Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

III. Der Ur-Zusammenhang der Menschen

Individual- und Kollektivtriebe

Da diese Verhältnisse selten richtig gesehen werden, so einfach sie im Grunde sind, so tut es vielleicht not, hier mehr als sonst bei Besonderem zu verweilen. In jedem, welcher als sozial und persönlich vorbildlicher Normalmensch wirkt, leben die individuellen und die kollektiven Tendenzen seiner Natur in irgendeiner Form zwar nie konfliktlosen, doch immer fruchtbaren labilen Gleichgewichts zusammen, und gerade dieser harmonische Konflikt ist es, welcher dank der andauernden Spannung, welche er bedingt, zugleich den Einzelnen und die Gemeinschaft lebendig erhält und produktiv macht. Denn alles Leben ist ein Spannungszustand, und endgültige Spannungslösung bedeutet allemal Tod. Sein Kollektivbewusstsein ist es, das im Einzelnen den Sinn für Wettkampf, Ruhm, Erfolg, Hingabe und Opfer weckt, und die Gemeinschaft hinwiederum wird durch den Widerstand individueller Freiheit und individuellen Sonderwollens vor Abgeschlossenheit und Erstarrung bewahrt. Ist einer nur Individual-Wesen, dann ist er pathologischer Egoist; ist er nur Kollektiv-Wesen, dann fehlt ihm Persönlichkeit und damit das spezifisch Menschliche. Doch diesseits der Grenzen der Pathologie gibt es viele mögliche und vom Gesundheitsstandpunkt gleich normale Gleichgewichtsformen zwischen individuellen und kollektiven Strebungen. Das starke Vorherrschen des Individuellen in der Seele ist das wichtigste Differenzialkennzeichen des nordisch-europäischen Menschen.1 Daher sein Weitengefühl, sein Drang in die Ferne, die Leichtigkeit, mit der er seine Wurzeln verliert oder abreißt, sein Eroberertum, sein besonderer Aktivismus, seine Leistungsfähigkeit und schöpferische Sachlichkeit. Bei den Asiaten und merkwürdigerweise auch, und dies sogar mehr und mehr, bei den Nordamerikanern, obgleich diese die Nachkommen der extremsten Individualisten Europas sind, überwiegt das Kollektive in der Einzelseele (A, II, 3, 4). Bei letzteren tut es dieses so sehr, dass die Nordamerikaner heute unter weißen Menschen als die einzigen geborenen Sozialisten gelten dürfen. Wer, als ich 1928 zuerst darauf hinwies, an der Richtigkeit dieser meiner These zweifeln mochte, wird es ab 1934 kaum mehr tun, wo er gesehen hat, wie Franklin D. Roosevelt, obschon jenseits des Wassers alle Voraussetzungen für europäischen Sozialismus, jede soziale Zwangsorganisation und jede Tradition staatlicher Reglementierung fehlen, dank dem ursprünglichen sozialen Sinn der Amerikaner ohne auch nur annähernd vergleichbare Vollmacht und fast ohne Freiheitsbeschränkung Ähnliches erreichte, wie Europas Diktatoren. Da die Amerikaner Sozialisten sind, bedarf es eben der Zwangsmaßnahmen nicht, welche der europäische Individualismus zwecks Erzielung ähnlicher Umstellung erheischt. Eben deshalb findet kein sozialistisches Programm drüben erhebliche Anhängerschaft. Woraus umgekehrt folgt, dass der Marxismus mit seinem Ideal der Zwangsverstaatlichung Exponent ursprünglicher Schwäche oder Verdrängung oder Verkennung der sozialen Triebe ist: die Frage des Zwanges stellt sich immer allein dort, wo etwas nicht von selbst geschieht.

Das harmonischeste Gleichgewicht zwischen individuellen und sozialen Tendenzen eignet in Europa den Menschen des Mittelmeerbeckens. Daher deren besonderer Sinn für Maß und Einklang und schöne Form und deren besondere, von allen rationalen Erwägungen unabhängige Humanität. Hierauf vor allem beruhte die Vollendung der Antike. Diese kennzeichnete so vollendete Entsprechung von Gemeinschaft und großer Persönlichkeit, wie solche bisher kein zweites Mal die Erde geziert hat. Diese besondere Entsprechung war freilich allein im Rahmen der Polis möglich, deren Umfang dermaßen klein war, dass sich in ihr das Problem Gemeinschaft — Persönlichkeit wenig anders stellte, wie in der Großfamilie oder in einer exklusiven Adelsgenossenschaft. Doch auch die unmittelbaren Erben der antiken Kultur, die romanischen Völker, sind durch einen höheren Grad von Einklang zwischen Individual- und Kollektivtrieben gekennzeichnet, als alle germanischen (AV, XIV). In Italien zuerst entfaltete sich die im modernen Verstande selbstherrliche Persönlichkeit; dort erlebte sie ihren bisherigen Höchstausdruck. Und dennoch: so selbstherrlich sie sich fühlte, sie stand objektiv doch nicht außerhalb der Gemeinschaft, sondern sie wirkte als deren anerkannte Höchstblüte. Dies war das Epoche-machende am Phänomen der Renaissance. Heute herrscht das glücklichste Verhältnis von Individuum und Kollektivum in Frankreich, woselbst jeder Bedeutende, was immer er geistig vertrete, als für die Nation repräsentativ anerkannt wird und dabei nie darauf kommt, Gemeinschaftsbande zu verleugnen. Auf politischem Gebiete — aber auch nur auf ihm — ist heute der beste Einklang in England anzutreffen. Doch ursprünglich geht dieser auf den romanischen Einschlag zurück. Die Normannen waren, obgleich beinahe rein nordischen Bluts, schon zur Zeit Wilhelm des Eroberers Europas ausgesprochenste Vertreter des in ihren Südreichen assimilierten römischen Geists, und sie haben das englische Volk geprägt (AV, XIII). Dank dem ist der nordische Individualismus in England politisch am fruchtbarsten geworden; er hat dort nie Gemeinschaft-sprengend gewirkt, und ist dabei noch heute ebenso stark ausgeprägt, wie er es bei den wilden Wikingern war. Daher das englische Weltreich; dieses beruht ganz und gar auf dem eingeordneten Zentrifugalen des Nordeuropäertums.

Vollkommener Einklang zwischen individuellen und sozialen Trieben scheint natürlich das soziale Ideal zu sein. Aber: ist der Einklang vollkommen, dann fehlt, jeder Antrieb zur Änderung und damit zum Fortschritt. Daher die Notwendigkeit, gerade vom Standpunkt des Ganzen, schöpferischer Einzelgeister, die in ursprünglichem und schmerzlichem Gegensatz zur Gruppe stehen, welcher sie angehören. Ich glaube nicht, dass es je irgendeinen großen Geist gegeben hat, der nicht an erster Stelle diesen Gegensatz gespürt hätte. Hier ist für die Antike der frevelnde Prometheus Prototyp (damals bildeten Götter und Menschen eine Gemeinschaft), für die Kulturen des Zweistromlandes Adam, der die paradiesische Gemeinschaft sprengte, für den Norden der Einherier, der Einzelkämpfer, oder der Recke, der outcast, der gegen seine Sippe Stehende, welcher lieber neue Völker gründete als sich dem seinen anpasste. Liebte ein wirklich großer schöpferischer Geist das Kollektivum, welchem er zugehörte, wirklich, dann handelte es sich, wir sagten es schon, nie um die menschliche Umwelt in ihrem Sosein, in die er hineingeboren war, sondern um das Werk, das er aus dem ihm gegebenen Materiale schaffen wollte. Mit Absicht, verwende ich so oft als irgend möglich das neutrale Wort Kollektivum: es ist nämlich ganz und gar unmöglich, das, worauf sich die Kollektivtriebe im Menschen beziehen, im voraus abgrenzend zu bestimmen. Der Mensch ist dasjenige Tier, welches durch Vorstellung und innere Entscheidung selbst die Formen und Grenzen schafft, welche bei anderen Geschöpfen von der Natur ein für alle Male vorausbestimmt wurden. Nur der Gemeinschaftstrieb als solcher ist unabänderlich da; von nicht einer einzigen Gestaltung, zu welcher er führt, kann gesagt werden, dass sie naturnotwendig sei. Bienen müssen in Völkern oder Staaten, Paviane in Rudeln leben: für den Menschen ist keine Form des Zusammenlebens notwendig, ist andererseits keine, die den Gesetzen von Leib, Seele und Geist nicht widerspricht, unverwirklichbar. Nationen im Sinn des 19. Jahrhunderts gibt es erst seit der Französischen Revolution, und heute ist ein neuer Volksbegriff im Werden. Es gab nicht immer noch überall Völker, es gibt vielerorts noch heute bestimmende Sippen und Stämme. Innerhalb mancher Imperien ist Volkstum unwichtig, innerhalb mancher auf Religion begründeter Gemeinschaft gleichgültig erschienen. Es gab und gibt Orden, letztbestimmende militärische, ökonomische, weltanschauliche Verbände: in allen aufgezählten Gemeinschaftsformen und allen nur denkbaren mehr kann das angeborene Sozialbewusstsein des Menschen sich, grundsätzlich gesprochen, gleich vollständig ausleben. Welche Form gewählt wurde, hat bei Menschengemeinschaften höherer Wachheits- und Intellektualisiertheitsstufe allemal von der freien Entscheidung einzelner schöpferischer Geister abgehangen, welche zugleich im Besitz der Machtmittel waren. So hat Moses das erste Judentum geschaffen, indem er Geist, Blut und Boden in ganz bestimmten, anderweitig unbekannten Zusammenhang setzte. Gott hätte ein bestimmtes Blut mit einem bestimmten geistigen Auftrag versehen und ihm dafür ein bestimmtes Land gelobt: diese Sondergleichung der jüdischen Gemeinschaft hat das Judentum schon damals aus den übrigen Völkern, deren Lebensgleichungen alle untereinander ähnlicher waren, als sie der jüdischen ähnelten, ausgesondert. Moses Werk vollendete aus den gleichen Grundvoraussetzungen heraus Esra, gewaltsam und willkürhaft, doch mit dem Erfolg, dass es seither ein Volk auf Erden gibt, das sich nicht allein von allen anderen unterscheidet, sondern auch wie kein zweites durch allen Wandel und alle Katastrophen hindurch in seiner Eigenart durchhält.

Von hier aus gelangen wir dann zur Bestimmung eines der wichtigsten Punkte des Gemeinschaftsproblems. In jedem Menschen leben Individual- und Kollektivtriebe, und letztere sind bei ihm an sich nicht schwächer als bei irgendeinem Herdentier. Aber der schöpferische Einzelne ist es beim Menschen, welcher Mal für Mal die Gemeinschaftsform schafft. Von selbst ist sie bei Menschen nur in Urzuständen erwachsen, zu welchen Urzuständen auch derjenige des heutigen russischen Volks gehören dürfte, wo das Sowjetsystem (wohl zu unterscheiden vom Kommunismus!) 1917 überall, wo echte Russen lebten, ganz elementar in Form pilzartig hochkommender Sowjet-Zellen erwuchs. Innerhalb aller höher differenzierten Zustände hat keinerlei Urwir jemals die soziale Entwicklung von innen her beherrscht. Dementsprechend künden alle Mythen von Manus, von ersten Gesetzgebern, die sich gewaltsam durchsetzten. Umgekehrt hat noch kein einziges Mal in der Geschichte eine Gemeinschaft als solche einen großen Einzelnen hervorgebracht, oder auch nur seinen schöpferischen Urgrund bedeutet: immer lagen die Dinge umgekehrt, so sehr, dass sich der große Einzelne schon in allerfrühester Zeit in schmerzlicher Spannung und in bewusstem Gegensatz zu dem ihm zugehörigen Kollektivum fühlte und befand. Die Unmöglichkeit, große Männer aus religiöser Gemeinschaft, Volkstum, Staat u. ä. abzuleiten, ist es, welche immer erneut den Glauben nährt, die Welt werde im Geheimen von einer Hierarchie hoher aber als solcher unerkennbarer Meister regiert. Der mittelmäßigen Masse fällt es eben gar zu schwer, zu glauben, dass es wirklich Einzelne gibt, die so schöpferisch wären, wie sie sich ihre Götter dunkel vorstellt. Sie kann nur an die Macht der Zahl glauben, welcher Glaube in Lenins Dogma von der Schöpferkraft der Massen seinen jüngsten Ausdruck gefunden hat. In einem nun aber hat der angedeutete unausrottbare Glaube recht: der große Einzelne verkörpert allemal einen anderen Typus als die Gruppe, in welcher er lebt, und ist von deren Voraussetzungen her schwer oder gar nicht zu verstehen.2 Er ist nie artgerecht; er stellt ihr gegenüber ein organisch Neues dar. Dieser Umstand bestimmt denn auch jedesmal den Charakter der Fortentwicklung. Aus den Impulsen, welche von Jesus und Paulus ausgingen, erwuchs ein neuer religiöser Typus, nämlich der Christ; ein gegenüber den Juden und antiken Heiden vollkommen Neues. Das Auftreten großer sozialpolitischer Initiatoren führt zur Schöpfung neuer sozialer Typen, wie solche heute der Bolschewist und Nationalsozialist gegenüber den Vertretern des 19. Jahrhunderts darstellen, oder gar zur Schöpfung neuer Volkstypen. Völker sind nachweislich nichts Ewiges, denn nicht das Blut und der Boden allein machen sie zu dem, was sie sind, sondern schier unbegrenzt viele zusammenwirkende Faktoren,3 zu denen vor allem auch die Summe der Vorstellungen gehört, zu denen sie sich traditionell bekennen und die auf jede neugeborene individuelle Seele neu zurückwirken. Diese Vorstellungen sind aber allemal von individuellen Volksbildnern geschaffen worden. So haben die Führer des Puritanismus und vor allem des Methodismus in ihrer Auseinandersetzung mit älteren Typen den modernen Engländer erschaffen, die Vorkämpfer der Ideen der Französischen Revolution und der darauf folgenden Kriege und Restaurationen den heutigen Franzosen, die großen Preußenkönige den Preußen. Eine Einschränkung findet die rein persönliche Schöpfermacht des Einzelnen, wir sagten es schon, ausschließlich am Material: ein dem gegebenen elementaren Volkscharakter nicht Gemäßes kann aus einem Volk für die Dauer ebensowenig gebildet werden, wie aus Marmor ein vollkommenes Bildwerk zu meißeln ist, welches den Eigengesetzen dieses Gesteins nicht Rechnung trägt. Solche großen Bildner nun müssen dem vorherbestehenden Kollektivum gegenüber notwendig fremd wirken; sie sind tatsächlich anders. Daher die Überlieferung fast aller alten Völker, dass die ersten Völker- und Staatengründer aus der Fremde gekommen wären.

Hiermit hätten wir bereits das Problem des Ur-Zusammenhangs des Menschen so eingestellt, wie es vom Problem des persönlichen Lebens her gesehen werden muss. Was dem Menschen dieser Wendezeit besonders schwer einzuleuchten scheint, ist dies, dass es gerade keines Verzichts des Individuums als solchen bedarf, auf dass der als minderwertig erwiesene individualistische Atomismus überwunden würde; es bedarf, ganz im Gegenteil, einer Bereicherung des Individuums als solchen. In diesem leben ja die sozialen Tendenzen, welche es neu zu entwickeln gilt. Das Individuum und das individuelle Bewusstsein ist aber nicht nur bei schöpferischen Großen, sondern bei schlechthin jedem Menschen, so unbedeutend er sei, das eine Aktionszentrum, aus dem er ohne Selbstbelügung leben kann. Der Geführte und Gehorchende, welcher fremde Gedanken aus Autoritätsglauben übernahm, muss allemal seine persönliche Überzeugung, seinen persönlichen Mut, sein persönliches Verantwortungsgefühl ein setzen, wenn er nicht Verrat an sich selber üben will. Solcher Verrat hat sich in der bisherigen Geschichte beinahe ausnahmslos auf die Weise gerächt, dass später an dem, welchem man gegen seine Überzeugung folgte, unheimlich leichten Herzens Verrat geübt ward. An solchem Verrat ist die deutsche Geschichte von allen bekannten vielleicht am reichsten, weil kein anderer mir bekannter Menschentypus so leicht ihm persönlich nicht Gemäßes übernimmt. Er tut es aber immer nur freibleibend und unverbindlich. Wo Menschen typischerweise aus eigenster Überzeugung handeln, ist Verrat selten. Hier sei denn gleich auf eine besondere Gefahr unserer Zeit hingewiesen, die in diesem Maße früher nie existiert hat. Zu allen Zeiten war es Massensuggestion, welche die Massen in Bewegung setzte. Jede Masse ist als solche ein Untermenschliches, in welchem der Einzelne unter Verzicht auf Eigenüberzeugung und Eigenverantwortung zeitweilig untertaucht.4 Dieses Untermenschliche ist das ideale Medium: auf rechte Art kann ihm schlechterdings alles suggeriert werden, sogar solches, was jedem Einzelnen, der die Masse zusammensetzt, unerträglich oder widerwärtig ist. Aber die Suggestibilität dauert wenig länger, als die Masse beisammen ist, und in der Erinnerung wirkt erteilte Suggestion sehr unsicher fort. Dank den modernen Raumüberwindungs-, Wort-, Gedanken- und Gefühlsübertragungsmitteln findet nun unwillkürlich und schicksalhaft Vermassung sogar dort statt, wo keine, ja wo ihr Gegenteil beabsichtigt wird. Daher die Möglichkeit des Kollektivismus, welchen es so nie früher gegeben hat. Daher die ungeheure Gefahr, dass das Streben nach Gemeinschaft, zeitweilig wenigstens, zu einer Entindividualisierung und damit Entmenschung des Menschen führen könnte. Sie hat in vielen Fällen bereits zu ihr geführt. Da ist denn auf Grund alles hier Auseinandergesetzten festzustellen und festzuhalten: was also von außen her beeinflusst werden kann, gehört nicht zum persönlichen und damit zum eigentlichen Menschen. Es gehört zum Nicht-Ich. Deswegen wird es in bezug auf den innerlichen Menschen gar nichts beweisen, wenn dank geschickter Suggestion das Gemeinschaftsproblem irgend einmal sogar vollkommen gelöst erschiene: sobald dann das Individuum wieder zu sich selbst käme, würde es in überstarker Reaktion alles von seinem Standpunkt künstlich Erreichte wieder zerschlagen. Seitdem sich der Mensch einmal soweit individualisiert hat, wie beim heutigen Abendländer geschehen ist, sind Problemlösungen, welche frühen Entwicklungsstufen gemäß sind (so wie der Bolschewismus Russland bis zu einem gewissen Grade wirklich gemäß ist), keine Lösungen mehr.

Nun ist wohl klar, dass es direkten Widersinn bedeutet, um der Gemeinschaft willen das Individuelle unterdrücken zu wollen. Der Mensch will neu kommunizieren mit dem Nicht-Individuellen, welches zu ihm gehört und von dem er in der Periode des atomistischen Individualismus abgeschnürt worden war. Nun, dieses Kommunizieren bezieht sich in erster Linie auf das Kollektive innerhalb des Individuums. Dieses selbst hat kollektive Tendenzen, und dieses Eigene wurde im Lauf des letzten Jahrhunderts geschwächt und unterdrückt. Auf die anderen kommt es psychologisch erst an zweiter Stelle an, als vorherbestimmten Gegenstand für die kollektiven Tendenzen in sich. So ist sogar das Gemeinschaftsproblem letztendlich ein persönliches. Der persönliche Mensch muss anders werden. Wird er nun anders, wird er sich der Gemeinschaftstriebe in sich neu bewusst, lernt er wieder der Gemeinschaft geben, was der Gemeinschaft ist — dann wird er dadurch nicht ärmer, sondern reicher werden, nicht Selbst-loser, sondern, gerade umgekehrt, größerer Selbst-Fülle teilhaftig.

1 Mit besonderer Prägnanz arbeitet diese Seite des Nordentums Julius Evola in seinem Buch Heidnischer Imperialismus (deutsche Ausgabe, Leipzig 1933, Ararnanen-Verlag, bes. S. 40 ff.) heraus. Die betreffenden Stellen dieses Buchs, das sich leider im übrigen, wie alle Bücher Evolas, in mehr als erträglichem Grade auf vorgefassten Meinungen und einem nicht-originalen Verhältnis zu den Voraussetzungen aufbaut, welche er vertritt, sollte jeder lesen, welcher im Wahn befangen ist, dass die Ideen von Kollektivismus und Hierarchie je für die Dauer vereinbar sein könnten. Vgl. auch Evolas Rivolta contra il mondo moderno S.386.
2
In ähnlichem Sinne meinen es die Theosophen, wenn sie das Zukunftsheil von einer neuen (siebenten) Rasse erwarten, die überall unbemerkt schon im Entstehen sei. Ouspensky behauptet (Nerv Model, p. 121), das Menschengeschlecht sei in stetiger, langsamer Mutation begriffen, aber nie als Ganzes, sondern immer nur so, dass Einzelne innerhalb verschiedener Völker einen neuen höheren Typus verkörpern.
Ein neuer Menschentyp erwächst eben jetzt mitten unter uns. Die Selektion findet innerhalb aller Rassen und Nationen der Erde statt, mit Ausnahme der zurückgebliebensten und der entartenden. Zu letzteren gehören die Rassen, die man meist als die fortschrittlichsten ansieht: in Wahrheit sind sie vollkommen in Pseudo-Kultur versunken.
3 Zur Verdeutlichung des hier nur kurz Gesagten setze ich einen Gedankengang aus dem Kapitel Blut der Südamerikanischen Meditationen her:
Jedes Lebewesen passt sich seiner Umgebung an oder wird von dieser gemodelt. Die extreme Variabilität und besondere Sensibilität des Menschen bedingt, dass dies bei ihm im höchsten Grad der Fall ist. Auf die Dauer entsteht allemal als letzte Gegebenheit eine Synthese von Erde und Blut, welche so fest und zäh ist, dass der Irrtum wohl verständlich ist, der Oswald Spengler unterlief, da er die Wurzel aller Kultur einseitig in der Landschaft sah. Wäre Spengler im Recht, dann hätten so viele Kulturwandlungen auf gleicher Erde unmöglich stattfinden können. Wohl aber stellt einmalgeschaffener Zusammenhang von Blut und Erde eine unauflösliche Einheit dar. Je länger er gedauert, desto schwerer gelingt es, eine Gestaltung einseitig auf das eine oder das andere Element zurückzuführen. Sogar das ursprünglich Geistgeborene tritt dann als integrierender Bestandteil in die Synthese von Blut und Erde ein, das Wort wird Fleisch, und nur im Fleische ist es wirksam. Das aber bedeutet, dass nicht das an-sich-Sein des Geistes, nicht seine Wahrheit, nicht sein Wert die kulturelle Bedeutung bedingt sondern seine Wirklichkeit im Rahmen der Erscheinung, als Verstanden Werden und Betätigung. Dies nun hängt ausschließlich von den vitalen Kräften ab, die ihn empfingen. Was Spengler zu seiner Theorie einer selbständigen Landschaftsseele verführt hat, ist der Umstand, dass die Lebensmodalität des Menschen, je mehr er sich verwurzelt, desto mehr mit derjenigen der Pflanze konvergiert, die in ihre Umwelt unlösbar hineinverwoben ist. So erweisen sich alteingesessene Völker auf die Dauer wirklich als Kinder der Gesamtlandschaft, welcher sie zugehören: so sehr leben sie von ihr her und auf sie hin. Empfindungen entstehen aus Umweltseindrücken; diese setzen sich in Gefühle um. Letztere heften sich an die Umwelt, welcher sie angemessen sind; sie steigern sich durch gegenseitige Ansteckung, differenzieren sich; das Differenzierte fixiert sich, die verschiedenen Zweige verschiedener Wurzeln anastomosieren sich, und schließlich ist tatsächlich eine besondere Landschaftsseele da, welche freilich von den besonderen Menschen, welche sie bewohnen, abhängt, doch einmal vorhanden, als psychische Atmosphäre jeden Eingeborenen von Hause aus bildet und je den Zuwanderer ergreift. Diese Landschaftsseele ist das geschichtlich Entscheidende, so lang sie lebt. Sie zu besiegen gelingt sogar Religionen, von Theorien zu schweigen, nie, denn der einseitigen Machteinheit des Geistgeborenen steht da ein Gefüge sämtlicher Kräfte entgegen, welche den Menschen machen in seinem Zusammenhang mit der Natur. Sitten, Gebräuche, Gewohnheiten sind auf die Dauer so festgelegt in ihrer Eigenart wie körperliche Funktionen. Ob der Zusammenhang von Mensch und Landschaft die Form einer Kultur annimmt, hängt nur insofern von der Landschaft ab, als Kultur sich nur bei Verwurzelung entwickelt. Nomaden sind meist geistiger als seßhafte Völker, aber als solche und für sich allein bringen sie Kulturen nicht hervor. Über dieses ganz Allgemeine hinaus entscheidet bei aller Kulturentstehung das Blut und dessen Fähigkeit, Geist zu empfangen und Geistiges zu gebären. Wohl mag Erde die zur Geistesbetätigung erforderlichen Organe spezifisch anregen und ihr Wachstum fördern; so hängt die religiös-metaphysische Begabung der Inder sicher irgendwie mit den Kräften der indischen Erde zusammen. Doch Kultur steht und fällt mit ihrem Sinn und geistigen Gehalt, und niemals ist dieser aus Erdhaftem abzuleiten.
4 Das Beste mir bekannte über die Psychologie der Massen ist immer noch Gustave Le Bons gleichnamiges Buch.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
III. Der Ur-Zusammenhang der Menschen
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