Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

VIII. Einsamkeit

Das Selbst

Das einsame Selbst ist rein geistiger Natur. Andere spüren dasselbe meist früher an einem Menschen, als er es selber tut. Nur bei Vollendeten, beherrscht es den ganzen empirischen Menschen, so dass dieser allein und durchaus von seinem tiefsten Wesen geformt scheint, so wie ein antikes Erzbild aus dem Künstlergeist; und nur beim Reifen fallen Bewusstsein und Selbst zusammen. Doch keimhaft leuchtet es schon aus den Augen des Neugeborenen. Dieses Selbst ist der Inbegriff von eines Menschen Einzigkeit. Zuerst ganz unbewusst, nur anderen sichtbar, äußert es sich später lange Stadien entlang in passiver Seinsmodalität, im quale des Reagierens, nicht Agierens; auch hier weiß der Mensch nicht ursprünglich, was er will, soll, denkt, und ist. Und erwacht dann das erste unmittelbare Selbst-Gefühl, dann treibt ihn die Angst vor der Einsamkeit gar leicht zum Untertauchen in die Gemeinschaft. Doch als Unter- und Hintergrund des Menschen ist das Selbst von vornherein da; nicht zwar als verwirklichte Tatsache, sondern als Kraftzentrum. Dieses Selbst führt das Leben, sowenig letzteres dies spüre. Es tut dies nach Art des unsichtbaren Bauplans, der die Entwicklung des Eis und Embryos regiert. Und seine Ur-Qualitäten sind Einzigkeit, Einsamkeit, ursprüngliche Initiative und schöpferische Wandlungs- und Verwandlungsfähigkeit.

Die Einzigkeit, welche ich hier meine und die allein als letztinstanzliche Wirklichkeit in Betracht kommt, hat nichts mit Verschiedenheit von anderen zu tun, obgleich sie sich mittels dieser manifestiert; sie besteht überhaupt nicht in bezug auf irgendwen oder irgendwas, sondern an sich. Was den einen vom anderen bloß unterscheidet, ist ein ganz Oberflächliches; wer auf diesem seinem Sonderlichen insistiert, verfängt sich nur im Gefängnis seines Ich. Wer Selbst-Bewusstsein hat, vergleicht sich überhaupt nicht mit anderen, kann es gar nicht tun; denn als Selbst ist er ebenso wesentlich unvergleichlich, wie er auf tiefer gelegenen Ebenen wesentlich vergleichbar ist. Als Einziger gehört er auch keinerlei empirischen Gemeinschaft an, er west oberhalb sowohl der Kollektiv- als der Individualtriebe und -strebungen. Als Einziger kann er auch nichts nehmen, er kann nur geben. d. h. auch bei seinem Nehmen ist das Ausstrahlende das, worauf es eigentlich und letztlich ankommt. Insofern ist das Selbst ursprüngliche und reine Initiative. Es ist genau so initiatorisch, wo es nicht fragt, sondern antwortet, nicht schafft, sondern versteht, denn auch Antworten und Einsehen sind, vom Selbste ausgehend, auf anderes als eben dieses Selbst nicht zurückführbar. Die Gana ist nur träge, die emotionale Ordnung die Sphäre der Leiden-Schaft, die Seele ist beliebig von außen her zu beeinflussen und zu verwandeln: das Selbst ist weder träge noch erleidend, noch anders beeinflussbar als so, dass seine freie Initiative angeregt wird. Die aber entscheidet immer nur dem Selbst gemäß. Das Selbst ist, eben rein geistiger Natur, und damit ist es wesentlich frei und initiatorisch und schöpferisch. Es ist sonnenhaft und deswegen vom Erd- und Mondstandpunkt nicht weiter abzuleiten. Da der Prozess des Einbruchs des Geistes in die Erd-Welt stufenweis verläuft, ist klar, dass man überall in der Natur auf Erscheinungen mehr oder minder direkter Teilhabe stößt; worüber Näheres im Kapitel Einbruch des Geists der Meditationen zu lesen steht. Geist bildet sich ein, wo nur die Gana rezeptiv und plastisch genug ist, um ihn auszuprägen. Das Märchen berichtet von redenden Tieren: mediale und unbewusst verstehende gibt es jedenfalls. Und das an sich dem Erd-Leben zugehörige principium individuationis ist dem Geist das gegebene Verkörperungsmittel seiner Einzigkeit, die sich, noch einmal, desto stärker ausprägt, je plastischer die Gana. So reifen begabte Rassen langsamer als unbegabte, das heißt sie bleiben länger plastisch; so sind höhere, wie Gustave Le Bon gezeigt hat, dadurch ausgezeichnet, dass sie typischerweise ein große Anzahl höherer aus der Art geschlagener Einziger hervorbringen. Denn der Einzige als solcher ist immer aus der Art geschlagen; genauer, er gehört überhaupt keiner Art an, weil er oberhalb jeder west. Daher seine letzte, seine unermeßliche, unergründliche Einsamkeit.

Der Beginn der Verschmelzung dieses Selbsts mit dem Bewusstsein ist der Urgrund jener entsetzlichen, alles in ihren Bann schlagenden Angst, welche allen frühen oder zu neuer Primitivität verjüngten Menschen eignet. Denn frühe Menschen erleben das Selbst halb außer, halb in sich, sie sind einerseits bewusst naturgeborgen im Kollektivum, und andererseits nicht mehr, und daraus ergibt sich frenetische Flucht in die Gemeinschaft, deren Normen nie starr genug sein können, und mit dieser zusammen in ein System objektivierter vorstellungsmäßiger Zusammenhänge, von Riten, Kulten und erlebten Mythen, welche den Einsamen gegen seine persönlichen Gesichte sichern und ihn seine Einsamkeit vergessen lassen sollen. Diese transponierte Urangst ist vom Standpunkt des Tiers das Differentialkennzeichen des Menschen;1 eben weil es keiner solchen Transposition bedarf, erscheint das Tier dem frühen Menschen geborgener, höherstehend und ehrwürdiger als er selbst. Die Angst vor der Einsamkeit kann, in der Tat, erst schwinden, nachdem das Ich oder allgemeiner das jeweilige persönliche Bewusstseinszentrum mit dem Selbst verschmolzen ist; dann hört sie automatisch auf, denn dem Selbst ist seine Einsamkeit ebenso normaler Lebensraum, wie dem Ich die Gemeinschaft. Diesem Ziele nun führt ein stetiger Verwandlungs­prozess zu, und dessen Sonderart erweist über allen Zweifel hinaus, dass es sich beim Selbste um eine andere Wesenheit handelt, als beim Ich, und dass jene Wesenheit für den Menschen das Ausschlaggebende, weil sein Letzt-Persönliches ist. Der fragliche Verwandlungsprozess geht nämlich ausschließlich durch persönliche Entscheidungen hindurch. Von selbst wird da nichts. Das tiefste Selbst ist als irdisches Erreichnis ein Selbsterzeugtes und Selbstgeborenes zugleich; es erwächst mittels einer Reihe von Verwandlungen, von Neu- und Wiedergeburten, als immer neuentstehendes Kind der eigenen Taten. Daher die eigentümliche Bedeutung des Sich-Durchkämpfen-Müssens. Es bedeutet einen Irrtum, wenn Menschen in bezug auf einen, der sich zuletzt als großer Mann erweist, über die, welche ihn bekämpften, sagen, sie hätten sich geirrt. Sie hatten sich nicht geirrt, denn zum großen Manne wurde er erst durch Sieg und Leistung; bis dahin war nur seine Möglichkeit da. Und auch letztere hatten die Gegner weniger verkannt, als alle Gleichgültigen: die spontanen und sachlich übertriebenen Abwehrbewegungen, welche jeder werdende wirklich große Mann erzeugt, und welche anhalten, bis dass er innerhalb der Seelen gesiegt hat, bedeuten, dass die Gegner das Werden eines Großen sehr wohl spüren; es ist der Fall des bethlehemitischen Kindermords. Niemandes eigener Machttrieb duldet gern die Verschiebung der Machtverhältnisse. Der zur Selbstverwirklichung Strebende nun braucht die Widerstände für sich absolut, denn an ihnen entsteht allererst das Selbst als aktualisierte Kraft. Hier liegt der Fall genau gleich, ob es sich um Staatsmänner, Künstler oder Heilige handele. Dass der Täter an seinen Taten buchstäblich wächst, ist so lange schon regelmäßig beobachtet worden, dass an seiner Stellung wachsen eine allgemein gebräuchliche Redewendung ist. Man stelle sich Friedrich den Großen ohne Widerwärtigkeiten und Schicksalsschläge vor: nie wäre er der geworden, welcher er ward. Ebendeswegen sucht der Große die Schwierigkeiten, welcher er bedarf; wo sie ihm nicht entgegentreten, provoziert er sie. So brach Friedrich der Große die schlesischen Kriege vom Zaun. Es ist gänzlich verfehlt, das Schöpferische in das zu verlegen, was von außen her, als Erlebnis, Hemmung oder Widerwärtigkeit an den Menschen herantritt. Jeder Vorsehungsglaube, der sich auf dieser Vorstellung gründet, ist (wie im Freiheits-Kapitel ausführlich dargetan werden wird) nichts Besseres als krasser Aberglaube, der zum Beweggrund hat, den Menschen von letzter Verantwortung zu entlasten.

Fast allen Menschen fallen reichlich ebensoviel Schwierigkeiten und Gelegenheiten zu, wie sie in großen Männern schöpferisch wurden — nur lösten sie bei jenen nichts aus. Jedermann bedarf der äußeren Reize, Anlässe, Aufgaben, Gegen-Stände, Vorwände und Ziele, damit seine Freiheit zur Tätigkeit angerufen werde und sich auswirke. Denn auf der Freiheit allein ruht aller Nachdruck. Äußere Schwierigkeiten im buchstäblichen Verstande braucht der Mann der Tat unter allen Umständen, denn sie allein bieten ihm einerseits das Material, dessen er bedarf, andererseits den vitalisierenden Reiz. Bei zu geistiger oder geistlicher Größe Berufenen liegen die Dinge nur auf der Ebene der Erscheinung anders, dem Sinne nach jedoch identisch. Die ersteren verwirklichen sich von Werk zu Werk. Jedes derselben stellt eine innere Entscheidung dar und diese materialisiert einen neuen Ausgangspunkt (PK, XIV; SM, XII). Überdies aber beschwört der Kampf um Anerkennung immer erneut die eigenen Tiefenkräfte, konkretisiert, stählt und richtet diese aus und zwingt zur Klärung und immer schärferen Bestimmung. Der Weg des geistlich Großen, des Heiligen führt nicht über das Werk, sonderst direkt zu tiefster Selbstrealisierung. Er kämpft nicht mit und auch nicht innerhalb der Welt, deren Konflikten er fern bleibt, er sucht sich auch nicht durch Leistung durchzusetzen: er kämpft nur mit den fremden und dunklen Mächten seines eigenen Innern, bis dass er ganz von hellstem Geisteslicht durchstrahlt ist. Von Konfuzius wird die folgende schöne Geschichte überliefert: Einer seiner Schüler bemerkte auf der Stirne des Meisters drei Falten, von denen die eine klein, die andere mittelstark, die dritte tief und klaffend war, und fragte ihn nach dem Grunde dieser Verschiedenheit. Konfuzius antwortete:

Die kleine Falte ist eine Erinnerung an jene Zeiten, wo das Leben mich bald hierhin, bald dorthin verschlug. Die mittelstarke verdanke ich meinen treulosen Freunden. Die tiefe und klaffende habe ich mir selber beigebracht im Kampfe mit den bösen Mächten meiner Seele.

Allemal aber ist mit dem Siege nicht allein eine Willens-Entscheidung getroffen, sondern der Mensch selber ist ein anderer geworden. Und solches Anderswerden bedeutet eben Realisierung des Selbst.

Es sind oft wunderbare, providentiell wirkende Zufälle, welche also durch Kampf und Widerwärtigkeit zur Selbst-Geburt führen. Und nicht allemal lassen sie sich dadurch erklären, dass der bedeutende Mensch sie unter beliebigen selber auswählt: ohne Zweifel begegnen sie ihm oft, ohne dass er das geringste, auch nur in Gedanken, dazu getan hätte. Zum Teil hängt dies mit der Sonderart von Schicksal zusammen, die ich in den Meditationen ausführlich beschrieben und gedeutet habe und dessen Urbild das des Aales ist: ohne bestimmte Zufälle, welche freilich nicht einzutreffen brauchen, vollendet sich bestimmtes Schicksal nicht (PK, XI). In bezug auf solche Fälle kann man sagen, dass die Geschichte nur die Erinnerung solcher aufbewahrt, die unterwegs nicht scheiterten. Doch hiermit ist nicht der ganze Tatbestand bestimmt: es gibt Menschen, welche buchstäblich Glück, und andere, welche unzweideutig Pech haben. Bei allen Staatsmännern abenteuerlichen Aufstiegs hat auf anderes unzurückführbares Glückhaben eine an kritischen Punkten entscheidende Rolle gespielt, so sehr, dass die Antike das Glück als ausgesprochene Fähigkeit im Sinne von Begnadung begriff und es in einer der uralten kaukasischen Sprachen nur ein Wort für Glück und Mut gibt. So gibt es sicher ein vom Geist her vorgesehenes Schicksal -allerdings aber haben nur solche als tätige Subjekte an ihre teil, welche Geist schöpferisch verkörpern. Diese Schicksalhaftigkeit geistbestimmten Lebens, an welcher kein großer Mann jemals gezweifelt hat, weil nur der Schicksalsbegriff für die einmaligen und einzigartigen Situationen, ohne die er nie zu dem geworden wäre, der er ward, ein nicht von Hause aus unzulängliches Erkenntnisinstrument schafft, ist im Rahmen der alle irdische Erfahrung beherrschenden Gesetze überhaupt nicht zu verstehen. Die meines Wissens erste Annäherung an eine verständliche Deutung hat P. D. Ouspensky in seinem Tertium Organum in Form des folgenden Bildes gegeben: Die Geschehnisse verlaufen so, als bewege sich das eigentliche Leben in einer vierten Dimension, wo der Mensch nur im Rahmen von dreien zu denken fähig ist. Man mag das bildlich so darstellen, dass er, indem er sich tatsächlich zwischen Pyramiden, Kuben, Zylindern bewegt, nur die Stellen bemerkt, wo diese seine flache Erlebnisebene durchschneiden. Diese Schnittpunkte als solche sind natürlich unzusammenhängend: daher der Eindruck des Zufälligen, Glück- oder Gnadehaften, die gerade die wesentlichsten Ereignisse eines Lebens machen. Eine andere Eigentümlichkeit wesentlichen Lebens hat Jakob Böhme einmal in folgendem Gebote (das ich hier freilich aus dem Englischen zurückübersetzen muss) zusammengefasst:

Wo der Weg am schwersten ist, dort wandele du, nimm das auf, was die Welt verwirft was die Welt nicht tut, das tue du. Wandele im Gegensatz zur Welt in allen Dingen. Und so gelangst du auf kürzestem Wege zu Gott.

Es sind eben andere Gesetze als die der erfahrbaren Erd-Wirklichkeit, welche das Werden und Wachstum geistiger Persönlichkeit regieren; der nächste Zusammenhang, der sich zwischen beiden feststellen lässt, ist allen Anzeichen nach der, dass die größte Spannung zur Erdnorm (wie sie die Begriffe Glück, Zufall, Schwierigkeit, Widerwärtigkeit hindeutend bestimmen) Geistesverwirklichung am meisten fördert. So gelangen wir denn auch von diesen besonders geheimnisvoll wirkenden Zusammenhängen aus am schnellsten zum Kernproblem der Wesensart geistiger Persönlichkeit und zu dessen Bestimmung, wo nicht Lösung. Geistige Persönlichkeit ist eine Macht, welche auf eigener besonderer Ebene wirkt. Und zwar wirkt sie auf die Weise, welche von jeher, mit diesen oder jenen Worten, im Unterschied von anderen Wirkungsarten, als magisch bezeichnet worden ist.

Das Wesen magischer Wirkung besteht darin, dass Geist unmittelbar wirkt, ohne die Vermittlung materieller Machtmittel und Kräfte im weitesten Verstand. Dieser eine Satz besagt, dass hier nicht Suggestion entscheidet, so stark sie in der Regel mitbeteiligt sei. Suggestion ist nichts Geistiges. Ihre Möglichkeit beruht auf der Entsprechung bestimmter aktiver seelischer oder ganischer Kräfte des Suggestioneurs mit bestimmten passiven oder sollst schwächeren seines Objektes, welches nun mitschwingt, so wie eine Saite mitanklingt, wenn eine gleichgestimmte in gebührender Nähe stark angeschlagen ward. Hier handelt es sich nie um freie Entscheidung der Persönlichkeit, sondern um Muss- oder Bannwirkung, um Zwingen, Verfallen und Unterliegen. Die suggestiv wirkenden Kräfte gehören höchstenfalls der niederen Seelenregion an, meist aber der menschlichen Unterwelt. Deswegen ist der Urtypus des Suggestioneurs nicht der Führer, sondern der Verführer. Es kann der allerminderwertigste Mensch über die beträchtlichsten Suggestionskräfte verfügen; ja gerade der Minderwertigste verfügt häufig über die allerbeträchtlichsten, weil er die niederen und kriminellen Triebe, welche in jedem in der Verdrängung leben, weckt und zum Anklingen bringt. Den neuesten und für diese Wendezeit symptomatischesten Fall dieser Art verkörperte Ivar Kreuger. Doch die eklatantesten Beispiele bieten die religiösen Scharlatane, die von Urzeiten an immer wieder begeisterte und fanatische, durch nichts zu beirrende Gefolgschaft gefunden haben. Solche Leute sind meist auch religiös begabt. Doch ihre Macht über Menschen beruht auf Bannkräften, welche den Sphären der Erotik,2 des Machttriebs oder des Sicherungsbedürfnisses gegen die Urangst angehören; im übrigen verführen sie, indem sie auf dem Mechanismus des Erlösungsbedürfnisses spielen. Demgegenüber ist das Wesen magischer Wirkung, noch einmal, dies, dass hier echter Geist unmittelbar und ohne Machtausübung waltet. Hier wirkt nichts Seelisches, nichts Ganamäßiges, nichts Unterweltliches: hier wirkt unmittelbar der Sinn als Substanz. Bei Kindern und Tieren tritt die Möglichkeit solchen Wirkens elementar zutage: auf sie wirkt immer nur das Intentionale und nie der Ausdruck; diesen verstehen sie entweder nicht, oder aber sie durchschauen ihn. Ich habe nun schon oft begründet und brauche es darum nicht noch einmal zu tun, dass auf dem Gebiet des geistbestimmten Lebens der Sinn den Tatbestand schafft und nicht umgekehrt; dass es ein Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck gibt, nach dem erst vollendeter Ausdruck den Sinn vollständig realisiert. Ich habe ferner gezeigt, dass nur ein personaler Sinnträger Sinn ausdrücken kann (MS, V; W, II, 5), dass aller Sinn, der sich in der Erscheinung manifestiert, auf ursprünglicher Sinngebung beruht (SE, I, 2, III, 1): die ganze Phänomenologie des Wirkens geistiger Persönlichkeit im Unterschiede von empirischer ist in diesen Sätzen enthalten. Die geistige Substanz, die das persönliche Selbst bedeutet, wirkt unmittelbar auf Substanzen gleicher Ordnung ein; hier liegt überhaupt kein Problem vor, denn auf allen Ebenen des Wirklichen ist Gleichartiges dem Einfluss von Gleichartigem geöffnet. Ebensowenig problematisch sind in vorliegendem Zusammenhang die besonderen Normen, denen dieses Geschehen gehorcht, als da sind die Gesetze der Hierarchie, der geistigen Gravitation, der Entsprechung, Kompatibilität, Synergie und Sympathie. Anderen Ebenen angehörige Wirklichkeiten nun beschwört geistige Substanz magisch. Das Wort beschwören erscheint hier als das gegenständlichste, denn jedermann weiß vom Märchen her, dass und wie Geister gezwungen werden können, zu erscheinen, und hier handelt es sich um ein genau gleichsinniges Phänomen. Es sieht äußerlich magnetischer Anziehung ähnlich, oder auch elektrolytischer Scheidung und Bannung. In Wahrheit aber handelt es sich um ein keinem Naturprozess Vergleichbares, denn es ist eben Geist, welcher ohne Naturzwischenagentien direkt auf Natürliches einwirkt, oder aber sich diesem einbildet. Letzteres mirakulöse Phänomen ist jedermann aus der Art vertraut, wie bei ihm selbst ein Gedanke Ausdruck findet — es ist ihm so vertraut, dass es ihm gar nicht wunderbar vorkommt: es fällt ihm Sinn ein, dieser aber beschwört von sich aus die ihm entsprechenden Sätze, Worte und Buchstaben, welche für sich einer ganz anderen Dimension des Wirklichen angehören. Das Prototyp geistiger Einwirkung ist der von Coué in seinem Elementarausdruck beschriebene gesetzmäßige Vorgang: die bloße vorgehaltene Vorstellung, also ein Bild, löst in den unbewussten Seelenkräften einen ihr entsprechenden Wandlungsprozess aus. Solchen Wandlungsprozess einzuleiten, war das Ziel jeglicher Meditation, und gleichsinnig hat jeder große Ehrgeizige sein Ziel unablässig im Herzen getragen, das heißt meditiert und damit seine Seelenkräfte bewogen, ununterbrochen und unwillkürlich, jede Gelegenheit augenblicklich nutzend, im Sinn des Zieles zu handeln.

Die Möglichkeit des Wirkens von Geist auf Nicht-Geist ist an sich nun ein Urphänomen und als solches nicht weiter abzuleiten. Da es jedoch immer spezifischer Aufnahmefähigkeit bedarf, da sich nicht jede Seele jedem Geisteseinfluss öffnet und da dieses Öffnen nie erzwungen werden kann, so bezeichnet man es besser mittels des Begriffes der Entsprechung, als dessen der Gravitation, obgleich der fragliche psychische Zusammenhang mit Gravitationswirkung unzweifelhaft Analogie aufweist. Den Entsprechungs-Begriff zu verwenden ist schon deshalb angezeigt, weil ihn die mittelalterliche und Renaissance-Medizin in eben dem Sinne benutzt hat, wie wir ihn hier anwenden. Dass die Gesetze von Sympathie und Antipathie, von Kompatibilität und Inkompatibilität — welche Begriffe Provinzen des weiteren Entsprechungsbegriffes abgrenzen — das psychische Leben bestimmen, ist klar. Aber Gleiches gilt auch in bezug auf scheinbar Unlebendiges. Kann chemische Substanz auf die Seele und durch sie hindurch auf den Geist spezifisch wirken, so gilt auch das Umgekehrte. Es gilt das Umgekehrte in bezug auf grundsätzlich alle nur möglichen Bereiche. Hier wurzelt denn die Fähigkeit zum Glück. So wie es Menschen gibt, welche Tieren und Pflanzen gegenüber eine glückliche Hand haben, weil diese auf jede Be-Handlung sympathetisch antworten; wie gewissen Köchen jede Speise glückt, ohne dass sie wüßten, warum, weil sie irgendwie spüren, was jede Speise will, so mag einer auch in bezug auf finanzielle und politische Konjunkturen direktes Glück haben. Dass hier tatsächlich ein sympathetisches Verhältnis vorliegt, ersieht man daraus, dass der, welcher diese Fähigkeit besitzt untrüglich fühlt, wann eine gute Stunde für ihn da ist. Die Entsprechung oder Sympathie als solche besteht natürlich in der seelischen Sphäre; aber diese ist ihrerseits dem Geisteinfluss zugänglich, und auf diese Weise ist magische Einwirkung auf beliebige Abläufe möglich, kann magischer Kontakt mit beliebigen Welten und Geschehnissen erfolgen und bestehen. Geist und Seele sind nun ferner von Raum und Zeit in hohem Grade unabhängig; genauer ausgedrückt: in der psychischen Sphäre gibt es letztere bis zu einem gewissen Grade nicht. Darum bietet Fernwirkung, gegenüber der Nahewirkung, überhaupt kein Sonderproblem. Nun aber gelangen wir zur Hauptsache, deren Bedenken der Gedankengang, der implizite zu einer Negierung der Vorsehung im fraglichen Zusammenhang führte, abschließt: die Initiative liegt allemal beim Geist; bei dem, was dieser von sich aus tut, nicht bei dem, was ihm widerfährt. Man lasse sich durch den Typus des Hans im Glück nicht beirren: bei diesem liegen die Dinge so, dass seine sympathische Unbeholfenheit und Naivität die helfende Initiative anderer herausfordert; er ist also gleichsam Patient des Glücks. Noch kein Hans im Glück wurde zum großen Mann.

Von hier aus fassen wir denn den letzten Sinn der Erforderlichkeit des Kampfes. Dieser macht einerseits magischer Wirkung die Bahn frei. Da es zu solcher allemal des Geöffnet-Seins der anderen bedarf, so muss in allen Fällen außer dem ganz seltenen dermaßen gewaltiger Persönlichkeit, dass sie jeden, der ihr begegnet, unwiderstehlich zur Anerkennung, zur Mitarbeit oder zum Gehorsam zwingt, deren Autorität so selbstverständlich wirkt, dass von Hause aus keine Notwendigkeit materieller Machtanwendung für sie besteht, die Bereitschaft geschaffen werden, sich zu öffnen. Die aber wird durch den Erweis anderer Tugenden geschaffen: des Muts, der Konsequenz, der Lauterkeit, der Überzeugungstreue. Dann aber ist magische Kraft kein Handliches, zu Kommandierendes. Sie ist nicht immer aktionsbereit, und alle, welche ausschließlich auf sie bauten, mussten, wohl oder übel, mehr oder weniger, schwindeln oder Paraphernalien anwenden. Also muss dem Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck Rechnung getragen werden. Gemäß diesem ist erst ein vollendet zum Ausdruck gebrachter Sinn der Erscheinungswelt als selbständiger Energieträger einverleibt; hier besteht eine nahe Analogie damit, dass erst der erwachsene Mensch, und nicht schon der Embryo, auch nicht das Kind, Geschichte macht. Da nun aber die Ausdrucksmittel allemal der Außenwelt zugehören, so muss sich der Mensch diese erkämpfen; hier bietet nicht der Dichter, sondern der Staatsmann, welcher zur Macht strebt, das Prototyp.

Doch der Fall liegt also nicht allein in bezug auf äußeren Sieg oder Erfolg: entsprechend dem gleichen Korrelationsgesetze realisiert Sinn sich selbst vollkommen allererst im vollendeten Ausdruck. Das heißt hier: erst die geistige Persönlichkeit, welche sich auf der empirischen Ebene restlos ausgeprägt hat, ist für den Menschen selbst ganz realisiert, ganz da. Und solche Realisierung ist unmöglich ohne Kampf mit den Widerständen der Natur. Ob dieser sich nach außen zu oder innerhalb der Seele abspielt oder abgespielt hat, bleibt sich nicht allein an sich, sondern auch in Bezug auf die ausstrahlende Wirkung gleich. Vom Heiligen, der überhaupt keine äußeren Konflikte mehr kennt, geht aber die allerstärkste Strahlkraft aus. Dessen Strahlen sind nicht allein wegen der Tiefe, aus der sie stammen, die durchdringendsten, sondern auch deshalb, weil sie sich auf keine Medien beziehen, welche Widerstand leisten, und weil keine Verteidigungsaktion diese Wirkung der reinen Geist-Strahlung durch die Interferenz mit anderen Strahlen schwächt; so verbraucht sie sich überhaupt nicht am Widerstand. Freilich werden die Heiligen und Weisen gemeinhin desto stärker angefeindet, da die gespürte Konkurrenzlosigkeit der Kraft, welche von ihnen ausgeht, sowie die Unmöglichkeit, sich dieselbe zu erklären, gar leicht den puren Vernichtungswillen des Niederen beschwört. Insofern spricht beim geistig oder geistlich Bedeutenden das Wort Viel Feind viel Ehr’ noch wahrer, als beim Mann der Tat; der Geist, der nie verleumdet, nie verfolgt, nie lächerlich gemacht ward, repräsentiert ganz sicher keine echte Kraft.3 Nichtsdestoweniger gehört weder Tun noch auch Leiden zu seinem Wesen. Er braucht nur dazusein. Sein Sein ist das Eine und Einzige, worauf es ankommt. Das haben auch alle tiefen Völker zu ihren tiefen Zeiten wohl gewusst: das bloße Dasein eines Heiligen bringt Segen, das bloße Dasein eines Helden schafft Kraft und Mut, das bloße Dasein eines großen Glaubenden schafft Glauben, eines großen Vertrauenden Vertrauen. Im übrigen aber ergibt stille und kampflose Seins-Ausstrahlung die größte Fernwirkung. Dies hat sich sowohl im Raum als in der Zeit vieltausendfach erwiesen. Je weiter fort ein Geistverkörperer lebt, je unzugänglicher er ist, desto tiefer und intimer wirkt er. Das Sprichwort vom Propheten in seinem Vaterland besagt im Grunde nichts Nachteiliges über dieses: da die geistige Persönlichkeit eines Menschen ein anderes ist als ein Empirisches, so muss die Nähe nicht verdeutlichend, sondern umgekehrt verundeutlichend wirken. Und Gleiches gilt in der Dimension der Zeit. Hier scheint ein großer Geist desto näher und lebendiger, je länger er tot ist. Von Jahr zu Jahr versteht man Goethe besser. Stand das Goldene Zeitalter am Anfang der Geschichte, und war der erste Mensch zugleich der größte, dann wird man diesen erst am Ende aller Zeiten verstehen.

Wie sehr das Sein letztlich entscheidet, könnten übrigens Deutsche dieser Zeit besser wissen, als irgendwelche frühere Menschen. Denn das ungeheure Prestige und die Bedeutung Hindenburgs beruhte auf dessen bloßem Sein mit einer Ausschließlichkeit, wie dies, soweit meine Geschichtskenntnis reicht, kaum ein zweites Mal der Fall war. Von seinen Feldherrngaben abgesehen, welche ja nur ein Bruchteil seiner Bedeutung erklären, hatte Hindenburg eigentlich gar keine besonderen Talente. Er war kein geistig oder geistlich Großer. Nichtsdestoweniger war es nichts Blut- und Erdhaftes, dem er sein einzigartiges Prestige dankt — dass dieses Urteil zutrifft, beweist allein schon die Verehrung, die er bei allen Nicht-Deutschen und Deutschlandfeinden genoß. Zweifellos war Hindenburg auch deutsches Urelement; vor Jahren drückte ich das einmal so aus: vor Wotan, vor Siegfried war schon Hindenburg. Daher seine Volkstümlichkeit: irgendwo, in seiner elementaren Tiefe, erkannte und erkennt sich gerade jeder einfache Deutsche in ihm wieder. Doch Gleiches gälte von Tausenden, falls sie bemerkt würden. Das Einzigartige an Hindenburg war, dass deutsche Elementarnatur in ihm für primordialen Geist, dessen Urausdrücke Mut und Glauben sind, vollkommen transparent geworden war. Und zwar war dies auf dem einen Wege geschehen, auf dem alle Selbstverwirklichung erfolgt: von persönlichem Entschluss zu persönlichem Entschluss, von persönlicher Entscheidung zu persönlicher Entscheidung, von Verantwortung zu Verantwortung, von Opfer zu Opfer. So war er zu einer ganz großen und erhabenen moralischen Kraft erwachsen, welche durch ihre bloße Ausstrahlung unwillkürlich wirkte. Er genoß nicht allein, er schuf Vertrauen. Er war Deutschlands leibhaftiger Kredit. Von allen Deutschen seit vielen vielen Jahrhunderten war so Hindenburg, an sich ein reiner Soldatentyp, dem Ideal des chinesischen Herrscher-Weisen, dem Kaiser Shun, am nächsten gekommen, von dem überliefert wird: er habe bloß dagesessen, sein Antlitz gen Süden gewandt, und es herrschte vollkommene Harmonie.

Am großen Manne leuchtet ohne weiteres ein, dass es das Persönliche und nicht das Sachliche ist, welches beim Geist entscheidet. Im Gelehrtenzeitalter Deutschlands wurde Geist rein sachlich verstanden; so hat Max Scheler noch kurz vor seinem Tode die Ebene des Geists als die des Sachlichen bestimmt. Dies war vollkommen und restlos falsch; der Irrtum erwuchs aus der — freilich an sich schon ungeheuerlichen, schlimmstes Verkennen beweisenden — Verwechslung des lebendigen Geists mit seinen herausgestellten Inhalten, welche nie mehr als Präzipitate oder Eliminate seiner, oder aber Instrumente der Erkenntnis sind. Doch nicht einmal das Erkennen an sich ist primärer Geistesausdruck; wie in den Meditationen gezeigt ward, gehört dieses für sich noch dem Erd-Leben an. Die ursprünglichen Ausdrucksformen des Geistes sind, wie es Hindenburg so großartig versinnbildlicht hat, Mut und Glaube, und die sind anders denn als Ausfluss persönlicher Substanz schlechterdings nicht vorzustellen. Wir sagten nun, dass das geistige Selbst überhaupt nicht nehmen, sondern lediglich geben kann: dies liegt am rein Ausstrahlenden seines Wesens. Eben hierauf beruht in erster Linie seine Einsamkeit. Jenseits des Strahlungszentrums gibt es für das Ausstrahlende keine Instanz, das Ausstrahlen aber ist seinerseits Selbstzweck und damit un-interessiert. So fehlt jede Gebundenheit an ein Nicht-Selbst. Von einer Liebe, welche aus dieser Quelle strömt, gilt Goethes Vers:

Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an?

Erkenntnisstreben gleichen Ursprungs ist gänzlich zweckfrei, Mut gleichen Ursprungs ist reiner Opfermut, Geben ein reines Verschenken, ein Geben ohne Wieder-Nehmen-Wollen. Der also Schenkende lebt oberhalb der Ebene, auf welcher der Satz gilt, dass die Wirkung der Gegenwirkung gleich sei; er ist allen denen, welche innerlich letzterer Ebene zugehören, überlegen. Deswegen ertragen die meisten den Generösen nicht und unterschieben gerade ihm die selbstsüchtigsten Beweggründe: es ist den meisten bekanntlich viel schwerer, Geschenke anzunehmen als Geschenke zu machen. Nur seitens des von ihm als höherstehend Anerkannten und entsprechend Verehrten erträgt der Niedere die schenkende Tugend. Hier aber wiederum beweist das Idealisierungsbedürfnis, welches wohl keinem Menschen fehlt, dass geistige Persönlichkeit ein Oberhalb der Natur darstellt und dass jeder sie in sich verwirklichen können sollte: keiner zweifelt im tiefsten Herzen daran, dass es Höheres gibt; in jedem lebt die Bereitschaft, dessen Bild auf irgend jemand zu übertragen; jeder möchte zutiefst einen Menschen in diesem Sinn verehren können. Freilich hat diese Medaille ihren Revers. Vom Idealisierten fordern die Allermeisten unermeßlich, ja unmenschlich viel, und die geringste Enttäuschung, die er ihnen zu Recht oder Unrecht bereitet, lassen sie ihn furchtbar büßen: indem sie ihm zugestehen, dass er mehr sei als sie, gestehen sie ihm vom Standpunkt der irdischen Elementar-Natur so Ungeheures zu, dass sämtliche Dämonen der Unterwelt mit einem Kreuzige ihn! losbrechen, wenn ein Grund für Enttäuschung auch nur gewittert wird. Hier liegt die Ursache des meisten Schwindels in dieser Welt: die wenigsten wagen es, zu enttäuschen. Von den Menschen, die in der Idealisierung fortleben, war vielleicht — wenigstens soweit die Überlieferung ein Urteil gestattet — nur Jesus, der gegen alle Vorurteile der Juden verstieß, der das Gesetz des Sabbats brach, Wein trank, mit Zöllnern und Ehebrecherinnen Verkehr pflegte und sich unbefangen Wutanfällen überließ, ganz wahrhaftig. Demgegenüber sind nur ganz wenige unter den vielen Männern, die sich die Idealisierung, welche liebende Frauen ihnen zuteil werden lassen, zu rechtfertigen versuchen, um also ein für sie schmeichelhaftes Bild immerwährend am Leben zu erhalten, nicht verächtliche Schwindler.

Doch dies nur nebenbei. Was vom ganz großen Geiste gilt, gilt auf irgendeinem Niveau von jedem Menschen. Jeder ist, noch so keimhaft, einzige Persönlichkeit. Jeder ist grundsätzlich der Erlösung, das ist der letzten Erleuchtung und Durchleuchtung fähig. Und bei jedem entscheidet letztlich das Persönlich-Einzige und -Einsame. Das Kraftfeld nun, das diese Einzigkeiten schaffen, ist der eigentliche Lebensraum der Menschen. Alles übrige ist, von der Tiefe her beurteilt, äußerlich; es könnte anders sein, ohne dass sich dadurch für sie viel änderte. Deswegen kann man die bewegenden Kräfte aller Geschichte nicht allein, sondern auch alles persönlichen Lebens, wie der Roman es schildert, auf relativ wenige Personen letztinstanzlich zurückführen. Nie entscheidet weder die Gesamtheit noch das Volk oder die Masse oder die Klasse oder die Gesellschaft: immer entscheiden geistige Persönlichkeiten entsprechend ihrem spezifischen Gewicht. Solange bestimmte Menschen überhaupt da sind, ob sichtbar wirkend oder unsichtbar, verläuft das Geschehen anders, als es sonst verliefe. Anderen überlegene Persönlichkeiten wirken allem sachlich Nachweisbaren zum Trotz. Man lehne sie ab, soviel man mag, ja man beweise ihre Irrelevanz: sie sind dennoch lebendige Kräfte. Man erledige sie, wie immer man wolle, sie kommen doch wieder hoch, wenn keine auf gleicher Ebene Stärkeren ihnen entgegentreten.

Gegenüber allem Empirischen und Sachlichen ist geistige Persönlichkeit in der Tat die überlegene Macht. Sie erweist sich als solche besonders, wenn sie böse ist und alle anerkannten Normen gegen sich hat: dann zeigt es sich schlagend, dass lebendiger Geist mehr bedeutet, nicht allein als Materie, sondern sogar als alle herausgestellte Wertnorm. Deswegen war Tötung an Wendepunkten der Geschichte allemal die ultima ratio — sie war es genau in gleichem Sinn, wie der Krieg die ultima ratio der Politik ist. Es gibt wirklich kein Mittel, einer echten geistigen Persönlichkeit ihre Macht zu nehmen, als sie aus der Welt zu schaffen. Von hier aus ersieht man nun klar, eine wie ungeheure Errungenschaft der letzten Jahrhunderte es war, dass Mord in ihnen als positive Möglichkeit für das Bewusstsein ausgeschaltet war: es bedeutete Verzicht des niederen Lebens zugunsten des Geists. Von hier aus begreift man ganz, inwiefern Christus mit seiner Lehre vom unendlichen Werte jeder Menschenseele und mit seinem Gebot, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, das heißt, als einzigartige Persönlichkeit, Epoche machen konnte, und warum es undenkbar ist, dass das Menschengeschlecht jemals für die Dauer in einen vorchristlichen Zustand zurückfallen könnte: mit Christus ist zum erstenmal, aber andererseits für immer, ganz bewusst geworden, was den Menschen zum Menschen macht. Nämlich die allemal einzige geistige Persönlichkeit, welche in jedem lebt. Das Anti-Christliche dieser Zeit beweist im übrigen aber weniger Übles, als es den Anschein hat. Es entspringt keinen niedrigen Motiven, es ist vielmehr die Reaktion auf ein Niedriges: nämlich die Verwechselung der Nächstenliebe, welche Christus meinte, mit der Anerkennung dessen, dass jeder ein Recht auf höchstes materielles Wohlergehen und grenzenloses Ausleben seiner Ichsucht hätte. Auf die Ebene des Empirischen bezieht sich Jesu Forderung überhaupt nicht. Jesus lehrte, das Ich zu töten, nicht zu mästen, auch nicht, um es nachher zu schlachten. Er nahm den Tod als solchen überhaupt nicht tragisch, denn ihm bedeutete er das Tor zur Wiedergeburt. Und wirklich hat kein Selbst-Bewusster den Tod je tragisch genommen. Ist das Ich nichts Wesentliches, kann es ohne Selbstverminderung restlos aufgegeben werden, dann ist auch der Tod nichts letztlich Wesentliches, denn nur das Ich fürchtet sich vor ihm. Tatsächlich setzt jeder Selbst-Bewusste sein Leben leicht ein und aufs Spiel. Hier, wo es sich um das Elementarste handelt, stellt der Krieger das allgemeingültige Sinnbild dar. So wie er sein Ich opfert, so opfert jeder Geistbestimmte sein Empirisches höherem Sein. Ganz selbstverständlich bedeutet seine Aufgabe ihm mehr als jenes, denn sie und deren Erfüllung gehört mehr zu seinem persönlichen Leben als alles, was an ihm Erd-entsprossen ist. Deswegen ist die Vorzugsstellung des Helden unter allen Idealtypen die natürlichste Sache von der Welt. Doch nicht um dessentwillen ist sie natürlich, dass der Held für sein Volk und Land sein Höchstes hingegeben hätte, sondern dass er sich ganz und gar und ausschließlich zur Geisteswelt bekennt. Der Held ist in seiner Tiefe nicht der mit der Gemeinschaft verbundenste, sondern im Gegenteil der allereinsamste aller Menschen.

Die Inder haben auch hier die Wahrheit am tiefsten verstanden. Wir wiesen zuerst auf das monumentale Urbild des Helden hin, auf dass allen deutlich werde, dass es für jeden ein Höheres als das eigene Leben gibt. Die Upanishad aber erhob das intimste Leben von jedermann zu gleich bedeutendem Sinnbild. Sie lehrt:

Nicht um des Gatten willen ist der Gatte lieb,
sondern um des Selbstes willen ist der Gatte lieb.

Nachdem wir gesehen, dass die Ehe-Bindung der geistigen Ebene angehört, leuchtet im Zusammenbang mit dem vorhin Gesagten ohne weitere Erläuterung ein, inwiefern auch ihr letzter Sinn Selbstverwirklichung ist. Die indische Weisheit lehrte nun weiter, dass die Ehe als Erden-Norm die Vorbereitung zur — Einsamkeit zu sein habe. Der Mensch müsse alle Stadien durchlaufen: rechtes Kind sein, gehorsamer und keuscher Schüler, verantwortungsbewusster Gatte und Vater; wer seine Erd-Energien nicht auswirkte, so dass er sein Erdenschicksal ganz und treu erfüllte, der würde nur im Fall außerordentlicher spiritueller Begabung reif zur direkten Vereinigung mit dem Geist und zum Aufgehen in ihm. Nachdem ihm aber ein Enkel geschenkt ward, dann, aber nicht früher, sollte er sich von allen Banden lösen, als Heimatloser durch die Wälder pilgern, seiner letzten Einsamkeit bewusst werden und sich in ihr erfüllen. Tatsächlich ist das Selbst, vom Standpunkt alles dessen, was der Erde zugehört, schlechthin einsam. Es ist aber zugleich das Tiefst-Persönliche. Es ist der alleinige Träger aller Werte. Und dieses einsame Selbst allein kann unsterblich sein.

1 Meinen Begriff der Ur-Angst hat René Fülöp-Miller in seinem Buche Führer, Schwärmer und Rebellen (München 1934, F. Bruckmann) recht glücklich zur Durchleuchtung der Massen-Psychosen, -Angstträume und -Wunschbilder der ganzen Geschichte verwendet; allerdings hat er andererseits zu viel auf ihn zurückzubeziehen versucht.
2 Hierzu ist auch die besondere Macht zu rechnen, die ein Mann dadurch erlangt, dass er die Begeisterung von Frauen nicht erotisch ausnutzt. Frauen sind so überzeugt von ihrer Unwiderstehlichkeit, dass das Keuschheitsgelübde des Priesters auf sie als übermenschliche Leistung wirkt. Viele Männer haben hauptsächlich deshalb Macht über Frauen, weil sie ihnen aus Opportunitätsgründen widerstehen. Und sehr viele Impotente profitieren von der gleichen Psychologie. So lag der Fall Häußers und wohl sehr vieler ähnlicher Propheten.
3 Trotz dem hier Gesagten warne ich davor, Feindschaft und Vernichtungswillen ohne zwingenden Grund auf Geistiges zurückzuführen: in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle sind da reine Gana-Motive im Spiel: Brot- oder allgemeiner Lebensneid, die Angst, einen Konkurrenten gewähren oder wachsen zu lassen oder zu gegebener Zeit Gott sei Dank noch niedrig stehende Aktien durch ein positives Wort in die Höhe zu treiben. Wie elementar die Motive der meisten Feindschaft auf Erden sind, ersieht man aus dem Hass, den jeder einigermaßen begabte Hochgewachsene in gleichfalls begabten Kleingewachsenen weckt, oder die Ahnung von Potenz in weniger Potenten, oder starke Vitalität in weniger Vitalen. Das eine, was es nie und unter gar keinen Umständen gibt, ist sachlich begründete Feindschaft. Selbstverständlich gibt es sachlich begründete Gegnerschaft. Doch steht wirklich sie und nur sie in Frage, dann fehlt notwendigerweise jeder böse Wille gegenüber der Person; es besteht für einen nur einigermaßen von der Natur her wohl geratenen oder moralisch gebildeten Menschen nie der allergeringste Grund, aus sachlicher Gegnerschaft die Konsequenz des angemaßten Rechts auf persönliche Verunglimpfung zu ziehen. Im Gegenteil: elementares Selbstachtungsgefühl gebietet hier, den Gegner zu ehren, dem Ritterlichkeitsgebot gemäß. Gerade böser Wille nun beseelt leider allzuviele sogenannte sachliche Gegnerschaft unter Deutschen. Daher die Häßlichkeit, Gehässigkeit und Gesinnungsniedrigkeit, die sich bei uns gerade unter dem Banner der sachlichen Gegnerschaft austobt. Weil dem also ist, weil mit genau der gleichen Gewissheit, wie zwei mal zwei vier machen, der Wille persönlich zu schaden, bösen Willen beweist, — deswegen habe ich die längste Zeit meines Lebens nie auf irgendeinen Angriff geantwortet, und schon gar nie eine Verleumdung jemals widerlegt: wer Verleumdungen in die Welt setzt, ist unter allen Umständen keiner Berücksichtigung wert, außer seitens der Justiz. Und wer den Ruf eines Menschen Schädigendem Glauben schenkt, ohne sich vorher von sich aus, was bei bekannten Persönlichkeiten eine leichte Sache ist, nach dem wahren Sachverhalte zu erkundigen, wer da meint, wer nicht dementiert, sei ipso facto schuldig, oder der mit Schmutz Beworfene sei verpflichtet, sich vor anderen, neutral beiseite stehenden zu rechtfertigen, der beweist die gleiche Seelenqualität wie der Verleumder. Und ich kann meine Leser versichern, dass ich mich in meinem ganzen Leben nie auch nur annähernd ähnlich elend gefühlt habe, als da ich mich in einer für mich gefährlichsten Periode, dem Drängen von Freunden schließlich nachgebend, zur Sicherung meiner Familie dazu herablassen musste, die Lügen und Verleumdungen und sonstigen Versuche, meine materielle und moralische Existenz zu vernichten, die eine Weile zahllose Zeitungen füllten, öffentlich als das hinzustellen, was sie waren.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
VIII. Einsamkeit
© 1998- Schule des Rades
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