napoleon fühlten sich ihrerseits in ihrem Dasein bejaht und so konnten sie wieder bejahen und neuaufbauen helfen. Man braucht nur dieser zwei Meister zu gedenken, um zu verstehen, in wie niedagewesenem Grade Stümperei und Stumpfheit in Versailles zum Ausdruck kam und weiter, dass geborene echte Diplomaten ganz unentbehrlich sind im ersprießlichen Verkehr von Volk zu Volk. Eben weil dem so ist, haben sich Nur-Soldaten zu aller Zeit als die schlechtesten, weil verständnislosesten Regenten erwiesen.

Indem wir nun das Wort Liebe unseren bisherigen Bestimmungen des Vertreters der social intelligence hinzufügten, haben wir die wohl tragfähigste Brücke zum Verständnis dessen gebaut, dass es sich bei der Kunst des Lebens um kein von außen-her, keine äußerliche Formung, kein Spiel im leichtfertigen Verstand, schon gar keinen Schwindel, sondern um die eigenste Ebene und Ausdrucksform des Menschenlebens in seiner ganzen Tiefe handelt. Wesentlich ist der Mensch jene Synthese des schier unendlich Vielfältigen und Widerspruchsvollen, welche in Einklang zu bringen und zu erhalten auf ihrer besonderen Ebene die Aufgabe aller echten Diplomatie ist. Und der bestimmende und letztentscheidende Kern dieser Synthese ist der Sinn des jeweiligen persönlichen Lebens in seiner Ganzheit. Also des jeweiligen persönlichen Schicksals im Unterschied vom unpersönlichen Geschick (SM, V). Also auch der Stellung jeweiligen persönlichen Schicksals im Zusammenhang des Gesamtkosmos. Denken wir nun an die Gedankengänge von Einsamkeit zurück. Für sich ist jeder als Persönlichkeit letztinstanzlich einsam. Doch diese seine letzte Einsamkeit setzt andererseits Beziehung zur ganzen Welt. Sie ist der letztmögliche Schnittpunkt aller Koordinaten, die seine Stellung im Kosmos bestimmen, von ihm her sowohl als auf ihn hin; sie ist recht eigentlich das Tor von und zu der Welt des chinesischen Familienheims, zugleich aber auch der letztmögliche persönliche Ausgangspunkt für ihn zur transsubjektiven inneren Geisteswelt. Und nur insofern ist jeder einsame Einzige, in konfuzianischer Sprache, Maß und Mitte, oder in derjenigen meiner Betrachtungen in Spannung und Rhythmus (W, A, 1, 2) die Angel der Welt, so eng oder einseitig er im übrigen sei.

In diesem Einsamen, das zugleich das Freie ist, zugleich der schöpferische Sinn aller nur möglichen persönlichen Tatbestände, liegt jedes Menschen eigentlicher Ausgangsort. Direkt von ihm her besteht andererseits der Zugang zur Welt. Doch da das einsame Selbst rein geistig ist, kann seine Ebene unmöglich diejenige der Natur sein. Sie kann nur die der Kunst in dem weiten und tiefen Sinne sein, den wir ihr zuerteilt haben. Da ist denn klar, dass jede andere Auffassung des Lebens und seiner möglichen Führung zur Stümperei, zu Verbildung, zu Unglück und Zerstörung führen muss. Wer da nicht über seinem empirischen Leben steht, kann überhaupt kein persönliches Leben führen. Er kann sein Selbst gar nicht durchsetzen im Chaos des Nicht-Ich, das andererseits unablöslich zu ihm gehört. Er kann das Unmenschliche nicht vermenschlichen, das kosmisch Gefügte nicht verpersönlichen, das Gleichgültig-Allgemeingültige nicht seinem intimen Leben einbilden. Und damit kann er das Gebot, werde, der du bist, unmöglich erfüllen. Eben das besagt dieses Gebot: alles äußerlich Zugehörige für sich erobern, in sich hineinbeziehen, mit seinem Geist und Sinn durchseelen. Und nun erfassen wir die ganze positive Bedeutung jener überpersönlich fundierten, als Normen geltenden und wirkenden Lebensformen, deren Rudiment und Entartung die falsche und starre Konvention darstellt. Genau wie das Leben als Natur für weite Zusammenhänge gültigen Naturgesetzen folgt, die natürlich von Typus zu Typus, von Stadium zu Stadium andere sind, genau so hat auch das Leben als Kunst spezifische Normen. Doch wo es sich um echte, höherem Leben wirklich gemäße Normen handelt, bedrücken diese nicht, sondern sie befreien. Sie befreien in dreierlei Hinsicht.

Erstens, indem sie den Einzelnen in seinem Bemühen unterstützen, das Unterpersönliche in sich als Element in die Synthese des rein persönlich Bedingten hineinzubeziehen, so dass jeder Sprengung der Persönlichkeit durch Ausbrechen von Dämonen vorgebeugt wird.
Zweitens, indem sie den normalen Weg der Freiheit selbst bestimmen; wir sahen ja schon früher, dass Freiheit nie Gesetzlosigkeit bedeutet (W, I, D, 1).
Drittens und vor allem, indem sie alles Leben dem Ideal der Schönheit zuordnet. Dieses Ideal, welches mit dem der Vollendung zusammenfällt, ist der natürliche Leitstern jeder organischen Entwicklung.

Es gibt kein vollausgebildetes Tier, welches in seiner Art nicht schön wäre, in seinem Sein sowohl als in der Form seiner Betätigung. Der begeistete Mensch, auch in dieser Hinsicht als Naturprodukt ein auf der Embryonalstufe stehengebliebenes Wesen, muss dem Ideal der Schönheit zustreben, um sich zu vollenden. Und dieses Ideal hat bei ihm einen desto reiner geistigen Sinn, je größer seine Wachheit. Primitive erreichen ihre Vollendung im Rahmen blind akzeptierter traditioneller Normen, die wohl irgendeinmal — wahrscheinlich — Weisheit erschuf, die aber lange schon verständnislos befolgt werden. Auf der Bewusstheitsstufe des heutigen Abendländers bewirkt solcher Automatismus kein Freiwerden und kein Schönsein; im Gegenteil, er beengt das Leben in allen Hinsichten. Im Zusammenhang des differenzierten Bewusstseins entartet das, was bei undifferenziertem echte Lebensform ist oder sein kann, zu starrer und toter Herausstellung; eben zu der toten Konvention, welche wir geißelten.

Nunmehr muss sich der Mensch zunächst von aller Konventionalität befreien, wofern er frei werden will. Unterwegs dahin fällt er natürlich leicht in primitive, oder wenn der Weg zu solcher zu weit ist, in chaotische Naturhaftigkeit zurück, und dementsprechend bekennt er leicht die seltsamsten Ideale: in Amerika das des cave-man, rough-riders oder gangsters, in Europa das des Menschen-Tiers, des dem Schicksal blind Verfallenen, oder des bohème. Doch das sind im ganzen normale Verjüngungsstadien. Bekanntlich idealisierte das Frankreich des Rokoko den einfachen Hirten: Erfahrung hat erwiesen, dass gerade dieser Rückzug auf Längstüberwachsenes, freilich auf Umwegen, zu neuer dauerhafter Lebensform geführt hat. Das Ziel aber nun kann einzig dieses Eine sein, und zwar je höher die Stufe, in desto intensiverer Ausprägung: Begründung des ganzen Lebens in der persönlichen Freiheit, welche von sich aus die ihr gemäßen Formen und Normen setzt. Denn auch die Freiheit setzt notwendig Formen und Normen, weil es kein unnormiertes Geschehen auf Erden gibt, das letztendlich nicht sich selbst zerstörte. Sie setzt die Normen der im freien Subjekt begründeten Schönheit: so die Herzenshöflichkeit als schöpferischen Grund jedes noch so stilisierten äußeren Verhaltens anderen gegenüber, so die Liebe als wahres Band alles Zusammenhalts, die vom rein Persönlichen her bestehende und wiederum auf das jeweilige rein Persönliche bezogene schöne Form im Ausdruck. Je höher die Entwicklung des Menschen gedeiht, in desto tieferem Sinn bestimmt sonach das Ideal der Schönheit. Immer jedoch das der Schönheit und nicht das der Wahrheit. Wie im Kapitel Delicadeza der Südamerikanischen Meditationen ausführlich gezeigt ward, hat die Schönheit ihre Erd-Wurzeln in der Empfindlichkeit, der Sensibilität, das Wahrheitsstreben hingegen in der Aggressivität. Letzteres lässt kein Subjektives als Motiv noch Ziel gelten, nur das objektiv Richtige zählt für sie: unter diesen Umständen ist es a priori ausgeschlossen, da alles Menschenleben seine letzte Instanz in einem bewussten Subjekt hat, von einseitigem Wahrheitsstreben her die Ganzheit eines Lebens als Kunst aufzubauen. Von sich aus zerstört Wahrheitsstreben jede vorgegebene Synthese, sie seziert im Sinne der Anatomie, löst auf im Sinne der Chemie. Leben nun, auf welcher Stufe immer, kann nur seine eigene Integrität und Integralität als letzte Norm anerkennen, unmöglich deren Zerstörung oder Verlust. Der höchstdenkbare Grad integralen Ausdrucks entspricht dem Begriff der Erfüllung, Erfüllung wiederum bedeutet Vollendung und alle Vollendung der Ganzheit gipfelt in der Schönheit. Hier erkennen wir ganz klar die ungeheure Bedeutung der schönen Form im Ausdruck und Verkehr: sie allein berücksichtigt letztinstanzlich die so ungeheuer leicht verletzbare Ganzheit der Seele, sie allein ist auf Heilen aus im ganzen tiefen Doppelsinn dieses Worts, sie allein ermöglicht Harmonisierung des sich an sich Widerstreitenden und Ausschließenden. Von hier aus erkennen wir ganz klar, warum es sehr viel mehr auf die rechten Worte als die rechten Taten ankommt — nur Worte werden direkt von Seele und Geist aufgefasst — und warum sachliche Richtigkeit und objektiv bestehende gute Absicht auf dem Gebiet des persönlichen Lebens schlechthin ohne Bedeutung sind. So frommt denn Wahrheitsstreben einem Leben, welches, so wie es ist, bejaht und nicht nur als embryonales Durchgangsstadium zu anderem, als Höherem vorausgesetztem, bewertet wird, ausschließlich als integrierender Bestandteil des Ganzheits- und Erfüllungsstrebens und deshalb innerhalb von Grenzen gehalten. Darum kann Leben als Kunst nur die Schönheit als Generalideal anerkennen.1 Nur ist eben die erforderliche Schönheit, noch einmal, auf der Stufe des wirklich vorherrschenden Freien nicht mehr in Funktion von außen her übernommener, sondern nur noch in Funktion von innen her wirkender Normen zu bestimmen. Mag die sichtbare Form im einen und anderen Fall die genau gleiche sein: ihr Sinn ist radikal verschieden. Echtes und wahrhaftiges Leben als Kunst, wie wir es hier vom Sinne her fundieren, ist nur möglich von persönlicher Sinneserfassung mittels Persönlichkeits-gemäßer Sinnesverwirklichung.

Von hier aus können wir denn die Sonderebene des Lebens als Kunst noch um einige Grade genauer bestimmen, als bisher gelang. Auf ihr verläuft das Leben durchaus Geist- und nicht Naturnormen gemäß. Das Naturgegebene erscheint jetzt nur mehr als Baumaterial, dessen Eigengesetze in keinem anderen Sinne anerkannt werden, als wie dies seitens jedes Künstlers selbstverständlich geschieht. Das Typische und darum von Fall zu Fall Wiederkehrende, mehr oder weniger Allgemeingültige hat hier nicht den Sinn des Gattungsgemäßen, sondern den des jeder individuellen Seele und jedem individuellen Geist Entsprechenden, insofern diese nicht nur einzige Persönlichkeit, sondern auch einen Typus verkörpern. Keine bestimmte Form bedeutet hier notwendige Norm, jede hat ihren Seinsgrund im Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck, woraus sich ergibt, dass überall dort typische Form herrscht, wo diese dem gegebenen persönlichen Sinn entspricht, doch ebenso selbstverständlich — durchaus nicht als Ausnahme von der Regel, vielmehr als Sonderausdruck dieser selbst — eine neue niedagewesene Form in die Erscheinung tritt, wo der zu verwirklichende Sinn ein neuer niedagewesener ist. Auf dieser Ebene gibt es demnach überhaupt keine mögliche starre Konvention, keine Möglichkeit einfürallemaliger Unterscheidung zwischen Normalität und Exzentrizität, zwischen Möglichem und Unmöglichem, Erlaubtem und Unerlaubtem — genau wie wir in anderem Zusammenhang sagten, dass auf höherer Seinsstufe der Begriff des Lasters sinnlos wird (S. 73). Hier stellt sich einzig und allein die Frage der jeweiligen Kongruenz von Sinn und Ausdruck, von Gesinnung und Form, von echtem Sein und Erscheinung. Auf der Ebene des Lebens als Kunst gibt es deshalb einerseits keine starren Regeln mehr, andererseits aber herrscht das strengst-denkbare Formgesetz; das strengst-denkbare, insofern nichts schwerer zu erreichen ist, als ein echt-persönlicher Stil. Mit letzterem Worte hätten wir denn den Begriff bestimmt, welcher auf höherer Ebene allein sinngemäß unüberschreitbare Grenzen setzt. Wer keinen persönlichen Stil hat, der ist zum Leben als Kunst nicht reif; wer ihn haben kann, sich jedoch nicht zu ihm durchringt, ist ein Versager; wer einen Stil hat und dennoch gegen ihn verstößt, der entspricht dem, was unter christlichen Voraussetzungen der Sünder ist. Wer nun im hier geforderten Verstande Stil hat, der steht freilich jenseits von Gut und Böse vom Standpunkt jeder starren Norm; in Wahrheit aber ist er insofern streng begrenzt, als er ein Recht hat nur zu seinem Guten und zu seinem Bösen; für ihn gilt keine Rechtfertigung und keine Gnade von der Gemeinschaft her. Der steht freilich jenseits von Wahrheit und Unwahrheit vom Standpunkt jeder auf Allgemeingültigkeit Anspruch erhebenden Weltanschauung, doch sein eigenes inneres Gesetz verbietet ihm auch die allergeringste Abweichung vom Wege persönlicher Wahrhaftigkeit und persönlicher Echtheit. Sehr ungewöhnlichen Menschen gesteht jeder Verstehensfähige, der ihnen persönlich begegnet ist und welchen Hass und Neid nicht blenden, das Recht auf unbedingte Eigenart zu, und verstoße diese noch so sehr gegen geltende Normen: dies liegt daran, dass jeder instinktiv dort persönlichen Stil als letzte Instanz anerkennt, wo die Stufe persönlichen Stils wirklich erreicht ist. So erklärt sich die allgemeine Indulgenz für das vom Standpunkt der Norm unmoralische Leben des Heiligen, des Helden, des großen Staatsmanns und Künstlers, auf welche wir früher hinwiesen (S. 71). Auf der Ebene des Lebens als Kunst gibt es eben kein ein für alle Mal mehr, sondern nur einzige Menschen, Situationen und ihnen entsprechende Ausdrucksformen; hier verschmelzen die Sondernormen von Logik, Ethik und Ästhetik zur einen Norm der Stil-Echtheit und -Gerechtheit. Hier ist also wirklich, genau so unbezweifelbar konkret, wie die Naturebene ein unbezweifelbar Konkretes darstellt, eine neue höhere Existenz ebene fundiert.

Sie allein ist die eigenste Ebene des Menschenlebens im Unterschied von der von Pflanze und Tier. Doch der Mensch als wesentlich unfertiges Geschöpf erreicht das, was ihm bestimmt ist, nur ausnahmsweise, und selten vermag er das Erreichte zu halten. Bisher — und wieviele Jahrtausende, in denen wieder und wieder Wissende erstanden, liegen nicht schon hinter ihm! — sind nur ganz wenige Einzelne (Gemeinschaften überhaupt noch nicht) auch nur theoretisch dessen innegeworden, auf welcher Ebene die Gleichung des Menschenlebens aufgehen kann. Sie kann es ausschließlich auf der des Lebens als Kunst. Nur wenn es dem Menschen gelungen ist, sein einsames schöpferisches Freie zu solchem Wachstum und solcher Festigung in sich zu bringen, dass es von innen her unwillkürlich das ganze Menschenwesen regiert, welcher ganze Mensch damit für den Geist transparent geworden ist, nur dann hat er die Existenzebene fundiert, auf der wirklich menschengemäßes persönliches Leben möglich wird. Vorher muss Krankheit und Sünde und Fall und Schuld und Versagen und Trauer und Verzweiflung darob den Hauptinhalt des Lebens ausmachen. Denn seiner wahren Bestimmung ist sich in dumpfer Tiefe sogar der größte Lebensstümper bewusst, und unwillkürlich beurteilt jeder die Wirklichkeit von nie erreichtem Ideale her. Daher überhaupt die Scheidung zwischen Ideal und Wirklichkeit, daher die bloße Möglichkeit der vorhin aufgezählten Begriffe negativen Inhalts. Wohl wird deren Wirklichkeitsgemäßheit seit den frühesten Sophisten aller Völker wieder und wieder angezweifelt: sie sind doch da und leuchten jedem Unbefangenen ein. Eben daher die Forderung, die jeder in seiner geheimsten Tiefe als berechtigt, ja zwingend anerkennt, dass der Mensch glücklich sein können müsse — ob schon die Erfahrung aller Menschengeschichte lehrt, dass nur wenige nicht tierhaft stumpfe Menschen je auch nur befriedigt waren, und obgleich allerelementarste Überlegung beweist, dass der auf der Naturebene Lebende gar nicht glücklich sein kann: von menschlichen Voraussetzungen her geht die Lebensgleichung auf der Naturebene nicht auf. Da ist es denn Zeit, dass endlich und ein für allemal begriffen werde, wie die Lebensgleichung des Menschen anzusetzen ist, damit sie aufgehe. Der Mensch muss innerlich so tief und mächtig, so geistdurchdrungen werden, dass er ganz selbstverständlich über seiner Natur, seiner Gana, überhaupt über seinem Erdwesen steht. Was Heiliger und Held in extremster Gestaltung darstellen, das muss jeder auf seine Art erreichen.

Und das kann auch jeder erreichen proportional dem Grade seiner Geistigkeit. Wir sagten, die meisten Lieben endeten häßlich: bei dem tun sie es nicht, der da weiß, dass die Liebe verstehender Pflege bedarf, um zu gedeihen, der ihren Naturrhythmus im Geiste antizipiert, sie auf den Geist zurück- und in ihn einbezieht. Wer so weit ist, dessen Lieben werden niemals häßlich enden, und das Ende, so schmerzlich es sei, wird Krönung bedeuten. Wer seine Ehe von geistiger Einsicht her schloss, die seine Gefühle inspirierte, wer des geistigen Charakters dieses besonderen Bandes allezeit eingedenk ist, im übrigen aber so aufmerksam, so diplomatisch im vorhin bestimmten positiven Sinn, dass er alle Nuancen berücksichtigt, die bei so intimem Zusammenleben unter allen Umständen über Glück und Elend entscheiden, der wird als Kontrapunkt zur Intimität und zur Zweisamkeit am allermeisten die Distanz pflegen, die Ehrfurcht vor den Geheimnissen des anderen, die Verschwiegenheit. Und wer also als Gemahl streng den Sonderstil des Ehelebens einhält — der wird fast allemal als Gatte so glücklich, als ein Mensch auf Erden werden kann. Wer die Gemeinschaft, die Sonderart des Familienzusammenhangs als das versteht, was sie tatsächlich sind, dem bedeuten die Schwierigkeiten auf diesen Gebieten niemals letzte Instanzen, und alle helfen ihm auf seinem Weg zur Selbstverwirklichung, anstatt ihn zu behindern. Der wird auch nie verbitternde, weil das Leben häßlich machende, dasselbe entwürdigende Schwierigkeiten mit seinen Kindern haben, so schroff vielleicht gerade auch in seinem Fall der typische Konflikt der Generationen (AV, IX) in Erscheinung trete. Selbstverständlich wird er seinen Kindern von Haus aus soviel Recht auf Eigenleben zugestehen, dass damit den Zusammenhang sprengenden Gegenbewegungen vorgebeugt ist.

Was aber Fremde betrifft — wer seine Existenz auf der Ebene des Lebens als Kunst fundiert hat, der weiß selbstverständlich, welcher Art die allermeisten sind, wie gleichgültig, wenn nicht übelwollend, und anstatt viel von seinen Bekannten zu erwarten, um nachher enttäuscht zu werden, erwartet er gar nichts, tut ihnen indessen seinerseits soviel Gutes als nur möglich an, ohne Dankbarkeit dafür zu fordern. Gibt und schenkt er dergestalt rein, dann wird er wieder und wieder Ursache zu freudiger Überraschung finden. Hiermit sind wir denn zu einem der wichtigsten Leitmotive dieses Buchs zurückgelangt: der Generosität. Wer sich wahrhaftig zur Generosität gegen sich selbst, gegen andere und zuletzt gegen das Schicksal durchgerungen hat, der steht selbstverständlich positiv zu aller Gegebenheit und allem Verhängnis, und so dient ihm letztlich alles zum Guten. Denn wessen Existenz auf der Ebene des Lebens als Kunst fundiert ist, der erwartet überhaupt kein Schmerz- und Beschwerde-freies Dasein. Der begegnet jeglicher Schwierigkeit in der Einstellung, dass es an ihm liegt, sie zum Segen umzuschaffen. Im übrigen aber wird der alles Positive so genau und scharf bemerken, wie der Romanschriftsteller jede Einzelheit prämeditiert, und wessen Aufmerksamkeit so groß ist, dessen Leben ist unter allen Umständen unermeßlich reich. Wer nun überdies des tiefsten Sinnes seines Lebens inne-ist, welcher allemal eben dieses und kein andres Schicksal fordert — der wird niemals Einzelereignisse außer Zusammenhang sehen, nie das negativ empfinden, so sehr es ihn im übrigen schmerze, von dem er weiß, dass es zu ihm gehört. Der wird nie wollen, dass der Kelch an ihm vorüberginge. Der wird, insofern er allen Nachdruck auf die Zugehörigkeit legt, das Nicht-Zugehörige aus seinem Leben kompromiss- und furchtlos eliminierend, zuletzt sein ganzes Leben zu einem vollendeten Kunstwerk umschaffen. Dessen Krone oder Abschluss ist alsdann der eigene Tod. Heute steht wissenschaftlich fest, dass es nicht wahr ist, dass der Mensch in seinen Tiefen seinem eigenen Tode negativ gegenübersteht: von der Lebensmitte an sieht er in ihm genau so sehr ein positives Ziel, wie als junger Mensch im Aufstieg zu Leistung und Geltung. Wohl aber will der Mensch seinen eigenen Tod sterben. Und er kann sich tatsächlich durch schöpferische Sinngebung seinen Tod — der zunächst ein unpersönliches, von Gattung und Außenwelt her bestehendes Ereignis ist — recht eigentlich aneignen, ihn zum künstlerisch notwendigen Finale seines Lebens machen. Was Sokrates, was Christus auf ihre Weise vollbrachten, könnte grundsätzlich jeder auf die seine leisten.

1 Dieser Gedanke steht im Vortrag Kultur der Schönheit, den ich im Mai 1935 im Palazzo Vecchio zu Florenz hielt (abgedruckt in Sur l’art de la Vie, XVI), genau ausgeführt, weswegen ich hier von näherer Erörterung absehe. Als Ergänzung wären die Schlusskapitel des Reisetagebuchs, sowie die Kapitel Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben der Schöpferischen Erkenntnis, Erfindung und Form von Wiedergeburt und Kultur von Amerika heranzuziehen.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
XI. Das Leben als Kunst
© 1998- Schule des Rades
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