Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

XII. Heiligung

Geisteskosmos

Ist solche Wiedergeburt möglich? Freilich ist sie möglich. Und sie ist nicht nur möglich, sie ist fällig. Gemäß dem alles Seelenleben bestimmenden Gesetz der Kompensation muss auf eine Epoche extremer Lunarität eine solche der Solarität folgen; diese Begriffe entsprechen ja nicht einander ausschließenden Gegensätzen, sondern korrelativen Polen in der Menschenseele. Und alle Anzeichen auf niederen Ebenen sprechen dafür, dass sie schon angebrochen ist. Die Vermännlichung des Zeitgeists, der neuerwachte Sinn für antike Größe und nordisches Heldentum, für die schöpferische Tat im Gegensatz zum Verstandesbeweis, für Gefahr im Gegensatz zur Geborgenheit — man erinnere sich der Weltschschen Definition der christlichen Gnade als des Prinzips der metaphysischen Geborgenheit (S. 474) — der neuerwachende Sinn für den Gegensatz freier Mensch — Sklave im Unterschied von dem zwischen Freiheitsrechten und äußerlichem Zwang, die neue Bejahung der Macht als eines geistig Wertvollen, der neue Sinn für den Körper und dessen Schönheit, für die hyperethischen Werte von Kraft und Schönheit überhaupt, für den Wert der Natur als solcher — alle diese Einzelheiten, denen sich noch viele weitere anreihen ließen, sind Anzeichen dessen, dass sich die Welt vorbereitet zu einem Äon neuer Solarität. Allein gerade das Wesentliche, das Entscheidende wird noch gar nicht verstanden: dass eine Solarität, welche positiver zu bewerten wäre als die traditionelle Lunarität, viel tiefere Verwurzelung im Geist erfordert, als diese. Man gedenke nur dieses einen: der Besitz von Macht, Sieg, Schönheit und Glück vitalisiert zunächst die böse Unterwelt und beschwört diese damit zu hartnäckigster Selbstbehauptung und zu sich immer steigerndem Eroberungswillen. Denn all dieses tellurisch Positive erfreut und stärkt zunächst die erdgeborenen Urtriebe, die Gana, die reptilische Kälte, die Selbstsucht, die Eitelkeit, den Vergewaltigungswillen. Es bedarf ganz ungeheurer Kraft, um nicht nur keiner Widerstände zu geistigem Wachstum zu bedürfen, sondern um innerhalb allzu glücklicher Umstände nicht direkt zu verderben. Den Sinn der christlichen Minderbewertung des Reichen hat Leopold Ziegler in seinem Gestaltwandel der Götter ungeheuer vertieft und damit von allem Ressentiment-Beigeschmack gereinigt, da er vom Reichen sagt, dass er keinen Mitmenschen hat: bei allzu ausgesprochener Vorzugsstellung im empirischen Leben bestehe keinerlei Gleichung mehr mit anderen, und so läge nichts näher, als in der Fülle zu verhärten und seelisch zu ersticken. Gleiches gilt von jedem allzu positiven Zustand. Alle Erfahrung beweist es: nichts erweist sich als auf die Dauer schwieriger, als allzu große Macht nicht zu missbrauchen, denn der Machttrieb wächst mit der Macht, alles andere überwuchernd wie ein Krebsgewebe. Weniges hält schwerer, als im Besitz vollkommener Schönheit nicht selbstsüchtig und kalt zu werden bis zur Grenze, wo einer nur mehr sich selber liebt, und nahezu unmöglich scheint es, im Besitz von vollkommener Gesundheit nicht hart und mitleidslos, im Besitz sehr großen frei verfügbaren Reichtums nicht geizig zu werden. Gerade der letzte Fall ist spirituell besonders lehrreich. Kürzlich erst Reichgewordene sind meistens generös. Je länger sie jedoch reich sind, desto ungerner geben sie aus, was nicht zur Schaustellung eben ihres Reichtums dient und sich damit bezahlt macht. Eine Schweizerin, welche dank ihrer Verwandt- und Bekanntschaft mit schwerreichen Patriziern besonders gut Bescheid wusste, sagte mir etwas sehr Tiefes:

Geiz sei das schmutzigste aller Laster, viel schmutziger als irgendeine sexuelle Perversität, weil kein Geiziger sich darüber klar ist, dass er einem echten Laster frönt, was doch von jedem Lasterhaften anderer Artung gälte.

So dürfte schon diese eine Erwägung zum Erweis der Existenz eines transsubjektiv-überpersönlichen Geisteskosmos genügen: dass so gut wie keiner auf Erden, der es in irgendeinem Sinne weit bringen sollte, je unter günstiger Anfangskonstellation geboren und von Glücksgütern gesegnet war und dass weitaus die meisten Geistesschöpfer und Geistverkörperer dank irgend welchen Zufällen zeitlebens arm blieben.

Vergegenwärtigen wir uns nunmehr, wie die altrömische Solarität in ihrem Endstadium den Christen erschien: als reiner Satanismus. Und sie war wirklich zuletzt satanisch. In ihrer schrankenlosen Machtausnutzung, ihrer skrupellosen Geldgier, in ihrer vollkommen lieblosen Sachlichkeit gegenüber allen nicht gleichgestellten Personen — man vergesse nicht: der Sklave galt den damaligen Römern buchstäblich als Sache und die allermeisten Bewohner des Westreichs hatten zuletzt den Sklavenstatus —, in der schauerlichen Frivolität ihres Schau-Spielens — der Zirkus war zuletzt der eigentlich sakrale Bezirk —, in ihrer grausamen Wollust und Wollust in der Grausamkeit waren die Mächtigen jener Zeit tatsächlich teuflischen Geists. Kein Wunder daher, dass vor den seherischen Augen der ersten großen Christen nach jener kurzen Frühzeit, da Jesu rasche Wiederkehr erwartet ward, als erste vermeintliche Erfüllung der Idee des Tausendjährigen Reiches nicht der in der Glorie wiedergekehrte Christus, sondern der — Antichrist erschien. Der Übermensch, welcher äußerlich nur Gutes tun, überamerikanischen Wohlstand für alle verbreiten, dem ganzen Menschengeschlechte höchstes Wissen und nie geahnte Macht auf Erden vermitteln, die Krankheit aus der Welt schaffen würde, welcher schön wie ein Engel und gleich der Sonne strahlend — und doch der schlimmste und böseste Feind sein würde des Menschen­geschlechts.1 Und in der Tat war die römische Solarität zuletzt zu Satanismus geworden, so bestand allerdings die Gefahr, dass unterwegs zum Gottesreich auf Erden zunächst der Antichrist die Führung übernähme. Denn die römische Solarität war dadurch satanisch geworden, dass sie aufgehört hatte, im echten Sinn sakral, das heißt Ausdruck absoluten Geist-Primats zu sein. So droht auch dem heutigen Menschen auf seinem Weg von entgeistetem Zustand her zu neuer echt-sakraler Solarität zunächst äquivalente Gefahr. Das beispiellos Furchtbare unserer Zeit ist nun, dass der unter allen Umständen zeitweilig fällige Satanismus in ihr sich dank dem Verzicht auf Schönheit, welchen die Wahrheits-fanatische Westwelt, freilich ohne es zu wissen, ausgesprochen hat (AV, XVI), einen viel höllischeren Aspekt gewinnen muss, als er irgendeinem vorchristlichen eignete. Schon das Amerika, welches ausschließlich auf materiellen Wohlstand aus ist, in seiner Seelenlosigkeit und Insektifizierung, mit seinem Tier-Ideal und in seiner phantastischen Häßlichkeit, bedeutet ein furchtbares Menetekel. Im Bolschewismus aber zeigt die gleiche Tendenz ihr wahres und in ihrer Eigenart vollkommenes Gesicht. Dort tritt der Satanismus, weil seine unbewussten Voraussetzungen urchristlich sind, weil der Mühselige und Beladene ihm mehr gilt als der leuchtende Sieger, der Sklave mehr als der Freie, in nicht zu überbietender Scheußlichkeit in die Erscheinung. Dort sieht man den königlichen Adler zum allerwiderwärtigsten und häßlichsten aller denkbaren Geier entartet.

In dieser Wende, wo der Geist Moskaus einen immer wachsenden Teil unseres Planeten durchdringt und zersetzt, leben wir recht eigentlich im Zeichen dieses Geiers. Und darüber gebe man sich keinen Illusionen hin: vom Geier gibt es keinen direkten Weg auch nur zum römischen Adler, von echt sakraler Solarität zu schweigen. Das bolschewistische Geiertum hat jedoch, spirituell geurteilt, dieses Gute, dass es mit entsetzlicher Deutlichkeit zeigt, wo die ernsteste Gefahr der Absage an das lunare Prinzip der Hingabe an Höheres liegt. Wohl kann irdische Macht Positivstes bedeuten: doch ist dies dann allein der Fall, wenn sie von reinem Geist beherrscht, gelenkt und ausgenutzt wird, wenn sie also wesentlich Autorität und nicht Besitz von Vergewaltigungsmitteln bedeutet. Dazu aber gehört, dass sie als Autorität frei-willig anerkannt werde. Ist das Wesen gegebener Machtvollkommenheit nicht geistig, dann ist Macht ein Böses, so wie dies Jacob Burckhardt meinte. Deswegen wird Macht als Positivum von aller Mythe in erster Instanz Gott, in zweiter seinem irdischen Ebenbild, dem König, zugestanden, während eigentlich alle Mächtigen niederen Grades als Vertreter des bösen Prinzips geschildert werden, zum mindesten in der Abart zweifelhafter Zuverlässigkeit und schwer zu überwindender Neigung zum Machtmissbrauch. Hier, wenn irgendwo, zeigt sich die Ambivalenz alles der psychischen Sphäre Zugehörigen. Ähnlich wie das allein, was an und für sich Gift ist, als Medikament heilen kann — wovon des Amfortas Speer ein geistiges Sinnbild gibt —, ist alles sehr Hohe dem Niedersten nächstverwandt. Hier kommt alles auf die Akzentlage an. Bestimmt göttlicher Geist allmächtig und letztinstanzlich, dann erweisen sich des Teufels eigenste Werkzeuge als Ur-Attribute Gottes; dann strahlt sonnenhaft, was sonst als Höllenfeuer schwelt. Von hier aus erst versteht man die Hoheit richtender Gerechtigkeit, die, empirisch geurteilt, immer Böses wirkt, insofern sie vergewaltigt und Leiden schafft, von hier aus allein die Möglichkeit der Ideen eines heiligen Krieges und heiligen Sieges. In diesem tragischen und unentrinnbar schuldverhafteten Leben kommt alles auf den End-Sinn an. Absolut guten End-Sinn aber kann nur höchster und reinster Geist geben. An dieser Stelle können wir denn eine Lücke füllen, die unsere Betrachtung der Staatskunst offen lassen musste: das Problem der außerordentlichen Seltenheit des großen Staats-Künstlers gegenüber sonstigen Schöpfern. Die Staatskunst ist bei weitem die schwerste unter allen Künsten, sie setzt zu ihrer Meisterung das höchste Geistesniveau voraus, weil die Mittel, mit denen sie arbeiten muss, nicht nur die vielfältigsten, sondern auf ihrer Ebene zu einem sehr großen Teile unzweideutig und unabänderlich böse sind und kein Zweck die Mittel jemals heiligt.

Wie soll unter diesen Umständen ein für alle gültiger Übergang vom bolschewistischen Geiertum zu sakraler Solarität einzuleiten sein? Solarer Geist ist immer personal — und ganz große Geister sind allzu selten gesät. Dann aber muss die Bereitschaft bestehen, geistige (nicht offizielle, auf materieller Macht begründete) Hierarchie anzuerkennen, und solche fehlt heute in allen Ländern mehr als jemals früher in der gesamten Menschengeschichte. Mit dem demokratischen Gedanken von der ursprünglichen Gleichheit aller Menschen ist das bisher wohl schwerste je vorgekommene Hindernis dem geistig-geistlichen Aufstieg der Menschengemeinschaft in den Weg gelegt worden. Eine sakrale Hierarchie, deren Existenz und Berechtigung schon im Himmel nicht mehr anerkannt wird, wird von der demokratischen Gesellschaft direkt perhorresziert. Wir büßen heute furchtbar für die Sünden, welche entgeistetes Adlertum im Lauf der Jahrzehntausende aufgehäuft hat und die, so wie dies meistens zu geschehen pflegt, auf einmal und seitens persönlich Unschuldiger entgolten werden müssen. Gestehen wir’s uns klar und tapfer ein: ein Übergang zu einer Solarität früherer Artung, so wie sie Evola vorschwebt, ist gänzlich ausgeschlossen.

Doch eben diese bittere Erkenntnis weist uns den Weg zum Heil. Dieser liegt ja niemals dort, wo man ihn suchen möchte, weil dort die größte Wahrscheinlichkeit des Findens zu bestehen scheint. Wir werden den rechten Weg entdecken, wenn wir uns vorher den, der zur Erfüllung des Christentums führte, neu vergegenwärtigen. Zu dieser kam es nicht dadurch, dass das Kreuz den Adler endgültig besiegte und niederschlug, sondern dadurch, dass sich der Adler selbst zum Kreuz bekehrte, wodurch eine Synthese auf höherer Ebene geschaffen ward zwischen Kreuz- und Adlertum. Heute nun, wo sich der Mensch wie niemals je vorher der ganzen Vielfalt und Vielschichtigkeit seines Wesen bewusst geworden ist, wo er sieht, dass es keinen anderen Weg zur Erfüllung gibt, als den über das Sich-Eingestehen der ganzen Wirklichkeit, die zu ihm gehört, so wie diese ist, und über die mutige Auf-sich-Nahme derselben, kann von einer Verwerfung früherer Errungenschaften überhaupt nicht die Rede sein. Eine neue Solarität ist somit so allein zu erreichen, dass sämtliche positive Erreichnisse der christlichen Ära bestehen bleiben als Grundlagen höherer Neugestaltung. Nur oberhalb der Eigen-Ebenen von Kreuz und Adler ist höheres solares Leben zu begründen, genau so wie die große Zeit der Erfüllung des Christentums ein Oberhalb verkörperte gegenüber römischem Adler- sowohl als urchristlichem Kreuzestum. Hier nun müssen wir uns über den Grund-Sinn des bisherigen Aufstiegs des Menschen dem Geiste zu klar werden. Dazu brauchen wir uns nur zu er-innern, denn alles Erforderliche ward in früheren Betrachtungen dieses Buchs bereits gesagt. Dieser Aufstieg ist von Anfang an und durchaus im Sinn immer tieferer Ver-Persönlichung verlaufen. Der Geist hat sich nicht fortlaufend von der Erde abgekehrt, im Gegenteil: immer tiefer, immer vollständiger hat er sich ihr eingebildet. Und das Ideal liegt ganz offenbar in vollständiger Vergeistigung alles Erdgeborenen, so dass dieses dem Geist zu vollkommen botmäßigem Ausdrucksmittel würde. Nun, unter diesen Umständen kann die neue Solarität überhaupt nicht in einer neuen objektiven Ordnungsolarer Artung bestehen, sondern einzig und allein darin, dass der persönliche einsame Geist in jedermann, nunmehr nicht hingebend dem Himmel, sondern ausstrahlend der Erde zugewandt, eine Weihung und Heiligung des ganzen Lebens vornimmt.

Die wahre Aufgabe ist also keine offizielle, keine des Forums, sondern eine intime, des Atriums. Zu aller echt-religiösen Zeit bestand die Verbindung zu Gott vom Herde und nicht vom Marktplatz her. Das heißt: auch dort, wo der Kultus öffentliche Riten forderte, lag deren jeweiliger religiöser Sinn im Subjekte, welches sie vollführte. Fortan wird sich diese Wahrheit immer schärfer und klarer ausprägen und immer unabhängiger von kollektiver Übung. Jeder für sich wird fortan die Ganzheit seines Lebens zu heiligen trachten müssen. An anderer Stelle, wenn ich mich recht erinnere, vor bald zwei Jahrzehnten drückte ich das gleiche so aus, dass im zu gewärtigenden Integrationsprozess die Differenzierungen zwischen Religion, Wissenschaft usf. in dem Sinne eingeschmolzen werden würden, dass alle Betätigungen des Menschen fortan aus der gleichen Höhe inspiriert werden würden, wie bisher nur die differenzierte Religion. Im Zusammenhange dieses Buches können wir den gleichen Gedanken folgendermaßen fassen: es muss gelingen, jede nur mögliche Betätigung, die als solche in jeder Schicht und auf jeder Ebene des Menschenwesens Sondergesetzen folgt, nicht nur auf das einsame Freie zurückzubeziehen, sondern dieses seinerseits zu verankern im überpersönlichen transsubjektiven Geisteskosmos, so dass dessen Sein und Norm unwillkürlich durch jedes einsame Selbst hindurchwirkte. Nicht jedoch im Sinne christlich-schroffer Scheidung zwischen Mensch und Gott, aber auch nicht im Sinne irgendwelchen Monophysitentums: sondern in dem Verstand, dass sich der Mensch fortan, seines Mikrokosmos-Charakters und damit seiner Universalität vollkommen bewusst geworden, eingestandenermaßen als die Vielfalt erlebe, die er ist, und so auf neuer Ebene das gleiche Leben als Rolle in einem geistgeschaffenen Schau-Spiel (SM, XII) zu spielen fähig werde, welches der Sage gemäß die großen sakralen Könige der Vorzeit spielten. Überdies aber bewusst als Element hineinbezogen in die polyphon differenzierte und orchestrierte geistige Menschheitseinheit, allem gegenüber offen, jegliches Du liebevoll als sich zugehörig anerkennend, nichts innerlich ausschließend, als Einsamer sich in jedem anderen Einsamen wiedererkennend und so eine Gemeinschaft schaffend Jenseits der letzten Einsamkeit.

1 Als moderne Re-evokation dieser gewaltigsten aller Visionen aus frühchristlicher Zeit empfehle ich Wladimir Solowjows Drei Gespräche.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
XII. Heiligung
© 1998- Schule des Rades
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