Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

IX. Leiden

Kreuz und Adler

Denken wir von hier aus noch einmal an die Betrachtungen des Weltfrömmigkeits-Kapitels zurück, dann wird uns zunächst klar, warum gerade die Deutschen sich zum Christentum bekehren mussten. Von einer Menschenart, welche ursprünglich ganz auf Er-Leben eingestellt ist, auf inneres Wachstum und innere Verwandlung, gilt mehr als von jeder anderen, dass ihre anima naturaliter christiana ist, welche Erwägung wieder einmal beweist, dass die Zugehörigkeit zum christlichen Kosmos in erster Linie keine konfessionelle und nicht einmal eine religiöse, sondern eine psychologische Frage ist. Es wird ferner klar, dass das nordisch-heidnische Lebensgefühl keinen Gegensatz, wie im Falle des antik-heidnischen, sondern eine Vorstufe zum christlichen darstellt. Jenes leidenschaftliche Suchen nach auswegloser Tragik, jener unmitigierte düstere Todeswille, jene Überzeugtheit vom Untergang, der gar nicht abgewendet werden soll, jenes die Treue oder das Wort halten gerade dort, wo bewusstermaßen dadurch Unheil über Teuerstes kommen muss — alle diese Ausdrücke sinnlosen Heldentums, wie ich’s in Deutschlands wahrer politischer Mission hieß, schreien geradezu nach Christentum, denn nur dieses kann solcher Lebensrichtung spirituellen Sinn geben. Nur der Weg der inneren Auseinandersetzung, des Auf-sich-nehmens des Schicksals, der Selbsteinkehr und der Einstellung auf das Innenleben ist beim Deutschen im höchsten Sinne fruchtbar. Das Germinale seines Gemüts verbietet es, dass er als Adlermensch jemals Vollendung auf hohem Niveau erreichte. Daher denn der Sondercharakter des besten deutschen Soldatentums. Dieses war schon vor der Bekehrung zum Christentum ein naturaliter christliches, und eben deshalb leuchtete gerade den kriegerischen Deutschen die christliche Wahrheit so tief ein. Der deutsche Krieger will zutiefst weniger siegen als sterben. Auf dem Selbstopfer liegt bei ihm der Nachdruck. Er kennt nicht den süßen Tod der alten Griechen, sondern nur den bitteren. Hier hat das extreme Gehorsams- und Treuegebot seinen Grund, zu dem er sich bekennt, hier auch jene nur-deutsche Auffassung der Pflichterfüllung, deren bloße Klangfarbe beweist, dass sie grundsätzlich nicht nur gegen die eigene Neigung, sondern auch gegen die eigene Überzeugung und allem wohlverstandenen Interesse zum Trotze zu erfolgen hat. Aber hier wurzelt auch die Tatsache, dass Deutschland von jeher die Hauptheimat der Landsknechte und der Söldner war: nicht auf die Sache, um die gekämpft wird, kommt es Deutschen ursprünglich an, sondern auf die Bereitschaft zu sterben, gleichviel für wen und wozu. Und ebendeshalb erschien der urdeutsche Hindenburg größer, da er sein Heer pflichtgemäß heimführte und später Regierungen und Systeme mit seiner Autorität deckte, die ihm im Herzen zuwider sein mussten, denn als siegreicher Feldherr. Das deutsche Offizierskorps aber war in allen seinen großen Zeiten einem Orden vergleichbarer, als gleichen Standesvereinigungen bei irgendwelchen anderen Völkern. Der deutsche Kriegsmann lebt scheinbar das typische objektive Heldenleben. Das Selbst bedeutet nichts, Volk, Vaterland, Tat, Leistung, persönlich nicht erlebter Nachruhm bedeuten alles. Aber so sieht doch kein echter und tiefer Deutscher den großen Soldaten. Er legt den Nachdruck darauf, dass gerade das Hin- und Preisgeben alles Eigenen, dank den objektiv gültigen Gesetzen der Psychochemie, zu tiefster Durchgeistung führen kann. Unabwendbar wächst ja der Geist von persönlichem Entschluss zu persönlichem Entschluss, von getragener Verantwortung zu getragener Verantwortung, von Opfer zu Opfer, wenn er nur mit sich selber ringt dabei. Also ist gerade der große deutsche Kriegsmann zutiefst kein Adlermensch, sondern ein eminent christlicher Typus.

Immerhin kann kein Krieger als solcher reiner Kreuzesmensch sein. Von hier aus gelangen wir denn zur Bestimmung dessen, was das entwickelte historische Christentum vom Urchristentum wesentlich unterscheidet. Dieses legte allen Wertakzent auf den Leidenspol im Menschen, aufs Kreuz; den Adler verleugnete es. Doch dabei blieb es nicht. Wie das Imperium selber christlich ward, da bekehrte sich auch der Adler zum Kreuz. Fortan nun erfolgte alle Weiterentwicklung in beider Zeichen, und diese Synthese auf höherer Ebene hat allen Fortschritt der christlichen Menschheit von innen her bestimmt. Jesu und Pauli Lehre war durchaus orientalisch. Die wahrhaft, christliche Geschichte aber fand nicht nur dem Raume, sondern auch dem Geiste nach im Westen statt — und in diesem Zusammenhange ist es symptomatisch, dass die einzige orientalisch verbliebene große Kirche, die griechisch-orthodoxe, von der Geschichte als solcher nichts wissen will. Von Weltbeherrschern einerseits und leidenden Göttern andererseits kündet früheste Mythe auf der ganzen Welt. Mit Jesus und seinen ersten großen Jüngern wurde das Leiden als Angel inneren Aufstiegs und damit als Pforte zum Heil erkannt und anerkannt. Das im Westen vollerblühte Christentum nun aber schuf eine vom Urchristentum bewusst nie vorgesehene Integration des Vorchristlichen und des Christlichen auf höherer Ebene, welche den Kreuzes- und den Adlerpol, welche beide in jedem Menschen leben und welche beide lebensnotwendig sind, zu einem wunderbaren Einklang brachte. Dieser Einklang bedeutet viel mehr als die Korrelation dessen, wofür die griechischen Worte Ethos und Pathos oder die chinesischen Yang und Yin (das Schöpferische und das Empfangende) stehen: er bedeutet eben die Überwindung des Entweder-Oder, das auf der Naturebene am deutlichsten in der Mann-Weib-Polarität zum Ausdruck kommt und auf der moralischen im Gegensatz von Gut und Böse. Es ist seltsam, dass Nietzsche niemals bemerkt hat, dass gerade das vollerblühte Christentum im einzig annehmbaren Sinne jenseits von Gut und Böse stand. Dieses leugnete nie, dass Leiden ein Übel ist, es erkannte jedoch zugleich, dass es dem Guten dienen kann. Es leugnete nie, dass Töten böse ist, und doch bejahte es innerhalb bestimmter Grenzen alles Adlertum. Es schuf eine intensive Einheit von Kreuz und Adler.

Diese äußerte sich am vollendetsten in der allerchristlichsten aller Erscheinungen des Christentums: im Rittertum. Es ist kein Zufall, sondern es entspricht tiefster Notwendigkeit, dass die christlichsten Jahrhunderte die ritterlichsten waren und umgekehrt. Weder der antike noch auch der nordische Heide war ritterlich, und für die Neuheiden dieser Zeit, ist, nichts charakteristischer, als dass auch in ihnen das Gefühl für Ritterlichkeit unaufhaltsam stirbt. Ritterlichkeit setzt gegenseitige Durchdringung und Vermählung von Kreuz und Adler voraus. Der ritterliche Krieger bejaht und ehrt den Schwachen; er fühlt sich verpflichtet, ihn nicht auszubeuten, sondern ihn zu schirmen. Der Ritterliche ist innerlich gebunden durch ein Ideal, welches den Tod als Tor zur Wiedergeburt anerkennt — eine Vorstellung, welche dem reinen Adlermenschen völlig fremd ist. Dem Ritterlichen bedeutet die Ehre mehr als Sieg, weswegen er sich durch Niederlage nicht gedemütigt fühlt und auch seinerseits Besiegte niemals demütigen will. Der Ritterliche ist nach außen zu stolz und kampfesfroh, nach innen zu aber demütig und leidensbereit. Das Töten und Zerstören und damit Auf-sich-nehmen tragischer Schuld gehört genau so zu ihre, wie das Sündbewusstsein, wie Leidensbereitschaft und Demut gegenüber Gott. Hier durchdringen einander Ethos und Pathos so vollkommen, dass schwer zu entscheiden ist, was Demut ist, was Stolz, was Sündbewusstsein und was Ja-sagen zur Tragödie, was Helden- und was Kreuzestod. Dem Ritterlichen bedeutet Ehre niemals Ansehen, sondern Behauptung seiner rein-persönlichen und nur innerlich bedingten Integrität, weshalb er jedem seine Ehre zuerkennt und nie daran denkt, den Feind zu erniedrigen. Eben deshalb gehörte zu den vornehmsten Rittertugenden auch die Höflichkeit. Es ist offenbar nicht möglich, alle zu lieben, denn Gefühle gehorchen keinem Gebot. Wohl aber ist es möglich, durch entsprechendes Verhalten zu zeigen, dass man aller subjektives Dasein als gleichberechtigt anerkennt. Eben dies leistet die Höflichkeit. Und darum bedeutet diese ein sehr viel Tieferes als alle Gutmütigkeit und alle Geradheit. Über diesen speziellen Punkt muss in dieser Periode der Generalrevolte der Erdkräfte etwas mehr gesagt werden. Niemals der Tiefe, sondern nur der spirituell Oberflächliche schätzt Höflichkeit gering. Vulkane und Springfluten sind freilich grob und rücksichtslos, und anderes ist von ihnen billigerweise auch nicht zu verlangen. Es gibt andererseits die Delicadeza (SM, VIII), die nur der Angst vor unangenehmen Eindrücken entspringt und im direkten Gegensatz zum Wahrhaftigkeitsideal besteht; die ist spirituell bedeutungslos, so sehr alle Schönheit auf Erden von ihrer Hochentwicklung abhängt. Doch die wahre Höflichkeit bedeutet praktische Bejahung des sonderlichen Seins jedes anderen; sie ist das einzige Mittel, solches sicher und verständlich zu bejahen. Darum bedeutet Mangel an Sinn für den Wert der Höflichkeit grundsätzlich immer Mangel an Spiritualität. Bekanntlich vertrat Franz von Assisi geradezu die Überzeugung, Gott habe Sonne und Mond und alles Gute und Schöne auf Erden aus Courtoisie erschaffen…

Soviel von der Höflichkeit als einer der Kardinaltugenden des ritterlichen Menschen. Vor allem nun aber lebt der Ritterliche ganz und gar im allerchristlichsten Zeichen des Wahrhaftigkeitsideals — und die bloße Möglichkeit, ohne Übergang hintereinander die Höflichkeit und die Wahrhaftigkeit als Attribute des Ritters zu behandeln, beweist, um ein wie Tiefes es sich bei ersterer handelt. Es ist unritterlich, zu lügen und zu betrügen. Der Mann muss unbedingt zu seinem Worte stehen. Er muss sich bei dem bescheiden, was er wirklich ist, sonach im einzig wertvollen Verstand bescheiden sein, was Vorspiegelung falscher Tatsachen ausschließt. Er muss den Mut haben, alle Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. In diesem Sinne geht die westliche exakte Wissenschaft in erster Linie nicht auf den Erkenntnistrieb, sondern auf das Rittergelübde zurück und ist damit ohne Christentum undenkbar. — Schauen wir, an diesem Punkte angelangt, beide Hauptseiten des christlichen Höchsttypus zusammen, die nach innen und die nach außen zu gekehrte, und berücksichtigen dabei alle bisherigen und alle aus der Erfahrung als möglich erwiesene Entwicklung, so dürfen wir nunmehr sagen: Der wahre Christ ist der Mensch, welcher in allem und jedem aufs Ganze und aufs Letzte geht. Aufs Ganze und Letzte ging Jesus selbst seiner besonderen Sendung gemäß; aufs Ganze ging jeder Apostel und jeder Märtyrer. Die spätere Kirche setzte den Menschen als Ganzheit, zu der des Weltalls in notwendige Beziehung, der Ritter aber trat ganz für seine Wahrheit und seine Ehre ein. Der wahre Christ setzt sich allezeit ganz und ohne Vorbehalt ein, ob er todesmutig kämpft oder ob er, in bewusstem Selbstopfer, den Kelch des Leidens bis zur Neige leert; ob er sich als Mann der Tat ganz durchsetzt oder als Mann der Erkenntnis sich alle erkannte Wahrheit vollkommen eingesteht, so wie sie ist, oder ob er, endlich, allen Schmerz so stark leidet, wie er tatsächlich wehetut und in diesem Sinn der letzten Wahrhaftigkeit durchhält. Jetzt dürfte vollkommen klar sein, warum der Christus-Impuls einen so ungeheuren, einzig dastehenden Fortschritt im Prozess des Einbruchs des Geistes einleiten musste: das Gebot, überall aufs Ganze und Letzte zu gehen, erschuf im Menschen eine nie dagewesene Bereitschaft, alle Einflüsse und Erfahrungen innerlich zu verarbeiten. Demgegenüber konnten Reaktionsperioden und sogar Missverständnisse, welche die christliche Wahrheit in ihr Gegenteil verkehrten, wenig bedeuten: sobald sich ein Mensch überhaupt als echter Christ darstellte und bewährte, setzte der Prozess des Einbruchs des Geistes sich in ihm schöpferisch fort.

Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
IX. Leiden
© 1998- Schule des Rades
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