Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

VII. Wahrhaftigkeit

Leben in Form des Wissens

Nun aber gelangen wir zum entscheidenden, zu dem im ursprünglichen Wortverstand crucialen Punkt. Insofern dieses Kapitel den Sinn von Weltanschauung überhaupt bestimmt hat, ist es für den, welcher diesen erfasste, nicht mehr unvermeidlich, die Frage von Weltanschauung überhaupt an falschem Ort zu stellen. Weltanschauung hat Sinn nur als geistige Voraussetzung bestimmten Menschenlebens, so wie es wirklich ist. Das heißt, eingefügt in die objektive kosmische Ordnung, wie sie sich unabhängig von allen geistigen Voraussetzungen darstellt und vom Menschen als solche klar erkannt zu sein hat; dann aber als wahrhaftiger Ausdruck des wahren Seins des Menschen. Damit ist jeder Selbsttäuschung das Urteil gesprochen. Auf wenigstens teilweiser Selbsttäuschung nun beruht alle bisherige Philosophie. Weder ist Geist alles (Hegel), noch ist es das Gefühl (Goethe in seinem romantischen Stadium), noch sind es ökonomische oder politische Erwägungen, noch ist es der Wille oder die Vorstellung oder das Sein oder das Werden. In der Möglichkeit fehlerfreier logischer oder dialektischer Konstruktion liegt nicht die allergeringste Gewähr für Wirklichkeit oder Wirklichkeitsgemäßheit. Vor allem aber ist das Folgende der Fall: es bedeutet Selbsttäuschung, zu glauben, dass überhaupt Weltanschauung das ganze Sein und Handeln des Menschen bestimmen könne und dürfe. Dass sie das bei keinem anderen großen Volke dieser Zeit tut, ist gewiss. Sogar die Inder sind den Deutschen hierin nicht ähnlich, denn deren Voraussetzungen sind metaphysisch und nicht weltanschaulich; Weltanschauung im genauen deutschen Wortverstand kann es nur von naturistischer Anlage her geben: unter allen Umständen erkennt Weltanschauung die Welt als wirklich an; ob sie auch den Gegenstand religiösen Glaubens und metaphysischen Inne-Werdens der Weltwirklichkeit zurechnet — diese Frage bleibt grundsätzlich offen. Hier müssen wir unsere Betrachtungen über die Utopie wieder aufnehmen, um ganz richtig zu sehen, und dabei wird es zweckmäßig sein, den typischen Utopisten dem echten Propheten im Rahmen noch so kurzer Betrachtung gegenüberzustellen (eine genaue Untersuchung dieses Gegenstandes enthält AV, VII). Der echte Prophet ist wesentlich überhaupt kein Vorausseher oder Voraussager und schon gar kein Weltverbesserer von rationaler Einsicht her: er ist ein Voraus-Seiender. Souverän schöpferischer Geist erscheint bei ihm mit abnormer Empfänglichkeit für alle Welteinflüsse, sonach mit Weltfrömmigkeit vermählt, so dass sein Sein einen entweder im absoluten oder im zeitlich-historischen Verstande vorgeschrittenen Typus darstellt. Dieser wirkt sich dann spontan durch all’ seine Äußerungen hindurch aus; das Wunderbare der Leistung beruht darauf, dass eben als solches nie definierbares Sein wirkt, unwillkürlich ausstrahlend und von innen heraus verwandelnd. Demgegenüber ist der typische Utopist nur ein Theoretiker, der vom Verstande her ein ihm besser erscheinendes System ausdenkt, welches zufällig mögliche Zukunft und nicht festgestellte Vergangenheit betrifft; aus letzterem Grunde darf man ihn einen Gelehrten heißen, welcher den Schöpfer spielt. — Es liegt nun auf der Hand, dass der Weltanschauer als Typus dem reinen Utopisten nähersteht als dem Propheten. Er lebt nicht ungeborenes höheres Sein leibhaftig vor, er strebt vielmehr danach, alles und jedes von bestehenden festen und damit der Vergangenheit angehörigen Voraussetzungen aus zu begreifen. So ist der Weltanschauer, immer als Typus beurteilt, eine Mischung von souveränem Geist-Setzer- und von Anpassertum an die Außenwelt, also von Dichter- und Gelehrtentum.1 Doch überwiegen tut in ihm der Gelehrte; sogar beim größten Weltanschauer, den wir kennen, bei Hegel, war dies der Fall.

Da gilt es denn dies zu erkennen — und hiermit gelangen wir endgültig zur geforderten Kritik der Weltanschauung, aus der sich weiter, ganz von selbst, die Richtigstellung der Bezeichnung des Wahrhaftigkeitsideals ergeben wird. Zum ersten: es ist grundsätzlich ausgeschlossen, dass irgendein philosophisches System als solches je Welt-gerecht sein könnte. Alle Systematik hat ihren letzten Seinsgrund in den Eigengesetzen des Verstandes und der Vernunft, welche alles ein für alle Male wissen und in geordnetem Zusammenhange überschauen wollen. In der Welt gibt es aber überhaupt kein ein für allemal; nicht alles Wirkliche ist dem Verstande wissbar; das Weltall und mit ihm der Mensch ist in perpetuellem Werden begriffen (U, VII), so dass jede Festlegung auf bestimmte Voraussetzungen grundsätzlich die Möglichkeit rechter Erkenntnis zerstört. Ein nur ganz geringer Teil der Welt ist rationalisierbar, weswegen die vernunftgerechte Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit eines Systems, sofern es Wahrheit zu vertreten beansprucht, nie Besseres als mangelnden Wirklichkeitssinn bei dem beweist, welcher es aufstellt, sonach Begabungsmangel und folglich Inkompetenz. Im übrigen gibt es unter gar keinen Umständen so etwas wie ein einzig mögliches philosophisches System, sondern es gibt deren grundsätzlich so viele, als den Eigennormen des Geists nicht widersprechende Voraussetzungen denkbar sind; von diesen aber bedeutet schlechthin jede, sofern sie von Vernunft oder Verstand gesetzt und nicht aus integralem Welterleben geboren ist, psychologisch eine Utopie. Aller weltanschauliche Wert, welchen Daten der äußeren Erfahrung haben können, hängt ganz und gar von ihrer wissenschaftlich exakten Bestimmung im Zusammenhang alles Erfahrbaren ab — hier ist also für Subjektivität überhaupt kein Raum, der exakte Wissenschaftler hat das letzte Wort. Endlich hat Denknotwendigkeit als solche — von den Wünschen und Neigungen des Gemüts zu schweigen — gerade weltanschaulich nicht die geringste Bedeutung. Alles Denken ist einschichtig und stammt aus nur einer Schicht des so vielschichtigen Menschenwesens. So kompetiert es a priori sicher nur in seiner eigensten Sphäre, derjenigen der Logik, Mathematik und Erkenntniskritik, und nach bisheriger Erfahrung (die aber durch neue widerlegt werden kann!) in ziemlich hohem Grade auf dem Gebiet der anorganischen Naturvorgänge. Ich sage absichtlich in ziemlich hohem Grade: denn die jüngsten und bewährtesten Grundauffassungen vom Weltgefüge, zu denen die Naturwissenschaft gelangt ist, entsprechen — verglichen mit dem, was man vor zwanzig Jahren noch für gewiss hielt — schon recht wenig verständlicher (im Unterschied von formal konstruierbarer) Verstandesforderung.

D E N K E R
Rodin: Der Denker (1880)

Indem wir nun — auf dem Hintergrunde des ganzen bisherigen Inhalts dieses Buchs — auf die Einschichtigkeit des Denkens hinwiesen, haben wir den eigentlichen Denker als ernst zu nehmenden Typus erledigt. Der bloße Denker ist, genau nur das, als welchen ihn Rodin aus dem Instinkt seines hohen Schöpfertums heraus so eindrucksvoll abbildete: ein beschränkter Kerl, der sich den Kopf zerbricht. Es ist ganz und gar unmöglich, durch bloßes Denken zu Wirk­lich­keits­er­kennt­nis zu gelangen. Kant wusste das: in der Begründung gerade dieser Einsicht liegt das Unsterblichste seiner gesamten Kritik. Leider aber ist gerade die jüngste Zeit wieder tief unter Kants erhabenen Standort hinab- und zurückgesunken. Bevor ich dieses Kapitel schrieb, nahm ich mir die Mühe, das Werk einiger der berühmtesten deutschen Philosophen jüngster Zeit, das ich noch nicht oder nur wenig kannte, genauer anzusehen: ich kann nur sagen, dass ich über den diesen Leistungen zugrunde liegenden Irr-Sinn erschrocken bin. Sicher sind viele darunter tiefe Denker, und als Bekenntnisse mittels des bloßen Gedankens mit der Welt-Wirklichkeit verzweifelt Ringender sind ihre Ergüsse oft psychologisch hochinteressant und moralisch ergreifend. Doch dass begabte Menschen noch heute oder vielmehr heute wieder, über hundert Jahre nach Kant, darauf verfallen könnten, die Weltwirklichkeit aus dem Gedanken herauszuspinnen — das hat mir klargemacht, dass der Denker-Typus als solcher heute überlebt ist und nun, verendend, sich selber karikiert, so wie sich Ammoniten und Saurier vor ihrem Aussterben in bizarrsten Formen jüngerem Leben zur Schau stellten. Denkertum bedeutete, vom Kosmos her geurteilt, von jeher geistige Selbstbefriedigung, aber gerade diese beziehungslose Selbständigkeit ermöglichte es dem Verstande, aller Möglichkeiten seiner Autonomie innezuwerden und so die Funktion des Denkens bis zu, dem heute verwirklichten Grade auszubilden. Doch schon zu Kants Zeiten war der kritische Punkt erreicht, da evident ward, dass vom Denken als solchen kein selbständig Gutes mehr kommen könne. So vollendete sich schort damals die deutsche Gestalt, welche den Denker erdgeschichtlich abzulösen berufen war: Goethes, der radikale Realist. Schon seit Kant und Goethe könnte und sollte allen klar sein, was vorliegendes Buch vertritt, dass der Mensch wesentlich keine Monade, sondern eine Beziehung ist, zwischen Selbst, und Weltall, dass nur Polarisierung mit Fremden Mehr-Werden einleitet, dass der Mensch in keiner einzigen positiven Hinsicht allein dasteht und dass gerade vom philosophischen Erkenntnisstreben her die Forderung gilt, restlos weltoffen zu sein und nicht aus der Abgeschiedenheit des Gehirnspinners heraus zu konstruieren. So stellen die sich als vorgeschrittenst gebärdenden modernen Denker in Wahrheit Rückfälle in frühe Zustände dar — wie solche ja in Zeiten allgemeiner Verjüngung bei allen Organismen typischerweise kurzlebig in die Erscheinung treten. Im heranbrechenden Weltenzeitalter stellt kein Problem sich mehr so, wie es sich dem einsamen Denker stellt. Nur dank integraler Offenbarung, der sich ein radikal realistischer Geist ganz öffnet, nicht bloß mit seinem Verstande, sondern mit allen seinen Funktionen, mit Haut und Haaren, mit seiner Reptilität und Mineralität, kann fortan als Geistes-Einfall die Wahrheit Form gewinnen, welche der rechten und wahrhaftigen Beziehung zwischen Selbst und Weltall Ausdruck verleiht. Alle Definitionen, alle Postulate, alle Imperative, welche Denker aufstellen, sind restlos irrelevant, sofern sie nicht den Niederschlag integralen Welterlebens darstellen.

Große Erlebende, nicht Denker, und insofern, als Techniker, Meister der Polarisation (AV, IV), waren denn auch alle die Philosophen, welche in der Geisteserbmasse des Menschen­geschlechts als Gene fortleben (W, II, 5). Deswegen allein hängt ihre Bedeutung so ganz und gar nicht davon ab, ob ihre Theorien richtig waren oder nicht: durch alle ihre Gedanken hindurch wirkt ein Lebendigeres, Tieferes, Wesentlicheres, schlechthin Echtes. Dass dies von denen des hellenischen Altertums gilt, liegt auf der Hand. Nicht anders steht es mit sämtlichen großen Weisen des Ostens, als welchen das Denken und dessen Ergebnis niemals Selbstzweck war, sondern nur ein Mittel zu substantieller Selbstrealisierung, das heißt zu innerlichem Mehr-Werden. Alle Selbstverwirklichungstechnik des Ostens kommt, grundsätzlich einer Kunst sinngerechter Polarisierung mit dem nicht-irdischen Geiste gleich und alle philosophischen Theorien sind unterwegs zum praktischen Ziel, als Niederschlag realer Erfahrung, entstanden. Genau so waren auch die wahrhaft großen Philosophen des gläubig-christlichen Zeitalters letztinstanzlich keine Denker. Ihr Glaube schuf von innen her, ob ihnen dies bewusst war oder nicht, ein Gebundensein an das Weltall einerseits, eine Hinordnung auf Gott andererseits, was intensivste Polarisierung ergab, so dass ihre wesentlichen Gedanken ihnen nicht als Produkte bewusst gerichteter Reflexion kamen, sondern als schöpferische Einfälle, das heißt als lebendige Geburten aus der Tiefe. Und so beruht weiter der ganze Wert des nicht mehr christlichen modernen wissenschaftlich-philosophischen Denkens, wo solcher anerkannt werden kann, darauf, dass er das Ergebnis der Polarisierung tief erlebender Menschen mit den früheren Philosophen nicht bekannten Ergebnissen der exakten naturwissenschaftlichen und historischen Forschung darstellt. Alles, was Kant an Unsterblichem geleistet hat, hat seinen Seinsgrund in seinem leidenschaftlichen Interesse für die Natur und deren Gesetze. Denn jene besondere Kritik, deren Initiator Kant war, bedeutet in Wahrheit die erste Etappe auf dem Weg zu einer Weltanschauung, welche den Menschen vom Kosmos her begriffe und damit allen möglichen Anthropomorphismus überwände und überstiege. Im gleichen Sinne hat der ganze Wert von Hegels Philosophie seinen Grund in seiner grandios konkreten Weltvision, die er nur nachträglich in sein logistisch dialektisches System hineinzwängte. Aber alles ist endlich und zeitlich begrenzt auf dieser Welt. Eine gleich vitale Polarisierung mit der exakten Wissenschaft, wie solche Kant und Hegel kannten, ist heute nicht mehr möglich. Die letzten deutschen Philosophen, die dank ihr noch zu erheblicher Leistung gelangten, waren Driesch und Scheler. Der erstere hat von der Biologie her Wesentliches im Sinn des radikalen Realismus geleistet. Scheler jedoch, als Begabung nur ein ungeheuer scharfer und beweglicher Verstand, der aber so gut wie auf jede Weise konnte, ohne geistige Linie, die im schöpferischen Sein des Geistes ihren Grund gehabt hätte, war eine dämonische Natur von ungeheuer starker Erlebnisfähigkeit. Dank dem ist die gebrochene Linie seines Geisteslebens trotzdem höchst bedeutsam. Scheler bedeutet viel mehr, als die Summe seiner klugen Reflexionen und geistreichen Theorien — wie denn bloße Theorien, die bis zum Ende der Zeiten alle irgend einmal überholt erscheinen werden, immer das Unwichtigste auch an der theoretischesten Philosophie sind. Max Scheler verkörperte zutiefst ein sehr gefühlvolles, gemütstiefes, aber unseliges und erlösungsbedürftiges Sein, das sich von allen bösen Mächten dieser Welt bedrängt fühlte, und dieses Sein lässt Schelers Gestalt so wichtig und wirksam erscheinen in einer unseligen Zeit. Die neuesten deutschen Denker nun stehen als Ontologen oder Ontiker oder besser Seins-Denker völlig beziehungslos da. Manche von ihnen haben sonst, als Psychologen, Historiker und Kritiker Bedeutendes geleistet. Ihre eigentliche Philosophie stellt ein Verzweiflungsprodukt dar. Da stehen sie, in ihrem Denken allein begründet, ratlos und wurzellos, geworfen in eine öde beängstigende Fremde. Ja ihre Philosophie ist der reinste Ausdruck wörtlich verstandener Selbstbefriedigung der Vernunft, von dem ich in der Geschichte weiß. Kein konkretes, echtes und wahrhaftiges Welterleben kann zur Theorie führen, dass der Mensch aus rein subjektiver Existenzsphäre geworfen sei in ein ihm ursprünglich fremdes Schicksal, dass keine ursprüngliche Beziehung bestände zwischen Existenz und Welt, dass die Sorge Urattribut des Seins wäre usf.: alle solche Theorien sind buchstäblich Hirngespinste, ein Erdachtes und Erklügeltes. Die sogenannte Existentialphilosophie hat nur einen positiven Sinn: den einer Wegbereiterin zu neuem unmittelbarem Innewerden des Metaphysisch-Wirklichen als solchen, das durch ausschließliche Aufmerksamkeit auf die Objektwelt zeitweilig verbaut worden war. Sie stellt insofern eine Embryonalphase dar (AV, VIII). Doch von Existenz zu künden hat derjenige allein ein inneres Recht, dem sie offenbar ward, als Erlebnis, nicht als Reflexions- und Abstraktions-Ergebnis; dessen Metaphysik ein Leben in Form des Wissens ist, wie ich mich vor über dreißig Jahren ausdrückte (PN, V). Dies nun gilt von keiner mir bekannten Metaphysik eines Existentialphilosophen. Deswegen stellt die Existentialphilosophie nichts unmittelbar Vorwärtsweisendes dar: so wie sie sich heute darstellt, bedeutet sie einen Rückfall hinter Kant.

1
Zur Verdeutlichung dessen, was ich unter Geist-Setzertum verstehe, sei hier der Schlussabschnitt des ersten Kapitels der Südamerikanischen Meditationen wiedergeben:
Die Tatsachen sind nichts für sich Bestehendes; sie sind Kunstprodukte willkürlicher Abstraktion. Ursprünglich gibt es nur unauflösliche Gesamtsituationen, zu deren Bestandteilen unter anderem das gehört, was mehr oder weniger alle mehr oder weniger gleichmäßig feststellen können, wenn sie sich mehr oder weniger gleichen Bedingungen unterwerfen. Freilich mag der Nachdruck auf diese Konstanten gelegt werden. Doch dann schrumpft die Welt zusammen. Es vergeht das, was das Gemälde von der Palette unterscheidet, es schwindet das Erlebnis, der Sinn verflüchtigt sich, und der Einzigkeitscharakter geht verloren. Kein Brasilianer antwortete auf taktloses Insistieren je mit gleicher Vergrämung, wie das Weltall. Wer diesem mit Festlegung und Statistik kommt, dem verwandelt es sich in eine Rumpelkammer. Wogegen es sich beglückt, wie ein Weib, der Dichtung jedes echten Liebhabers angleicht. Und zwar handelt es sich hier wie dort um echte Verwandlung. Deswegen behielt jeder, der eine wirklich eigene Welt zur Welt trug, nicht nur für sich recht: war er zum Liebhaber berufen, das heißt verstand er den Gegenstand in seiner Tiefe, dann verlangte das Universum allemal, mit wiederum weiblicher Parteilichkeit, dass alle es so sähen wie er. Bis einmal ein besserer kam. Das ist der Sinn des Gestaltwandels der Götter. Primitive Kosmogonie schob einem ersten Urheber alle Verantwortung für alles Geschehen zu, und was dann aus dem Rahmen erster Planwirtschaft herausfiel, entwirklichte sie als Sünde. Logischerweise behielt der Mensch im Fall des starrsinnigsten Gottes der Geschichte für ewig schuld vor ihm. In Wahrheit lagen und liegen hier die Dinge ebenso, wie im Fall des Reigens, welchen Sonne und Erde miteinander tanzen: es ist nicht möglich, letztgültig zu bestimmen, wer sich um wen dreht. Schöpfer und Schöpfung stellen eine unauflösliche Gesamtsituation dar, die sich jeden Augenblick in allen Dimensionen wandelt oder wandeln kann. Mag sonach alles im Anfang so gewesen sein, wie dies die Buchführung des Siebentagewerkes darstellt: sobald anderen als dem ersten Urheber eigenes einfiel, wurde alles anders. Schon die kleine Intrige zwischen Schlange und Weib erschütterte den ersten Plan. Dann musste das Paradies verlassen werden, bei dem es doch bleiben sollte; es geschah das vom Standpunkt der Ur-Ordnung höchst Bedenkliche, dass den Vertriebenen eigene Arbeit geboten ward, welches allen nur möglichen Initiativen freies Spiel gab; bald erschien der vollends planwidrige Kain, und so ging es fort und fort, zu solchem Verdrusse derer, die am Vorurteil des Ein-für-alle-mal festhielten, dass heute nur noch blinder Glaube die Pole Schöpfer und Schöpfung in ihrer ursprünglichen Konstellation zusammen hält. Blinder Glaube als Religion, das heißt als Behauptung der Bindung des Einen an das All, ist aber der äußerst denkbare Ausdruck der Verzweiflung. Er bedeutet, dass die lebendige Bindung verloren gegangen ist. Denn diese besteht ganz und gar und einzig und allein im organischen Zusammenhange mit der Schöpfung, wie sie wirklich ist, nämlich ein sich immerfort Verwandelndes. Wohl setzt die Wahrung dieses Zusammenhanges Glaube als letzte subjektive Instanz voraus — nicht aber Glauben im Sinn des Gehorsams gegenüber Festgelegtem, sondern in dem des Hinzutragens des Eigenen zum Anderen. Echter Glaube ist Selbstbehauptung der Phantasie. — Es gibt so viele Welt-Möglichkeit, als es Phantasie gibt. Es hat so viele Weltwirklichkeiten gegeben, als Phantasien sich durchsetzen konnten.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
VII. Wahrhaftigkeit
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME