Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

X. Freiheit

Historische Betrachtungen

Wie kommt es, dass das abendländische Ideal der Freiheit im Lauf des letzten Jahrhunderts fortschreitend nicht Wirklichkeits-steigernd, sondern -verderbend gewirkt hat? Denn ohne dass dem so wäre, bliebe die Anti-Freiheitlichkeit des jüngsten Zeitgeists unverständlich. So und nicht anders muss unsere erste Frage lauten im bezug auf das Freiheitsproblem in dieser Wendezeit. Denn mit theoretischen Erwägungen über das Ideal und Klagen über dessen Verleugnung ist nichts dem persönlichen Leben Förderliches zu erzielen. — Nun, dies hat nichts, aber auch gar nichts mit der Freiheit an sich zu tun. Es kommt daher, dass fortschreitend mehr Menschen solcher Art, in die Geschichte einzugreifen begannen und diese zuletzt bestimmten, welche nicht reif zu der Freiheit waren, auf welche ihnen verbrieftes Recht zuteil geworden war. Heute wird vielfach, so besonders im fascistischen Italien, dem Ideal der Freiheit das der Verantwortung als ein höheres entgegengestellt: keinem echten Vertreter der großen europäischen Tradition fiel es ein, die Ideen von Freiheit und Verantwortung zu dissoziieren; selbstverständlich setzte die eine die andere. Gleiches galt von individueller Freiheit und Pflicht der Gemeinschaft gegenüber. Uralte Tradition, die durch das Christentum bis zur Stoa und durch die Rassenerinnerung in anderer Richtung bis zum nordischen Heldenethos zurückreichte, hatte das Unbewusste der Oberschichten so tief gebildet, dass diese deshalb zuletzt dahin gelangten, den extremen Freiheitsbegriff des letzten Jahrhunderts als Rechtsforderung herauszustellen. Doch die Tragik des Menschenschicksals wollte es dieses Mal, wie leider die meisten Male, dass der Höhepunkt in einer Hinsicht mit einem Ende und einem unvorhergesehenen Anfang ganz von vorn zusammenfiel. Nicht nur ward das, wozu nur wenige innerlich berechtigt waren, auf viel zu viele ausgedehnt, welche sich nun gegen die Urheber des Fortschritts wandten: die Oberschichten verloren selbst das Recht auf jene Freiheit; sei es, dass sie ihre Vitalität bereits verausgabt hatten, oder dass das Unbewusste der Unterschichten in sie eindrang, so wie das der Neger in das Unbewusste der weißen Nordamerikaner (A, I). Vor allem aber gab es bald, beinahe plötzlich, so ungeheuer viel mehr Menschen, welche sich selbst bestimmen wollten, ohne dazu fähig zu sein, als je vorausgesehen worden war, dass sich daraus bald eine Situation ergab, welche die geltenden Vorurteile Lügen strafte. Zur Zeit Goethes zählten in Deutschland kaum über fünftausend Menschen; gestern taten es alle erwachsenen Millionen, heute tun es schon die Kinder, welche das öffentliche Leben in schwer zu überschätzendem Grade mitbestimmen. Hier setzte eine andere Kausalreihe ein, die mit dem Freiheitsproblem insofern zusammenhängt, als die Befreiung des Erkenntnistriebes sie ermöglicht hatte: der Siegeszug der Technik, welcher so vielen Menschen Lebensmöglichkeiten schuf, dass sich die Einwohnerzahl Europas sprunghaft vervielfachte. Dies löste denn jene Völkerwanderung in der Vertikale aus, welche ein viel Gewaltigeres ist, als alle Völkerwanderungen in der Horizontale, die bisher stattgefunden haben — jene Völkerwanderung, die eine Überschichtung aller Völker nicht von außen, sondern von unten her bedeutet, welche das Hauptmerkmal dieses ganzen Zeitalters ist und seit dem Weltkrieg, unter dem Banner von Wilsons Idealen, über den ganzen Planeten übergegriffen hat. Von den heute lebenden Menschen hat höchstens einer unter Zehn-, ja Hunderttausenden das psychische Erbe, welches alle traditionellen Freiheitslehren als reale Basis selbstverständlich voraussetzten. Der Fall liegt sehr viel ernster noch als dazumal, da die letzten gebildeten Römer sprachlos, in stummer Trauer, ihr Weltreich sterben sahen. Daher deren Stoizismus. Der Erschütterung ihrer Welt durch neue fremde Bewegtheit wussten sie zuletzt, als Statiker, die sie im Grunde waren, nur innere Unerschütterlichkeit entgegenzusetzen. Schon der ältere Cato dürfte den von den Volkstribunen vertretenen Volksschichten gegenüber ähnlich empfunden haben, wie Bismarck gegenüber den Sozialdemokraten. Der jüngere Cato stand zu Caesar ähnlich, wie Frankreich zum verjüngten Deutschland. Marc Aurel schließlich, resigniert, nahm seine Selbstgespräche sicher ernster als sein Regieren. Was dazumal im relativ sehr Kleinen geschah, ist heute auf unserem ganzen Planeten Geschichts-bestimmend geworden. Die Ideale, welche das liberalistische Zeitalter vertrat, waren auf psychologisch andere Menschen zugeschnitten, als die es sind, welche später aus ihrer rechtlichen Verkörperung Vorteil zogen.

Wie sehr dieser erb-psychologische Unterschied entscheidet, wie sehr die Tradition im weitesten Verstande das bedeutet, was man neuerdings oft durchs Blut allein erklärt, erläutern am besten zwei Vergleiche, welche jeder nachprüfen mag: der psychologische Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland, und zwischen dem Deutschland, welches auf Karl den Großen zurückgeht, und Preußen. Ersteren Unterschied will ich an der Hand der Schriften Ernest Seillières beleuchten, weil kein anderer Ausländer sämtliche Erscheinungen des Deutschtums seit zweihundert Jahren so vollständig, so verstehen-wollend, und dabei von so rein französischen Voraussetzungen aus behandelt hat wie er1 — und weil die Sachlage Deutschen nur in nichtdeutscher Perspektive ganz deutlich zu machen sein dürfte. Für Seillière ist das normale Europa das in der Antike verwurzelte, in der stoisch-christlichen Tradition gebildete, das seinen Höhepunkt in den klassizistischen französisch bestimmten Jahrhunderten erreichte. In alledem, was er Naturismus oder Romantik heißt, was in England zuerst geistbewusst wurde, in Rousseau vollkommen erwachte, doch erst in der deutschen Welt geschichtsbestimmend ward, sieht Seillière einen bedauerlichem Abweg oder Fall. Doch er tut dies nicht etwa als Rationalist, so wie der Deutsche sich ihn vorstellt: für Seillière ist die raison nichts anderes als die geklärte und zu frei verfügbarem Besitz gewordene Rassenerfahrung, die eben im Abendland von der Antike über das mittelalterliche Christentum bis zum Klassizismus reicht. Planetarisch beurteilt, ist Seillières Gesichtspunkt ein verstiegener: die klassische Tradition, in ererbter raison verdichtet, ist einzigartige Ausnahme, nicht Regel. Will man durchaus den Begriff der Romantik beibehalten, dann ist, der Mensch an sich Romantiker, das heißt ein aus der Natur herausgewachsenes Wesen, nur allerdings kein von Natur aus gutes, wie dies der abendländische Naturismus leider lange wähnte und wie er es in neuer Abwandlung heute wieder wähnt. Dieser Wahn ist eine der Hauptursachen jenes Ausbruchs der Unterwelt, welche seit dem Weltkrieg das Antlitz der Erde verzerrend bestimmt.

Sehen wir nun aber von der verfehlten oder schiefen allgemeinen Perspektive ab und gehen wir von der unbezweifelbaren Tatsache des Raison-Erbes in Seillières Verstande aus, welche die abendländische Geschichte bis zur Weltrevolution bestimmt hat, dann gewinnt das Problem einen anderen Aspekt; dann hat Seillière recht, wenn er von einer Untergrabung und schließlich Entwurzelung aller europäischen Tradition durch das redet, was er Romantik heißt; denn auch die Französische Revolution ist in seinen Augen mit Recht zur Hälfte romantischen Charakters; sie war es genau soweit und genau solange, als sie vom natürlichen Menschen ausging. Zweifelsohne ist der Prozess, der mit der heutigen Revolte der Erdkräfte, in Europa wenigstens, seinen Höhepunkt erreicht haben dürfte, im wesentlichen ein Abbau der überkommenen antik-christlichen spirituellen und moralischen Bindungen, welcher Abbau jüngerer Tradition durchaus folgerichtig die allerälteste neu bewusst macht, denn er legt sie frei. Daher das rückwärtsgewandte Ideal des mythischen im Gegensatz zum fortschrittlichen Menschen; daher in Deutschland die Wiederbesinnung auf das Germanentum. Die Tradition nun, welche nicht allein Seillière, welche ganz Frankreich als die europäische Tradition schlechthin empfindet, kam, abstrakt gefasst, einer fortschreitenden Verkörperung des spirituellen Prinzips, welches in diesem Zusammenhang in erster Linie den Aspekt der Freiheit hat, in den Instinkten, Gefühlen, Empfindungen, Impulsen, Gewohnheiten und Lebensformen gleich. Enger, doch ebendeshalb präzis-konkreter ausgedrückt: im Höchstfall war der Stoiker selbstverständlich unerschütterlich, der Christ selbstverständlich von der Freiheit zum Guten bestimmt, der honnête homme, zuletzt der homme de bonne compagnie selbstverständlicher Vertreter einer Beherrschtheit durch den Geist, der sich in der Anmut der Oberfläche ausprägte und damit den Höchstausdruck bisheriger europäischer Bildung darstellte. Der ganze Freiheitsbegriff, welcher die letzten Jahrzehnte vor dem Weltkriege bestimmt hat, war seinem gesamten Sinne nach auf diesen disziplinierten Kulturtypus klassisch-christlicher Tradition bezogen und auf ihn allein. In ihm bildeten innere Freiheit und äußere Verpflichtung, Selbstbewusstsein und Gemeinschaftsaufgabe, Verantwortung und Haltung eine unauflösliche Synthese. In diesem Sinne charakterisierten den guten Europäer französischer Prägung, nach Seillière, das selbstverständliche Zusammenbestehen

d’héroïsme aristocratique, d’honneur, de politesse, de galanterie et de noblesse d’esprit.

Dieser Typus war innerlich so frei, als ein Europäer jemals gewesen ist. Andererseits stand er innerlich jenseits und oberhalb aller der Antithesen, welche die verschiedenen Ideologien der Weltrevolution beherrschen.

Nun aber gelangen wir zu dem Punkt, um dessentwillen ich das Beispiel gerade Frankreichs heranzog: drüben hatte die uralte Tradition sämtliche Schichten der Bevölkerung so tief durchdrungen und so fest geformt, dass das Aussterben oder Abtreten von der historischen Bühne der alten Geschlechter, sowie das Überhandnehmen und Bedeutsamwerden von Typen geringerer Tradition das Bild nicht radikal veränderte; es fand nicht das statt, was am Ausgang der Antike geschah, da die Sklavenseele die der römischen Herren besetzte: im Gegenteil, die Unterschichten blieben zu einem nicht geringen Grade vom Geist der oberen besessen. Daher dann das Festhalten Frankreichs, durch alle Krisen hindurch, am individualistischen Freiheitsideal, sein besonderer Sinn für Harmonie, seine besondere Haltung, sein Durchhalten (tenue, tenir) überhaupt. Die Französische Revolution war vom natürlichen Menschen ausgegangen. Doch die antik-christliche Erbmasse war jenseits des Rheines dermaßen stark, dass bald eine Restauration des alten Zustands auf neuer verbreiterter Basis statthatte.2 Dass Napoleon einem antiken Imperator ähnelte, ist im gleichen Sinne symptomatisch, wie dass Stalin sich immer mehr dem Typus jener Tataren-Khane angleicht, welche Russland vom 13. bis 16. Jahrhundert beherrscht haben.

Von hier aus können wir besser, als aus irgendeinem anderen Gesichtswinkel, die neudeutsche Problematik verstehen, soweit sie dem Zusammenhange dieses Kapitels angehört. Alle namhaften Vertreter der deutschen Oberschichten waren noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im großen und ganzen Träger der gleichen europäischen Tradition wie die Franzosen. Freilich waren sie anders, weil sie eben Deutsche waren. Wohl hatte schon die Reformation die Wurzeln dieser Tradition in erheblichem Grade gelockert und geschwächt und damit Nur-Deutschem oder Nur-Nordischem in der deutschen Seele zu größerem und seither stetig wachsendem Übergewicht verholfen. (Im gleichen Verstand wird Frankreich fortschreitend lateinischer, proportional dem Bedeutungsverlust der Oberschichten fränkischen Bluts [AV, XIII]). Doch wie sehr das klassische Ideal im römischen Verstand noch heute im Bewusstsein aller Volksschichten lebendig ist, beweisen gerade jüngste Erscheinungen: die tiefe Wirkung der an sich bizarren Gestalt des ausgemendelten Römers Stefan George; die Beziehung von Ludwig Klages, dem Übersteigerer aller deutschen Romantik, zu Alfred Schuler, welcher sich selbst als Reinkarnation eines alten Römers ansah, und im großen das Werbende des antiken Gedankens in seiner fascistischen Wiedergeburt. Orientierte sich der deutsche Geist, solange die europäische Tradition ihn noch selbstverständlich beseelte, vornehmlich am hellenischen Ideal, weil auch die Griechen gleich ihm mehr erlebten, dachten und schufen, als ein Sein darstellten, so übertrug er das Ideal später instinktiv desto ausdrücklicher auf den Römer, dessen ganze Größe eben im Sein lag. Doch die Mehrzahl der Deutschen war schon lange nicht mehr wirklich der alten Tradition innerlich teilhaftig. Daher das Vorherrschen des deutschen Bildungsideals, welchem Wissen mehr bedeutet als Sein. Daher die groteske Verehrung, welche der Gelehrte seit der Reformation genoß; daher sogar das klassische Ideal der Klassikerzeit; daher endlich die Hochschätzung, welche alle Volksschichten in Deutschland instinktiv dem sogenannten Akademiker zollen. Die Außenwelt erkannte seit der Reformation mit sicherem Gefühl eigentlich nur zwei deutsche Typen als repräsentativ an: die Fürsten und die Professoren. Jene, weil sie noch am meisten vom alten Europa-Geist verkörperten; diese, weil sie am meisten von ihm wussten.

Doch in so unsicherer, ja eigentlich künstlicher Verfassung konnte Deutschland unmöglich sehr lange seine beste Form erkennen. Daher denn der Aufstieg Preußens einerseits und andererseits die Absonderung Österreichs, wo spanischer Einfluss die Herrschaft der alten Tradition eben dann restaurierte und neubelebte, als sie im Kern-Reich zu verwittern begann. Uns nun geht hier einzig Preußen an. Keiner versteht das erste Wort vom Preußentum, der, in Friedrich dem Großen, welcher Preußens Geist zu einem Weltfaktor erhob (was vorher dort geschah, war Provinzangelegenheit, die ebensogut eine solche hätte bleiben können), nicht in erster Linie den vollendeten Repräsentanten des französischen 18. Jahrhunderts, den ganz großen Europäer sieht. Aber eben weil er gerade dieses war, erkannte Friedrich, dass seine Untertanen keine Europäer mehr waren, und ihrer überwältigenden Mehrheit nach ein wenn nicht blutsmäßig Slavisches, so doch im Unbewussten von der slavischen Urbevölkerung Besessenes darstellte. So erwuchs aus seiner Meisterhand oder an seinem Vorbild jener herbe Stil, welcher einerseits hoch durchgeistigt war, andererseits eine Formung von außen nach innen, und nicht umgekehrt (wie dies der Seinsgrund des klassischen Europäers war), voraussetzte. Die Unterschichten ganz anderer Artung, welche die Deutschen im Nordosten vorfanden und deren Unbewusstes unaufhaltsam auch die reinblütigen deutschen Zuwanderer, welche nicht der Herrenschicht angehörten, sich selbst gemäß verwandelte, konnte vom Deutschtum her nur geführt und organisiert werden: so wurde der preußische Herr immer mehr zum einseitigen aber äußerst fähigen Führer; während sich andere Eigenschaften fortschreitend zurückbildeten. Hier und mitnichten im Spenglerschen Gegensatz des Ordensmannes zum Wiking liegt die lebendige Wurzel des preußischen Stils. Eben deshalb ist dieser auch kein Ausdruck einer ewigen Idee, wie solches Moeller van den Bruck wähnt. Dieser Stil setzt zu seinem Entstehen wie Bestehen durchaus den psychologischen Unterschied zwischen Führern und Geführten verschiedener Artung als organischen Dauerzustand voraus. Und gerade weil dem so ist, musste Deutschland immer preußischer werden, je mehr die früheren Unterschichten dank Bevölkerungszuwachs und Demokratisierung zu bestimmen begannen und je mehr Norddeutschland dank seiner zähen Arbeitskraft im deutschen Raume an spezifischem Gewichte zunahm. Seit dem Weltkrieg erfolgt nun eine Pangermanisierung des Preußentums. Ich gebrauche diese Bezeichnung, welche zunächst andere und abliegende Bedeutung anklingen lässt, um schon durch den Wortlaut zu erkennen zu geben, dass es sich bei der Volkwerdung unter dem Zeichen des Nationalsozialismus, deren direkte Vorstufe und Inkubationszeit die Weimarer Periode war, um ein anderes handelt, als die Vollendung des Prozesses der Verpreußung Deutschlands. Die preußische Grundordnung, auf den Prinzipien des Führens und Gehorchens aufgebaut, prägt sich zwar im nationalsozialistischen Staat noch schärfer aus, als in dem der Preußen. Aber andererseits steht heute keine Obrigkeit mehr dem Volke gegenüber: das Volk selbst artikuliert sich preußischen Grundsätzen gemäß. Damit aber saugt das Gesamtdeutschtum das Preußentum auf. Der Unterschied zwischen zum Führen und zum Gehorchen Geborenen verflüchtigt sich, der Geist des Volkstums tritt an die Stelle dessen der einstigen Herrenschichten, und dies ergibt ganz von selbst eine Erneuerung oder Wiedergeburt vorpreußischer Zustände. Denn ganz offenbar ist es der alte mittelalterliche Partikularismus, welcher fortschreitend immer mehr allen kleineren Organisationen auf Grund des Führerprinzips die Seele gibt, während in den Massenzusammenfassungen der Geist wieder auflebt, welcher die Kreuzzüge, den Dreißigjährigen Krieg, aber auch das Chorendeschülertum ermöglichte. Allein der gesamtdeutsche Geist atmet andererseits nichts mehr von der traditionellen deutschen Libertät. Dies erklärt sich, soziologisch und historisch, restlos daraus, dass die organischen Voraussetzungen des liberalen Freiheitsideals verstorben sind. Der Hinweis auf eine einzige historische Tatsache wird in diesem Zusammenhange lehrreicher sein, als die langatmigste abstrakte Auseinandersetzung. Vom Standpunkt der Philologen geht unser Wort liberal natürlich auf das römische liberalis zurück; dessen Bedeutung entsprach einer Verschmelzung dessen, was heute die beiden Begriffe generös und freigebig getrennt bezeichnen — eine Verschmelzung, dessen letztes Echo im französischen Begriff generösen Blutes (sang généreux) fortlebt. Die Geschichte nun lehrt, dass das seit einigen Jahrhunderten in Europa übliche Wort liberal, an sich eine spanische Wortbildung, im Spanien des 17. Jahrhunderts aufkam. Es kennzeichnete die Wesensart des idealen Edelmannes, und der Gegensatz zu liberal hieß demzufolge damals nicht aristokratisch oder autoritär oder reaktionär, sondern servil, das heißt bedientenhaft.3 So ändern die Worte im Wandel der Zeiten ihre Bedeutung. Worte aber sind immer Sinnes-Körper. So muss auch das Ideal der Freiheit in Deutschland einen neuen Körper finden, wenn es neu auferstehen soll.

1 Es ist schwer, ein besonderes Buch Ernest Seillières zu empfehlen, weil er seit dreißig Jahren mehr als eines im Jahre schreibt, immer über das gleiche Grundthema, und weil kein mir bekanntes von ihm seine Erkenntnisse verdichtet darstellt. So empfehle ich die, welche ich selber zuletzt las: seine Psychologie du romantisme français, Psychologie du romantisme allemand (éditions de la Nouvelle Revue Critique) und sein Buch über Ludwig Klages De la Déesse Nature à la Déesse Vie (Alcan). Am wenigsten wird der Leser aus seinem Buch über den Schreiber dieser Zeilen (La sagesse de Darmstadt) lernen, weil er auch diesen als Romantiker sieht — ein Irrtum, welchen Seillière übrigens seither eingesehen und in späteren Veröffentlichungen richtiggestellt hat.
2 Selbstverständlich war auch diese Restauration alles eher als vollständig — wirkliche Restaurationen gibt es nicht. Der Staatskanzler Metternich schreibt irgendwo, es sei kaum verständlich, welche Wandlung in kaum einem Vierteljahrhundert die Revolution in dem Auftreten der Franzosen bewirkt habe. Vor der Revolution hätte die ganze Welt vergeblich versucht, diese an Vornehmheit und an guten Manieren zu erreichen. Fünfundzwanzig Jahre später habe er, Metternich, kaum einen vornehmen Mann mehr in Paris gefunden. Der letzte Kgl. Bayrische Gesandte in Berlin, Graf Hugo Lerchenfeld, schreibt in seinen Erinnerungen und Denkwürdigkeiten (Berlin 1934, Verlag E. S. Mittler & Sohn), welches Buch, nebenbei bemerkt, das einzige wirklich schöne, vornehmer Gesinnung entsprossene und seine Zeit sowohl lebendig als objektiv schildernde deutsche Memoirenwerk seit demjenigen Bismarcks ist, ein Buch, dem ich den zitierten Ausspruch Metternichs entnommen habe, am Hofe Napoleons III. hätte es auch keinerlei echte Vornehmheit gegeben. Was sich aus Frankreichs großer Zeit über die Revolution hinübergerettet hatte, entsprach im typischen Höchstfall der Gesinnung und Gesittung der ehemaligen noblesse de robe. Aber das ist doch sehr viel mehr, als von den Römern oder den nach Amerika übergewanderten Engländern übriggeblieben ist und vor allem auch mehr, als was in Deutschland von seiner eigenen Tradition des 19. Jahrhunderts übrigbleiben dürfte.
3 Vgl. hierzu Benedetto Croces Storia d’Europa, Bari 1932, S. 13 ff.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
X. Freiheit
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