Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben
IV. Seele
Liebe
Die vorhergehenden etwas umständlichen Betrachtungen mussten angestellt werden, weil der immer wieder von uns als größtes Erkenntnishindernis gegeißelte primitive Drang, zu verallgemeinern und zu vereinheitlichen, gerade auf den Gebieten, welche das vorhergehende und dieses Kapitel behandeln, schwerstzubeseitigende Vorurteile geschaffen hat. Nur wenige wissen heute, was Gemeinschaft ursprünglich ist und wie sich das objektiv bestehende Kollektivum ursprünglich zur Seele und ihren emotionalen Äußerungsformen verhält. Nun aber können wir uns ohne weitere Rück- und Seitenblicke dem Sonderprobleme seelischen Zusammenhanges zuwenden. Die Seele lebt in erster Instanz in eigenem Rechte und auf eigener Ebene. Durchaus subjektiver Artung, fällt sie mit keinerlei objektiven Zusammenhängen notwendig zusammen. Dies festzustellen, ist besonders wichtig in einer Zeit, wo die Bezeichnungen eines unabhängig vom Bewusstsein bestehenden seelischen und kollektiven Unbewussten, so Reales sie betreffen, neue Missverständnisse und Vorurteile zu schaffen im Begriffe sind. Ohne jeden Zweifel hat jede persönlich bewusste Seele über deren Grenzen hinausreichendes echt Seelisches, und nicht nur Unterweltliches und unpersönlich-Kollektives, zum Hintergrund. Doch der springende Punkt hierbei ist, dass die persönliche Zentriertheit des an sich über die bewusste Person Hinausreichenden eigenes Seelisches allererst dem Menschen persönlich zugehörig macht. Auf das Eigene kommt hier alles an. Hierauf beruht die ganze Möglichkeit von Begriffen wie denjenigen der persönlichen Ergriffenheit, des persönlichen Einsatzes, der persönlichen Verantwortung, persönlichen Tuns und Leidens, der persönlichen Liebe und des persönlichen Schicksals. Das psychische Geschehen, welches nicht also in der Person ihr Zentrum hat, rechnet keiner sich persönlich zu. Und so besteht die positivste Aufgabe aller psychoanalytischer Behandlung darin, mit der Person nicht vereinigtes Psychisches mit ihr zu verschmelzen; bis das gelingt, wirken Komplexe wie richtige fremde Geister, von denen ein Mensch besessen worden ist. Seele gibt es also nur in bezug auf das persönlich Individuelle, und überhaupt nicht in bezug auf das Kollektive im Individuum. Es fehle die subjektive reale Bezogenheit — und der objektiv noch so fundierte oder vorbereitete Zusammenhang ist faktisch nicht da. So ist es denn wirklich die Seele, welche den Menschen macht im Unterschied vom Tier.
Die Seele nun lebt sich in schlechthin eigener Sphäre aus. Von sich aus schafft sie die Zusammenhänge, die für sie wirklich sind, obschon diese Schöpfung in der Mehrheit der Fälle den Charakter des Pathos, einer Passion, eines Ergriffenwerdens und nicht den eines Ergreifens, einer Betätigung oder des Ethos trägt. Den prototypischen Ausdruck seelischen Zusammenhangs stellt die Liebe dar. Es ist kaum fasslich, wie aufmerksame Beobachter je darauf kommen konnten, diese mit Geschlechtstrieb, Gana-mäßiger Verfallenheit (SM, 162 ff.) oder gar mit ursprünglichem Gemeinschaftsempfinden zu identifizieren: ihr Wesentliches ist gerade, dass sie an keine Naturbande notwendig geknüpft ist. Wer sich darüber klarwerden will, was seelische Liebe zwischen den Geschlechtern ursprünglich bedeutet, der vergegenwärtige sich doch, was in jungen Seelen vorgeht, welche Liebe zum erstenmal befällt. Bei Jungfrauen ist sie auf Sexuelles völlig unbezogen; sie ist ein ausschließlich seelisch Zuständliches, ein wesentlich Reines
, Idealistisches, Romantisches, jeder sachlichen und objektiven Erwägung Unzugängliches. Und bei dieser Beschaffenheit bleibt es, bis dass Gana und Körper mit anklingen und schließlich mit ergriffen werden; wesentlicher Einklang von Seelischem und Physiologischem schafft bei seelisch bestimmten Frauen meist erst die Mutterschaft. Doch auch der Jüngling begehrt zunächst gerade nicht, wo er seelisch liebt; wo immer Sexuelles bei ihm den Vordergrund des Bewusstseins beherrscht, bedeutet das, dass seelische Motive die geringere Rolle spielen. Dass Liebe und Begehren einander zunächst nicht nur de facto ausschließen, sondern ausschließen müssen, beweist die eine Erwägung, dass alles echte Gefühl wesentlich desinteressiert ist (SM, 233 ff.). Alles echte Gefühl ist ausstrahlend wie die Sonne; die Frage des Besitzenwollens kann sich daher von ihm aus gar nicht stellen. An dieser Stelle sehen wir, nebenbei bemerkt, dass, wenn Ich-Sucht auf der Elementarstufe ein Beweis pathologischen Geizes ist (S. 138), sie auf der Ebene der emotionalen Ordnung eine Monstrosität darstellt. Dass die meiste Theorie, von der wir wissen, eine ursprüngliche Identität von Eros und Sexus setzt, liegt wohl vor allem an zweierlei: erstens an der natürlichen Neigung des Verstandes, Objektives und Zweckbezogenes gegenüber dem Subjektiven und Zweckfreien für wichtiger zu halten, zweitens an der spezifisch männlichen Psychologie: beim Mann, im Gegensatz zum Weibe, wird die Seele meist später ergriffen als die Gana; der Geschlechtstrieb ist im Manne von der Pubertät ab allezeit wach, unabhängig von aller seelischen Ergriffenheit, und dieser ist auf Besitz aus. Tatsächlich aber lebt die Seele und damit die eigentliche Liebe immer auf besonderer, allen anderen gegenüber selbständigen Ebene. Und ergreift sie andere, so bedeutet das, dass sie sich auf diese projiziert. So sahen wir bereits, dass an sich unpersönlichste und unabhängig von aller Seele bestehende kollektive Bindungen be-seelt werden können.
Aus dieser Möglichkeit der Projektion ergibt sich nun mehrerlei. An erster Stelle die ursprüngliche Unbestimmtheit oder Nicht-Festgelegtheit des Liebes-Gegenstands. Es ist für einen gefühlsmäßig reichbegabten Mann ursprünglich genau so natürlich
, eine Frau, einen anderen Mann, seine Familie, seine Freundschaft
, seine Klasse, seinen Stand, seine Armee, seinen Fürsten, seinen Staat, sein Volk, ja die Menschheit und Gott persönlich zu lieben. Wenn ich mich recht erinnere, so hat Bergson gar irgendwo behauptet, die mystische Liebe sei der Liebe Prototyp. Hat er das behauptet, so ist ihm insoweit zuzustimmen, als solche Liebe die reinste
ist: nur der Geist scheint hier mit der Seele mitergriffen; alle sonstigen Formen von Liebe stellen Amalgame von seelischem Gefühl, nicht- und unter-persönlicher kollektiver Bindung, Gana- und Unterweltsmotiven und rein körperlichen Trieben dar. Ich beeile mich, hinzuzufügen, dass, wenn ich das Primat der Liebe vor dem Sexus anerkenne, mir selbstverständlich nichts ferner liegt, als irgendeiner der modernen Theorien vom Eros zuzustimmen: dass dergleichen ungegenständliche Spekulation Kurs haben kann, beweist nur dies, wie tief unter Kants Niveau so manches repräsentative Denken dieser Zeit seinen ideellen Ort hat. Man darf und soll freilich weiter gehen auf der Bahn des radikalen Realismus, als solches einem Kant aus Zeitgründen möglich war, aber man darf nicht mehr hinter ihn zurückfallen, genau so, wie man wohl zwar mehr, nicht jedoch weniger als gesunden Menschenverstand besitzen darf. — Es mag also sehr wohl sein, dass die mystische und nicht die Liebe zwischen Mann und Weib der Liebe Prototyp ist. Dafür spricht, dass es kein Geist- und Seele-begabtes Volk gibt, das nicht von himmlischer Liebe wüßte, während die zwischen Mann und Weib bei vielen hochentwickelten Völkern überhaupt keine nennenswerte Rolle spielt; so heute unter Ostasiaten und Russen, und vormals bei den Völkern unserer Antike. Noch Augustin ahnte nichts von seelischer Liebe zwischen Mann und Weib, und zu bestimmender Macht erwuchs diese in Europa erst dank dem Einfluss der Liebeshöfe der Provence. Unter allen Umständen aber gibt es, noch einmal, keinen Zusammenhang, auf welchen sich Liebe nicht projizieren könnte. Es gibt eine echte Liebe zum Beruf, unter Deutschen in besonders reicher Ausgestaltung echte Liebe zur Sache
. Jedes Gefühl ist wesentlich gerichtet
oder ausgerichtet
; es heftet sich an einen Gegenstand; so kann es sich auf jeden auf anderer Ebene bestehenden Zusammenhang projizieren und diesen damit transfigurieren. So ist es sehr wohl möglich, dass der Nationalsozialismus dereinst in Deutschland eine echte und ursprüngliche Liebe zum Volk als typische Allgemeinerscheinung schaffen wird, so selten solche bisher gerade in Deutschland lebendig war. Merkwürdig wenigen scheint es aufgefallen zu sein, dass der glühende Patriot von allen Völkern von jeher als Ausnahmemensch gefeiert worden ist. Das hat seinen guten Grund: normalerweise erwacht bewusster Patriotismus als Leidenschaft, schon gar als kollektive Leidenschaft, nur im Augenblick akut empfundener Gefährdetheit, also als Gefühls-Transfiguration des Sicherheitstriebs.
Das zweite, was sich aus der Möglichkeit der Projektion von Gefühlen ergibt, ist dies, dass die verschiedensten Gefühle auf gleiche Weise projiziert werden können. Dies erklärt die so völlig verschiedenen Seelenstimmungen, welche die Menschengemeinschaften in Raum und Zeit beherrscht haben und beherrschen. Wie sehr der Hass ganzen Völkern ihr Weltbild diktieren kann, hat der Weltkrieg grauenhaft veranschaulicht. Was die französische Psychologie unter dem Intellektualbegriff der participation mystique als Grundlage aller primitiven Weltanschauung beschreibt, ist in Wahrheit ein emotionales Grundverhalten, das durch die Projektion seelischer Zustände und Werte auf die gesamte subjektiv in Betracht kommende Umwelt einen so geschlossenen Zusammenhang schafft, wie ihn unter rationalisierten Menschen kaum je eine Weltanschauung konstruiert hat. Überhaupt bleibt die Emotion immer die Grundlage, weil eben die seelische Ebene als die persönlichen Erlebens die Ebene eigentlichen und differentiellen Menschen-Lebens überhaupt ist. Hierüber schreibt Ouspensky (Tertium Organum
, 2. Aufl., London 1934, S. 217), den ich, je mehr ich mich mit ihm beschäftige, desto entschiedener für den Wissendsten unter den Kennern aller Möglichkeiten, die im Menschen leben, in Europa halte:
Eigentlich existiert in der Menschenseele nichts außer Emotion. Und das Seelenleben eines Menschen ist entweder ein Kampf oder ein harmonischer Zusammenhang zwischen verschiedenen Emotionen. Spinoza erkannte dies ganz klar, da er sagte, dass eine Emotion nur durch eine andere mächtigere Emotion gemeistert werden kann und durch gar nichts anderes. Vernunft, Wille, Gefühl, Pflicht, Glaube, Spiritualität, welche irgendeine andere Emotion überwinden, können nur dank dem emotionalen Element, das sie enthalten, siegen. Der Asket, welcher alle Begierde und Leidenschaft in sich abtötet, tötet sie durch die Begierde nach Erlösung. Wer allen Freuden des Lebens entsagt, dem gelingt es aus der Wollust des Selbstopfers, der Entsagung heraus. Der Soldat, welcher aus Pflichtgefühl oder Gewohnheit des Gehorchens auf seinem Posten stirbt, tut es, weil in ihm die Emotion der Hingabe und Treue ein Mächtigeres darstellt als alles andere. Der, dessen moralischer Sinn ihn dazu bewegt, alle Leidenschaft in sich zu überwinden, tut es, weil der moralische Sinn, das heißt die betreffende Emotion, mächtiger ist als alle seine sonstigen Gefühle.
So sagte schon der Abbé Galiani: La vertu, c’est un enthousiasme
. — Von diesem Grundsätzlichen aus versteht man besser, als sonst der Fall sein könnte, wieso und inwiefern es seelischen Zusammenhang auf der Grundlage so vieler, ja theoretisch unendlich vieler verschiedener Gefühle geben kann. Der platonische Eros war schon Jahrhunderte vor Plato das eigentliche Zement aller seelischen Gemeinschaft unter Griechen; er stellte eine Sublimierung mann-männlicher Freundschaft im Zeichen erstrebter Schönheit und erstrebten Adels, der Kalokagathie, dar. Eben wegen des hohen Gefühlsniveaus, welches die Herrschaft dieses Eros voraussetzen musste, gelangten die Hellenen niemals zu Gemeinschaftsbildungen großen Stils und grenzte sich die Masse, in unbewusster Reaktion gegen den Aristokratismus, früher und klarer als irgendwo sonst im Zeichen der Gemeinheit von den Edlen und Begabten ab. Die christliche Liebe stellte ein völliges Novum dar in ihrem Ursprungsgebiet und ist bis heute ein Einzigartiges geblieben. Sie bejahte den Einzigkeitswert jeder Einzelseele als solcher, und der Glaube an deren Göttlichkeit und Gottgewolltheit bewirkte auf einmal zweierlei: Vertiefung des Persönlichkeitsbewusstseins und grundsätzliche Miteinbeziehung jedes Du zu jedem Ich. Das ist der einzigartige Sinn der christlichen Nächstenliebe. Dank ihr wurde persönliches Gefühl als allübertragbar gedacht; indem geboten ward, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, wurde dem Gefühl sein persönlicher Charakter so weit gewahrt und gesichert, als überhaupt möglich ist. So bedeutet das wahre Christentum gerade nicht soziale Haltung, sondern ein so rein persönliches Verhältnis zum Du, wie jeder es zu sich selbst hat.
Nun mag es mit der Verwirklichung, ja der Verwirklichbarkeit des christlichen Liebesideals wie immer bestellt sein: auf alle Fälle ist das, was man seither unter Menschlichkeit versteht, mit ihm zur anerkannten Norm geworden und wird diese seither immer mehr und immer unabhängiger von allem Dogmenglauben auch von den nicht christlichen Völkern als bindend anerkannt. Auch zu den bösesten Zeiten gab es seit dem Erscheinen Jesu allemal mehr echt-christlich fühlende Seelen als vorher, und das Vorbild dieser Persönlichkeiten bestimmt seither das unmittelbare allgemeine Wertgefühl. — Demgegenüber konnte die buddhistische Liebe, welche das Nicht-Vorhandensein eines Ich voraussetzt und hauptsächlich Mithilfe bei der Aufhebung des Leidens bedeutet, nie zu historischer Macht werden: sie hat nur eine sehr schöne und edle Stimmung geschaffen, die sich im exklusiven Kreis des Klosters und des Heimes auswirkt (RT, II, VI); denn sehr charakteristischerweise ist längst schon die Buddhistin für den Buddhismus wichtiger als der Buddha-gläubige Mann: wie Frauenfremd Gautama persönlich war — seine Seelenstimmung ist von weiblichen Seelen leichter zu reproduzieren als von männlichen. — Wieder ein anderes bedeutet das Gefühl, das dem Islam zugrunde liegt. Ihn kennzeichnet trotz seines Fatalismus durch aus keine Stimmung stillen Duldens, sondern leidenschaftlicher Glaube an die Bruderschaft aller Menschen, die sich zu Gott bekennen, wie Krieger zu ihrem Heerführer (RT, III). Deshalb konnte der Islam von Anbeginn an ein Gefühl kameradschaftlicher Verbundenheit schaffen, welches so stark war, dass es als einziges unter den in der Geschichte bisher wirksam gewordenen rassische und geographische Unterschiede und Gegensätze von innen heraus wirklich überwunden hat. Der Islam aber ist eben so ausschließlich männlichem Seelentum gemäß, wie der platonische Eros. — Ich führe hier nur einige Beispiele unter sehr vielen an. Wie unendlich viel verschiedenes Seelentum in kleinen Kreisen herrschen kann, beweist die Sonderpsyche jedes Volkes, jeder Provinz, jedes Gaus, jedes Hauses, jedes Freundschaftsverbandes und — last but not least — die Einzigartigkeit jeder individuell-persönlichen Seele. Alle Gefühle aber sind ihrem Wesen nach ausstrahlend. Durch Ansteckung von Mensch zu Mensch pflanzen sie sich fort. So können sie alle ohne Ausnahme unter entsprechenden Umständen andersartige unterpersönliche Bindungen und Zusammenhänge überlagern, oder sich ihnen einbilden. Die jeweilig entstandene Verbindung ist aber desto fester, je mehr oder je nähere Entsprechung (im Sinn der Renaissance) zwischen den seelischen und nicht-seelischen Zusammenhängen besteht. Weil die Entsprechung im Fall einer Gefühlsbeziehung zwischen Mann und Weib bis in die untersten Untergründe der Gana-Welt hinabreicht — deswegen ist die Liebe zwischen ihnen die, welche am schicksalhaftesten bindet. Gleiches gilt, in entsprechend milderer Form, von allen beseelten natürlichen Beziehungen. Liebe zur Menschheit ist, demgegenüber, als Allgemeinerscheinung niemals sicher fundiert, und ebensowenig ist es die Liebe zu Gott, sobald das feste Band zwischen bestimmter Dogmatik und Urangst und Urhunger gelockert ist. Nur ungeheuer reiche und tiefe Seelen sind universaler Liebe fähig. Daher die Gefährdetheit aller spezifisch menschlichen Zusammenhänge dort, wo keine starken, von der autonomen Seele her bestehenden, auf Nächstes bezogene Gefühle sie zusammenhalten.
Es gibt eben nur persönliches Seelentum. Sobald das Persönliche an Bedeutung einbüßt, sobald Verstand und Vernunft gegenüber dem Gefühl als Mächte überwiegen, setzt ein Prozess der Entseelung ein. Wenden wir uns von hier aus noch einmal den besonderen Gebrechen und Gefahren dieser Zeit zu. Unsere letzten Gedankengänge haben implizite die tiefste Ursache der Unmenschlichkeit der Bolschewisten, der Seelenlosigkeit der Amerikaner und der wachsenden Demoralisierung oder Verdürftigung derjenigen Europäer aufgedeckt, welche gefühlsmäßigen Zusammenhang als rückständig empfinden. Der Mensch kann kein Termitenideal, so hoch es theoretisch stehe, verwirklichen, weil er eben keine Termite ist. Was er durch Verleugnung der Gefühlsbande äußerlich an Freiheit zu gewinnen scheint, wird durch innerorganische Verluste überkompensiert. Und der Mensch wird niemals selbständiger, niemals voller ausgeschlagen als Individuum, wenn er sich gefühlsmäßig isoliert: indem er an Seelenhaftigkeit einbüßt, vertrocknet er und geht damit des physiologischen Substratums geistiger Initiative verlustig. Daher denn das Ideal des Kollektivismus, der möglichst weiten Gemeinschaft, in welcher der Einzelne sich verlieren soll. Der Intimität verlustig gegangen, fröstelt der Mensch des 20. Jahrhunderts und sucht nun durch Quantität das qualitativ Differenzierte zu ersetzen. Dieser wenig beachtete Aspekt des modernen Kollektivismus ist wohl der wichtigste. Logischerweise hätte Überbetonung des Rationalen im Menschen zu entsprechender Steigerung des Personalismus führen sollen. Vernunft hat nur der Einzige, alles Denken geht vom Einzigen aus und steht außer organischem Zusammenhang mit der Gruppe; so ging die Emanzipierung des Geists zuerst tatsächlich mit wachsender Verpersönlichung zupaar. Nun hat eine mächtige, ja übermächtige Gegenbewegung eingesetzt. Das Fortschrittszeitalter mündet in mechanistischen Kollektivismus ein, und mit ihm verkümmern und sterben die differenzierten und höheren Gefühle. Denn so schön Nationalgefühl als Grundlage des Individualbewusstseins ist: sucht es dieses zu ersetzen oder zu verdrängen, dann nimmt dieses alle Nachteile des Internationalismus an. Es legt allen Nachdruck auf die Relation zwischen den beseelten konkreten einzelnen Gegebenheiten, womit diese ihrer Wertbetonung und damit letztlich ihrer Vitalität verlustig gehen. Grundsätzlich Gleiches aber gilt auch vom Internationalismus, der die konkreten nationalen Gegebenheiten verleugnet.
Für den Deutschen, welcher nach Erfüllung seines Lebens strebt, ist es besonders wichtig, hier über die wahren Verhältnisse und Beziehungen Klarheit zu gewinnen, weil er wie kein zweiter lebender Typus dazu neigt, alles und jedes auf der Projektionsebene der Objektivation zu betrachten, und weil er, als problematischer Mensch par excellence, kein Organ für das selbstverständlich Existierende, vom Geist her Unwandelbare hat. Darum läuft er, obgleich er andererseits der geborene Lyriker und Romantiker ist, mehr als irgendein anderer Gefahr, die spezifische Wirklichkeit der Seele zu verkennen. Daher sein ausschließlicher Glaube an den Geist, wenn dieser ihm das Höchste bedeutet, oder aber, wenn der Zeitgeist solchem Glauben abhold ist, sein ebenso ausschließlicher Glaube an das Blut. Nur an die Seele, so wie sie wirklich ist, hat er in seiner bisherigen Geschichte eigentlich noch nie geglaubt. So hat er auch diese wesentlichste Seite des Christentums eigentlich nie wirklich verstanden. Das liegt daran, dass sowohl geistige wie physische Zusammenhänge objektiver Artung und deshalb fassbar sind für Verstand und Vernunft, wogegen beide keinen direkten Zugang zur Seele haben. Dem geahnten Missverständnis wird meistens dadurch abzuhelfen versucht, dass interpretiert wird: die Seele sei eben der innere Aspekt des Bluts, und diesen meine man, oder der wahre Geist sei eben die Seele. Doch mit nachbessernder Deutung dessen, was ursprünglich falsch gesehen oder erlebt wird, ist nie das Geringste gewonnen. Worauf es ankommt, ist unmittelbar dessen innezuwerden, dass die Ebene der Seele gegenüber denjenigen von Geist und Blut eine Sonderebene darstellt und dass sie das eigentlich Menschliche im Menschen abgrenzt. Das ist es, was Jesu Auftreten und Lehre zu einem so epochalen Ereignis machte. Auch die römische Welt war eine Welt des Geistes und des Bluts, ohne Sinn für die Sonderwirklichkeit der Seele. So führte sie das Gefälle der Entwicklung fortschreitender Sachlichkeit und damit Unmenschlichkeit, zu. So galten ihr die meisten Menschen zuletzt als Sachen; denn die meisten Menschen römischen Machtbereichs hatten zuletzt, den Status von Sklaven, und der war demjenigen einer Sache gleich. Da kam der Satz
Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden
wie eine blitzartige Offenbarung. Freilich bedeutete die Seele den ersten Christen mehr als das, als was wir sie hier bestimmt haben; sie war ihnen letztlich und wesentlich Vehikel des Geists. Doch der ungeheure, trotz des ungeheuren Drucks, unter dem es seine Laufbahn begann, rasend schnell sich steigernde und auswirkende irdische Erfolg des Christentums lag nicht an der geistig-religiösen Offenbarung, welche es brachte, sondern an der Apokatastasis der Seele gerade in deren elementarem Verstande, welche es einleitete.