Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

VIII. Einsamkeit

Einsam bin ich, nicht alleine

Wie ich im Zusammenhange dieses Buches dem Problem der Einsamkeit nachzusinnen begann, fiel mir immer wieder jener Liedanfang

Einsam bin ich, nicht alleine

ein. Der Dichter meinte ganz anderes, als was ich im folgenden auszuführen gedenke; doch gerade letzterem könnte ich obigen Vers als Motto voranstellen. Ich wüßte nicht, wie sich ein Mensch jemals allein fühlen könnte. Allenfalls mag dies inmitten sehr vieler gleichgültiger Menschen vorkommen, weil Gleichgültigkeitsbewusstsein isoliert: je einsamer einer, äußerlich geurteilt, ist, desto weniger, nicht desto mehr, ist er allein, denn desto reicher und deutlicher wird die Welt seiner inneren Bilder. Gingen Propheten und Anachoreten in die Wüste, so war es auch nicht, um allein zu sein, sondern um Gesichte zu schauen. Und so suchen wohl gar viele äußeren Verkehr, um inneren Gesichten zu entrinnen. Manchmal will mich bedünken, die Außenwelt, ob Trug oder Wirklichkeit, jedenfalls aber Maya, so wie die Inder es verstanden, sei ursprünglich dazu geschaffen worden, um dem Menschen vor dem unheimlichen Reichtum der Fauna seiner Seele Zuflucht zu gewähren. Und manchmal wiederum denke ich, die sogenannte objektive Wirklichkeit verdanke ihren Ursprung nicht einem Verwirklichungs-, sondern einem Entwirklichungsprozess: nur das Abgelebte ist festgelegt, fest umrissen, haltbar, fassbar. Mit fünfundzwanzig Jahren fiel mir einmal der Satz ein: Nur wem die Welt zum Traume wird, kann die Wirklichkeit halten. Unzweifelhaft entscheidet überall das Innerliche letztlich. Und das Vorbild innerer Wirklichkeit ist dem Menschen der Traum.

Was sich nun da offenbart, ist zusammenhängende Vielfalt. Sie ist nicht logisch zusammenhängend, nicht kausal geordnet, nicht übersichtlich. Daher die Vorstellung eines ursprünglichen Chaos, von dem ein Fragment des Empedokles das unheimlichst-eindrucksvollste Bild gibt:

Und viele Köpfe sprossen ohne Hälse,
Und lose Arme irrten ohne Schultern,
Und Augen schweiften einsam ohne Stirnen.

Doch heute wissen wir, dass die Traumwelt auf der Ebene des Psychischen ähnlicher Wirklichkeit entspricht, wie Ei und Embryo auf derjenigen der Physis. Und so verstehen wir besser, was Schiller letztlich meinte, als ihm das Urteil einfiel, der Dichter sei der einzig wahre Mensch. Aus dem Grunde seiner Seele wachsen immer neue Gestalten, die allemal er selbst sind und dann doch wieder nicht. Am dichterischsten aller Dichter, an Shakespeare, erscheint die Grenze, jenes echte no man’s land, erreicht, wo jenseits des Menschlichen das Göttlich- oder Dämonisch-Schöpferische beginnt. Shakespeare war insofern ein Grenzmensch, als ein ganzer Kosmos aus ihm sprach und er als empirisch-persönlicher Mensch offenbar auch nicht annähernd so bedeutend schien, wie als Dichter; wäre es anders, es könnte unmöglich Streit toben über sein Dasein. Er glich einerseits dem mythischen Christus, der in geringer Menschengestalt Gott gewesen sein soll; andererseits aber einem reinen Medium, und nie wird auszumachen sein, welcher Vorstellung er besser entsprach. Bei Shakespeare möchte man sagen, unter anderen Gestalten fiel ihm auch der leibhaftige William Shakespeare ein, und sie war die beste nicht. Sie war nur die starrste, festgelegteste, unlebendigste. Die Seele, welche so viele Welten gebar, war nun ganz zweifellos Kosmos, nicht menschliches Individuum. Sie war ein Einfallstor der Wirklichkeit, die wir am Ende des dritten Kapitels die Menschheit im Menschen hießen. Deswegen äußert sich diese oberste Wirklichkeit in Shakespeare in Form einer Folge von Dramen, in denen alle Gestalten jeweils so notwendig zusammenhängen, als seien sie die verschiedenen Facetten eines Diamanten, von welchem Zusammenhange im realen Leben die Korrelation der Typen im Beruf einen vergröberten Abglanz gibt. Von hier aus mag man wohl sagen, die Geschichte sei eine Entwicklung solcher Gesichte, wie sie Shakespeare hatte. Deren ganz große Momente waren ja auch immer dramatische Augenblicke so künstlerischer Art, als hätte ein Dichter sie gestellt. So mag man wohl auch denken, dass sich der eigentlich wirkliche trojanische Krieg zwischen den Göttern abspielte. Wahr ist unter allen Umständen der Satz des Heraklit:

Der Seele Grenzen kannst du nicht auffinden, und ob du jegliche Straße abschrittest: so tiefen Grund hat sie.

Das im Zusammenhange dieses Buches wesentliche an dem, was ich hier mehr in den Seelen meiner Leser evozieren als selbst materialisieren wollte, ist dies, dass jeder Mensch nach innen zu offenbar einer ähnlich weiten und über ihn hinausreichenden Wirklichkeit angehört, welcher er als Vorstellender gegenübersteht, wie nach außen zu. Es ist schwer zu sagen, genau wo nach außen zu das Menschenwesen aufhört, denn ein großer Teil der Außenwelt gehört unablösbar zu ihm, ähnlich wie das Meer bei Coelenteraten und Echinodermen die gleiche Rolle spielt, wie bei uns das Blut, und andererseits ist der größere Teil des nachweislich eigenen Wesens Nicht-Ich. Noch schwerer ist gleiche Abgrenzung nach innen zu. Denn in der psychischen Sphäre ist der Mensch so vielschichtig, von so verschiedenartigen Faunen bewohnt, die Übergänge sind so stetig und das Bewusstsein ist trotzdem ein so einheitliches Feld, dass vollständige Übersicht und richtige Unterscheidung unerreichbare Ziele sind. Zweifellos sind die meisten Einfälle eines Menschen nicht persönlichen Ursprungs; mittels seines Unbewussten kommuniziert er mit sehr vielem, wenn nicht mit allem, was gleichzeitig lebt, auch mit vielem, was vormals gelebt hat, und so ist jedermann auch Medium für fremde Kräfte. Diese Kräfte sind zum Teil gewiss richtige Subjekte, die mit dem eigenen Subjekt des Betreffenden nicht zusammenhängen. Sie sind Subjekt im genau gleichen Sinn, wie es das äußerlich gegebene Du ist, mit dem man ja auch nur von innen her kommunizieren kann, mittels des nie begreiflich zu machenden Verstehens des Fremdseelischen. Dann sprechen unterindividuelle Energien und Wesenheiten die Seele an oder durch sie durch, so dass man oft wirklich verleitet ist, mit Lichtenberg zu sagen: Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis. Nichtsdestoweniger hatte Lichtenberg nicht recht. Das empirische Ich ist ein ganz bestimmtes und genau abgegrenztes Organ im Menschen, mit selbständigem Zentrum; im Grunde ist es ein richtiger Komplex, wie ihn die Psychoanalytiker verstehen, das meist überbetonte Bündel bestimmter Triebe und Strebungen. Doch das ändert nichts an seiner Selbständigkeit; soll es überwunden werden, dann muss es als Mittelpunkt richtig sterben. Und so ist jenes Selbst, mit dem der Mensch sich letztlich identifiziert, welchem er, sofern er überhaupt strebt, zeitlebens zustrebt, welches Selbst ursprünglich außer ihm lebt, als Stimme oder gefühlte Be-Stimmung, als Daimonion oder geistiger Führer, ein vom Standpunkt des Erlebenden absolut letztes, mit keinem anderen zusammenfallendes, auf nichts weiter zurückführbares Bezugszentrum. Von diesem Selbst gilt denn der Vers:

Einsam bin ich, nicht alleine.

Ein Alleinsein gibt es im Seelenraum noch weniger als im Raum des Körperlichen. Sonst wäre nicht die Angst vor den eigenen Vorstellungen menschliches Grundmotiv. Wohl aber ist jeder als Selbst letztlich einsam. Und darum ist das letztpersönliche Problem für jeden seine letzte Einsamkeit. Die aber ist ebenso unendlich wie die Nicht-Einsamkeit.

Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
VIII. Einsamkeit
© 1998- Schule des Rades
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