Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

XI. Das Leben als Kunst

Staatsschöpfung

Unsere letzten Betrachtungen haben implizite das Ideal des Weisentums als der Krönung des Vollmenschentums bestimmt. Für mich bedeutet der Weise das, was andere unter Übermensch verstehen. Der Übermensch wird kommen: doch ebensowenig wird er mit lauten Gebärden kommen, wie der Gott Israels dem Elias als Sturm und starker Wind erschien. Nicht als Gewalt-Gestalt, den von den Göttern vormals besiegten Riesen gleich, nicht materiell übermächtig, auch nicht als neuer Naturtypus, sondern als normaliter tiefer im Geist verwurzeltes Wesen, als es der bisherige Mensch war. Der Übermensch wird der Mensch als souveräner Kunstschöpfer seiner selbst sein. Und darum sensitiver, als es je ein Typus war, verstehender, intim-persönlicher, Einzigkeitsbewusster, und nur vom Geist her stärker und mächtiger als der, welchen er abzulösen bestimmt ist. Er wird über seinem Ich und über seinem Schicksal stehen, selbstverständlich vom kosmischen Zusammenhang her und zugleich polyphonisch denken (U, AV, VI), aller Einseitigkeit und Engigkeit von Haus aus überlegen, nunmehr bewusst und als solcher tätig wirkend der Mikrokosmos innerhalb des Makrokosmos, als welchen die Natur schon den heutigen Menschen anlegte. Doch wir Heutigen haben unser heutiges Menschentum auszuleben; unsere Aufgabe kann nur sein, es soweit geistig zu durchdringen und damit zu vertiefen, als irgend in unseren Kräften steht. Darum wenden wir unsere Aufmerksamkeit zum Schluss noch einigen Sonderausdrucksformen des Menschenlebens zu, die besonders wichtig sind und zugleich besonders eindrucksvoll dartun, dass die eigentliche Ebene unserer Existenz tatsächlich diejenige der Kunst ist.

Der vollständigste Ausdruck eines Lebenskunstwerks, das nicht vom Einzigen, sondern von einem Kollektivum her besteht, ist der Staat, und der imposanteste, weil die gewaltigsten Material-Massen schöpferisch gestaltende Lebenskünstler ist der echte Staatsmann. Es gibt wenig größere Irrtümer als den, im Staat einen Organismus zu sehen. Schon in Der Ur-Zusammenhang der Menschen sahen wir, dass keine besondere Gemeinschaftsform bei Menschen naturnotwendig ist, mit der einzigen Ausnahme der Familie, die aber Freiheit gleichfalls um ihre Bedeutung bringen kann. Der Staat nun ist niemals von selbst, sondern immer gewaltsam entstanden; war er geglückte Schöpfung, dann war er allemal die höchstpersönliche Schöpfung eines Einzelgeistes, bei deren Vollendung freilich viele mithalfen, und die Gesinnung, aus der er seine Kraft sog, war allemal die gleiche Begeisterung, die im Menschen einzig schöpferische Teilnahme an Geistesschöpfung weckt. Neuerdings ist ein kleines Buch erschienen: Hans Freyer Pallas Athene, Ethik des politischen Volkes (Jena 1935, Eugen Diederichs), das mit außerordentlicher Knappheit und Klarheit diesen Aspekt der Staats-Entstehung und des Staats-Lebens bestimmt, ohne den Staat freilich auf seinen letzten Sinn zurückzubeziehen. Dieses kleine Buch (nur 122 Seiten) empfehle ich jedermann als Ergänzung vorliegender Betrachtungen zu lesen, denn sie führen vieles von dem aus, was hier nur angedeutet werden kann, und die Einseitigkeit des Gesichtspunkts schafft ein besonders scharf- und klarumrissenes Bild. Freyer zeigt, dass jede Staatsschöpfung ein michelangelesker Vorgang war, ein Versuch, gewaltige Steinmassen zu bezwingen, und dass sie deswegen notwendig ihren Prototyp im Torso findet. Er zeigt, dass Staatsbildung nie zum normalen Leben eines Volks gehört:

Ein Volk, das politisch geworden ist, hat gewählt, hat die Brücken hinter sich abgebrochen. Auf dem neuen Ufer seines Wegs gibt es nur das Standhalten oder das Versagen vor dem neuen Anspruch, nur die Integrität oder den Zusammenbruch der neuen Ehre. Und wenn dieser Weg zum Abgrund führt, ist der Rest nicht ein ewiges Leben, sondern eine ewige Fellachei. Der Synoikismus (für Freyer ist die Stadt, die Polis, eine Schöpfung nicht der Natur, sondern des Geists der Politik, geradezu auf den Feind hin, K.) stellt das Volk unter neue Götter, darum macht er wahrhaft Epoche und kann durch keine Resignation, durch keine freiwillige oder erzwungene Abrüstung des Landes und der Geister ungeschehen gemacht werden. Es ist ein fremder Strahl, der aus dem Auge der Göttin das Herz des Volks trifft. Aber er tut Wunder. Uralte Rhythmen des Lebens werden an sich selbst irre und fügen sich in seine herrische Richtung. Es ist ein Stichwort aus fremder Welt, das Wort Staat. Aber es wirkt wie ein Katalysator: es hilft die Materie des alten Volkstums bis in ihre letzten Bausteine zersetzen und nicht nur ein neues Aggregat, sondern geradezu eine neue Substanz aufbauen … Das Volk wird ein anderes, es vergisst seine Sagen und nimmt sich nicht mehr ernst. Aber seine Art wird edler, sein Wesen dichter. Und wenn das Menschentum, das sie erwählt hat, nicht versagt, so hat die Göttin nicht nur ein altes, in sich ruhendes Leben zerstört, sondern ein neues Volk von höherem Adel geschaffen, indem sie ihm, zuerst wie im Spiel, das Orakel hinwarf: Geschichte sei mehr als Ewigkeit, und der Staat sei das wahre Werk der Männer. (S. 86/87.)

Daher denn die notwendige Zugehörigkeit des Krieges zum Staatsleben. Der Staat lebt am Feinde. Am Feinde und nur an ihm hat er seine ihm entsprechende Grenze. Wie wir von der Kunst des Lebens im Privatleben handelten, hätten wir sehr wohl auch eine lange Betrachtung darüber anstellen können, dass es mit zu ihm gehört, die rechten und nie die falschen Feinde zu haben, und jene als Feinde zu pflegen. Denn überall gehört Feindschaft und Vernichtungswillen der anderen als notwendiges Negativ zum eigenen Positiv. Beim Staat spitzt sich dieses Verhältnis bis zum äußersten zu. Auf S. 83 seines Buchs schreibt Freyer:

Wie die Einheit des politischen Volks aus Gewalt und Krieg geboren wird und billiger nicht zu haben ist, so stellt sich der Staat vom ersten Augenblick seiner Existenz an in den Krieg mitten hinein und verpflichtet sich zur Gewalt, mag auch die Kunst seiner Könige und die Gunst der Götter ihm ein Menschenalter lang den äußeren Frieden bescheren … Wenn ein Wesen sich nach innen zusammenzieht, schafft es, selbst wenn es das nicht will, den Grenzsaum. Und die Grenze, selbst wenn sie es nicht will, schafft den Feind. Und weiter S. 85: Der Kriegswille des Staates ist weder Mutterinstinkt noch Raubtiergelüst. Er wird weder von der akuten Gefahr aufgerufen noch von der Beute angereizt, sondern er hat sein Gesetz in sich selber. Er wird vom Geist hervorgebracht, von ihm gesteuert, von ihm in Maßen gehalten, aber von ihm auch dauerhaft gemacht; von demselben Geist, der den Staat hervorgebracht hat, indem er die Verpflichtung zu politischem Leben in die Seele eines natürlichen Volkes senkte. Darum ist der Kriegswille des Staates langfristig, stetig, mehr ein Zustand als eine Erregung. Er ist all die Jahrhunderte hindurch auf dieselben Objekte scharf, nach denselben Richtungen wachsam, auf dieselben Überraschungen gefasst.
Das Geheimnis ist immer dies, dass durch den politischen Anspruch Dinge aus dem Leben herausgeholt werden, die nicht drinliegen (S. 76).

Diesen Anspruch aber vermag immer nur der personale Staatengründer zu stellen, der allein hat die innere Vollmacht dazu.

Sein Gesetz flammt auf wie ein Fanal. Es verkündet einen Schwur, den alle leisten wider das Herkommen und wider ihr natürliches Interesse. Es greift in die Substanz der Menschen ein und verändert sie. Es reißt das Leben aus seinem Rhythmus. Es weckt Triebe und Tugenden, die, wenn das Feuer nur auf den Herden glüht, immer schlafen. Es schafft einen Zusammenhalt, der mit der Sippe und ihren alten Göttern nichts zu tun hat. Dieses Gesetz ist eine Revolution, und nicht nur eine Revolution der Ordnungen, sondern der Gemüter (S. 74). Alle großen Gebilde, in denen die Idee des Politischen geschichtlich erschienen ist, sind Entfremdungen des volkhaften Wesens an sich selbst, sind künstliche Systeme — aber das Geheimnis ihrer Kunst besteht darin, dass sie dem Leben nicht nur aufgezwungen, sondern aus ihm herausgelockt wurden durch einen Sammelruf, der zog … Staaten wachsen nicht, sie wollen gegründet sein. Der sie gründen soll, muss aus anderen Bezirken kommen als die sonnenhaften oder bärbeißigen Helden, die dem Gemüt des Volks so teuer sind. Er kommt aus der Ferne, aus der Fremde, von der Grenze (S. 72/73).

Also der, welcher innere Distanz zum Volk hat, das er gestalten soll, der in Spannung zu ihm steht, der ist der Berufene. Und ihm folgen dann die, welche ihn erkannt haben, frei-willig.

Wenn der herrschende Wille übermächtig aus den Augen blitzt, antwortet aus allen Winkeln des Landes die Liebe und ein neuer Mut. Wenn eine Hand durch die Wirrnis der Gegenwart hindurch sieghaft nach vorn weist, folgen alle, die ein Herz haben, und die Lauen werden mitgerissen. Wenn Worte, die zum Glauben emporreißen, gläubig gesprochen werden, hören alle zu und alle verstehen. Das Volk spürt den Führer von fern und fliegt ihm zu (S. 57).

Freyer hat einseitig revolutionäre Staatengründung im Auge, aber eben deshalb sind seine Darlegungen so verständnisfördernd. Sie zerstören schneller und vollständiger, als Erwägung konzentrischerer Verhältnisse vermöchte, die Illusion, dass der Staat ein Naturgewolltes sei: er ist unter allen Umständen, sofern er als Gebilde glückt, ein reines Kunstwerk. Daher die Möglichkeit, starke und in ihrer Art vollkommene Staatsgebilde auf den verschiedensten Voraussetzungen zu begründen. In Alt-Ägypten war es das Zusammenwirken einer als göttlich anerkannten privilegierten Dynastie mit Massen, die sich zur Arbeitspflicht bekannten im Sinne eines Gottesdiensts, und etwas von diesem Geist lebt auch im modernisierten Japan, allwo die Heiligkeit des Herrscherhauses als die Verkörperung der Ewigkeit der Nation jeder Reform einen sakralen Sinn gibt. Der griechische Staat war letztlich die Kultgemeinschaft der Freien, der alt-römische basierte auf der Gesinnung des imperial gesinnten Stadtstaat-Bürgers, welcher aus Selbstachtung sein Leben der res publica opferte und unbedingten Machtanspruch in allgemeingültigem formalem Recht fixierte. Das vielleicht größte Staatskunstwerk der Geschichte — das größte, weil es das am meisten im Geist und nicht in der Gewalt fundierte war —, der byzantinische Staat, beruhte ganz und gar auf den Kräften des Hellenismus und der Orthodoxie. Es ist grundsätzlich gleich möglich, einen Staatsbau auf Religion, universellen Machtanspruch, Volkswohlfahrt, Gesinnung, Rasse und Weltanschauung zu begründen. Nur führt jede besondere Voraussetzung zu besonderem Stil. So gibt es auch nicht nur den von Freyer geschilderten Staat, der aus Gewaltsamkeit entstand und letztinstanzlich auf Gewalt beruht, welcher immerdar gefährdend und gefährdet zugleich ist: es gibt auch den wesentlich in sich ruhenden, friedlichen, wie dies von vielen alten Reichen galt, zuletzt von China, vielleicht einmal von den Vereinigten Staaten Nordamerikas gelten wird. Und vor allem gibt es über den von Freyer geschilderten Staat und Staatsmann hinaus den Kunstschöpfer und das Kunstwerk, welche den Urbegriffen von König und Reich entsprechen. Deren Sinn erfasst man am besten an ihrer Projizierung auf überweltliche Ideale, auf den Gott, welcher immer als König vorgestellt ward, und die von ihm zusammengehaltene Welt. Gott formt die Welt aus unermeßlicher Distanz, aus seiner Unendlichkeitsspannung zur Kreatur heraus, und eben so hält er sie zusammen. Alles, was es überhaupt gibt, mit der einzigen Ausnahme der Feinde der Schöpfung überhaupt, lässt er gleichmäßig gelten, jedes an seinem Ort, und in positiver Ergänzung zusammenwirken. Wo er zwingt und vernichtet, tut er’s immer um des integralen Ganzen willen und insofern auch zum Besten seiner integrierenden Bestandteile. Ihm fehlt jegliche einseitige Tendenz, denn jede würde den Zusammenhang des Ganzen sprengen, denn jedes Wesen hat doch sein autonomes Eigenleben, welches für dieses letzte Instanz ist, was Gott selbstverständlich als oberstes Motiv gelten lässt. Doch diese Anerkennung jeglicher Eigenart hindert keineswegs, im Gegenteil, es ist die notwendige Voraussetzung echt künstlerischer Meisterung.

Wie der göttliche Demiurg, genau so lässt jeder ganz große Herrscher alles Einzelne zusammenwirken; genau so beherrscht er alle Wesen und Kräfte ihnen gemäß, handele es sich um Reptilität, Gana, Seele oder freien Geist. Insofern steht er selbstverständlich jenseits von Gut und Böse, behandelt er das Böse dessen Sinn gemäß, zwingt er das Zwang-Verlangende, die Gana, liebt er, um geliebt zu werden, setzt er beim Freien nur dessen innere Freiheit in die Gleichung ein. Nur insofern er mit Unterwelt und Gana rechnen muss, treibt der echte Staatsmann auch Politik im Sinne dessen, was wir (s. Kapitel II) im Unterschied von Freyer unter dieser Betätigung verstehen. Selbstverständlich steht er über ihr, er benutzt Politiker nur, so wie er Henker benutzt. Und greift er doch manches Mal selber in das Eigenleben dieser Niederungen ein, so ist es, weil sonst dessen niedere Eingeborene gar zuviel Niedrigkeiten begehen würden. Aus diesen Überlegungen erweist sich denn als gesicherte Wahrheit, was wir schon früher als These aufstellten (S. 112), dass zwischen Politik und Staatskunst scharf und grundsätzlich zu unterscheiden ist. Der Staatsmann ist in erster Linie ein Meister des Lebens als Kunst. Und genießt seine besondere Kunst das größte Prestige, ja ein so gewaltiges, dass Gott nach seinem Bilde vorgestellt wird, so liegt das daran, dass seine Kunst weitaus die schwerste ist. Soviel verschiedene, sich widerstreitende und unvereinbare Normen folgende Elemente zu beherrschen, ist keinem anderen Künstler zur Aufgabe gestellt; wer sie vollkommen meistert, ist wahrhaft weltüberlegen (SE, III, B, 3). Deswegen finden wir nicht nur ganz große, sondern überhaupt echte Staatsmänner innerhalb der ganzen Geschichte viel, viel undichter gesät, als große Musiker, Maler und Philosophen. Ebendeshalb sind die meisten Staatskunstwerke sehr bald nach dem Tode ihres Schöpfers zerfallen. Doch eben darum, weil der Staat ein Kunstwerk ist, ist die bloße Idee einer bestmöglichen Staatsform absurd. Als Kunstwerk verkörpert jeder als solcher gelungene Staat einen besonderen Stil, und dieser muss verschieden sein, je nach der Eigenart seines Urhebers und seines Materials, und untereinander zu vergleichen sind verschiedene Stile überhaupt nicht.

So gehört denn das Staatsleben durchaus der Ebene des Lebens als Kunst an. Und wie sehr er gerade darum dem Menschen zutiefst entspricht, wird dadurch bewiesen, dass einzig und allein der Staat als Kunstwerk und der Staatsmann als großer Künstler jemals Begeisterung und Opferwillen geweckt hat. Es ist erwiesenermaßen nicht wahr, dass der Wohlfahrtsstaat, in welcher Sonderform auch immer, den Menschen ihr Ideal verkörpere; für einen solchen, so nützlich er erwiesenermaßen sei, lässt sich keiner freudig totschlagen: der Staat muss Geist verkörpern, und auch der Staatsmann muss Geist in dessen Urformen von Mut und Glauben verkörpern, um werbende Kraft großen Stiles auszustrahlen. Doch auch die Nation, im Unterschied von empirischem Volkstum, gehört durchaus der Kunstebene an und darum allein kann sie, wie Dostojewsky sagte, dem Einzelnen seinen Weg zu Gott bedeuten. Auch die Nation ist in erster Linie ein besonderer Stil (Sp. XIII), zwar mehr als der Staat an sonderliche Empirie gebunden, und dennoch wesentlich unabhängig von ihm. Ihr Primärausdruck ist die gebildete (nicht die naturhafte) Sprache (AV, XIII), das heißt die Sprache, die nicht bloß ein Verständigungsmittel ist, sondern einen bestimmten Geist und Seins-Stil verkörpert. Die Sprache ist andererseits der Urausdruck alles Geists. Weil dem so ist, sind alle Nationen als solche nicht von Staatsmännern, sondern von Dichtern gegründet worden. So die hellenische von Orpheus und Homer, die italienische durch Dante, die deutsche, heute allerdings noch unfertige, durch Luther, Goethe, Nietzsche und, wie man wohl einmal auch sagen wird, Stefan George. Eben darum hat es auf Erden so wenige Nationen, die diesen Namen verdienen, gegeben, daher der ungeheure Unterschied der Werbekraft von Nation zu Nation. Sehr wenige Völker haben eben überhaupt einen persönlichen Stil, geschweige denn einen geistbestimmten, hervorgebracht.

Dies führt uns denn, zum Abschluss dieser Sonderbetrachtungen, zur Hauptebene geistbestimmten Menschenlebens, derjenigen der Kultur. Wir zeigten früher (S. 204), dass Kultur nicht pflanzenhaft, wie Spengler sie bestimmt hat, sondern seelenhaft ist. Andererseits steht seit Leo Frobenius’ morphologischen Forschungen fest, dass Kulturen allemal wesentlich Einheiten sind, deren verschiedene Äußerungen so notwendig zusammengehören, dass man aus wenigen zusammen aufgefundenen Gefäßen ähnlich sicher und genau eine ganze Kultur rekonstruieren kann, wie Geoffroy St. Hilaire aus einem einzigen Knochen ein ganzes Tier rekonstruieren zu können behauptete. Dies liegt jedoch nicht daran, dass die Kultur eine besondere Kulturseele (Paideuma) darstellte, sondern dass sie der normale Ganzheitsausdruck ist eines Lebens als Kunst. Da geistige Schöpferkraft immerdar seltene Ausnahme darstellt, erklärt schon diese eine Bestimmung, warum es so wenige echte Kulturen gibt und gegeben hat, und warum Zivilisation grundsätzlich nicht das allergeringste mit ihr zu tun hat. Wie ich’s in der Neuentstehenden Welt definierte: Kultur ist Lebensform als unmittelbarer Geistesausdruck. Hieraus folgt weiter, dass jede Kultur ursprünglich national ist — dementsprechend begannen auch alle Götter ihre Laufbahn als Nationalgötter — dass Kultur aber andererseits über die Grenzen der Nation, die sie erfand, hinausstrahlen und von anderen Volkstümern angeeignet werden kann. Von ursprünglich Fremden angeeignet werden vermag sie genau proportional ihrer Übertragbarkeit, welche ihrerseits vom spezifischen Gewicht der rationalen Komponente abhängt (PK, X). Aber soweit sie sich auch ausbreite, so viele Völker sie immer erobere — Kultur, solange sie Kultur ist, bleibt immerdar der Ausdruck eines konkret-lebendigen Geists; sie bedeutet niemals ein Äußerliches, sie ist vielmehr vom Standpunkt des geistbestimmten Menschen ein viel Innerlicheres als die Natur. Denn nur in Form eigenster Kulturgestaltung lebt sich das tiefste Menschenwesen aus (A, II, IX). Deswegen haben Kulturen im Höchstfall Völker auf Völker durchlebt, gleichwie der Körper seinen Stoffwechsel durchlebt; deswegen findet man älteste Hochkulturen so oft als Lebensform niederer Völker fortbestehen: für jeden Menschen liegt sein tiefstes Wesenszentrum im Geist. Wer selbst keinen schöpferischen besitzt, fühlt das Bedürfnis, sich fremdem hinzugeben und sich von ihm formen zu lassen.

Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
XI. Das Leben als Kunst
© 1998- Schule des Rades
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