Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

I. Gesundheit

Subjekt

Was folgt hieraus? Sollen wir nunmehr die Krankheit idealisieren oder brütend bei ihr verweilen, wie dies das ursprüngliche Christentum in hohem Grade tat? Oder sollen wir alles Heil — Heil bedeutet endgültiges Geheiltsein und damit den Superlativ möglicher Gesundheit — in ein Jenseits hinüberverlegen und unser ganzes Sinnen und Trachten darauf richten? Für den, welcher die Lebenstatsachen so sieht und erlebt, wie sie wirklich sind, und der ein wahrhaft persönliches Leben führen will, gibt es eine andere und bessere Lösung.

Ihm ist die Gesundheit weder Norm noch Ideal. Er erkennt sich als das extrem komplexe Wesen an, das sich überhaupt nicht in dauerndem Gleichgewicht befinden kann. Also gibt es für ihn die ganze Problematik des absolut und vollständig Gesund-sein-Wollens nicht. Unbefangen die Dinge so erlebend, wie sie wirklich sind, sieht und erkennt er Gesundheit und Krankheit in erster Instanz als äquivalente Tatsachen und als gleiche Un-Werte an. Sie sind ihm äquivalente Tatsachen, weil kein Zustand in allen Hinsichten als gesund und keiner als in allen Hinsichten krankhaft anzusprechen ist: so hat manche geistige und seelische Steigerung vom Körperstandpunkt Pathologisches zur Voraussetzung. Sie sind ihm gleiche Un-Werte insofern, als für das persönliche Leben nur auf die Person bezügliche Werte zählen, und Gesundheit und Krankheit etwas wesentlich und durchaus Unpersönliches bedeuten.

Hiermit gelangen wir zum Innewerden des für das persönliche Leben Wesentlichen. Wer sich selber so sieht und erlebt, wie er tatsächlich ist, der kann nicht umhin, zu den folgenden Schlüssen zu gelangen: sein Selbstgefühl wird durch Gesund- oder Kranksein nicht verändert; und sein Identitätsbewusstsein ist gerade an den Körper, die Seele und den Geist gebunden, die ihm tatsächlich eignen. Der Mensch kann sich gar nicht aufrichtig anders wollen als er ist, sofern er nicht seine eigene Vernichtung will. Warum das so sein muss, erweist objektiv auf psychophysischer Ebene die Konstitutionslehre: ein bestimmter körperlicher und seelischer Habitus hängen unlöslich zusammen und jede Erkrankung, sogar solche, die insofern zufällig ist, als sie den Menschen rein von außen her anfällt, ist letztlich typisch für bestimmtes Sosein. Was jedoch das geistige Identitätsgefühl betrifft, so bezieht sich dieses auf das Sub-jekt alles nur möglichen Gesund- und Krankseins. Mit keinem von beiden Zuständen liegt es auf einer Ebene. Nun empfindet der Mensch nur dieses Sub-jekt als schlechterdings persönlich; alles andere in sich hat, dieses allein ist er. Man kann auch anderes haben als man hat, ohne deshalb anders zu sein — was man ist, kann man nur so sein, oder man ist nicht.

Hieraus dürfen wir aber wiederum nicht folgern, dass einen das Nicht-Persönliche nichts anginge: nachweislich ist das Gegenteil der Fall. Sowohl die stoische Theorie, dass das Schicksalhafte adiaphoron, gleichgültig sei, als die indische, dass von allem nicht dem Selbste Zugehörigen abzusehen ist, noch die ursprünglich christliche, welche nur die unsterbliche Seele ernstnimmt, widerspricht den Ergebnissen echten und wahrhaftigen Innewerdens. Die wahre und unabweisliche Folgerung, die sich aus obiger Feststellung ergibt, ist die, dass ungeheuer viel Unpersönliches dem persönlichen Menschen dennoch zugehört. Dieses wäre denn die entscheidende und zugleich für das Bewusstsein dieser Zeit neue Erkenntnis: direkt Unpersönliches gehört mit zum persönlichen Menschen: von hier aus allein kann zum Gesundheitsproblem das rechte Verhältnis gewonnen werden.

Hat man diese Schlussfolgerung einmal gezogen, dann erscheint sie einem gleich dermaßen evident, dass man sich der Erforderlichkeit, näher und weiter bei ihr zu verweilen, beinahe schämen möchte: denn längst schreien alle bekannten Tatsachen nach dieser Deutung, und nach ihr allein. Von jeder anderen her erscheint es ungeheuerlich, dass Mineralien Krankheiten heilen und den Gemütszustand beeinflussen können: eignet dem Menschen unter anderem Mineralität, die er doch nicht ist, dann liegt hier überhaupt kein Problem vor. Man soll also in Gottes Namen Chemikalien anwenden, wo immer sie Gutes wirken; die dem entgegenstehenden Vorurteile psychischer Heiler sind nicht ernst zu nehmen. Gleichsinnig ist jeder menschliche Phänotypus Ergebnis der Verbindung unendlich vieler für sich selbständiger und scharfumrissener Erbfaktoren, die in gar keiner notwendigen Beziehung zum Selbstbewusstsein stehen. Wessen Bewusstsein auch nur einigermaßen aufgehellt ist, der unterscheidet selbstverständlich zwischen dem, was er von Vater und Mutter und sonstigen Vorfahren hat, und dem, was er persönlich ist; Identifizierung des Selbstes mit dem Ererbten kommt für ihn nicht in Frage. Aber so ist der Mensch auch nicht die Psyche, die der Analytiker herauspräpariert, schon gar nicht der weite Umkreis ihrer, welcher dem sogenannten kollektiven Unbewussten zugehört. Er ist Subjekt und ausschließlich Subjekt, in keiner Objektivierung anders und mehr enthalten, als wie der Sinn in Sätzen, Worten und Buchstaben enthalten ist. Insofern kommt von allen traditionellen Ontologien die altindische der Wahrheit am nächsten: es gibt wirklich keinerlei Gestaltung, die mit dem Selbst zusammenfiele. Dennoch kann die indische Lehre nicht als letztgültig anerkannt werden. Denn erstens entwirklicht sie alles, was nicht Selbst ist — und wir sahen bereits, dass zwischen Graden des Wirklichseins nicht unterschieden werden darf. Zweitens aber entpersönlicht sie es — und damit entkleidet sie es ihres sichersten und wesentlichsten Merkmals. Es mag wohl sein, dass es den Begriffen Atman und Brahman genau Entsprechendes gibt und dass beide im Grenzfall eins werden können — jedenfalls aber ist kein Brahman ursprünglich gegeben, und jedenfalls bedeutet die Verschmelzung des Atman mit jenem selten erreichtes Ziel. Von allen indischen Lehren eignet nur einer ein höherer Grad von Gegenständlichkeit: derjenigen des Mahayana-Buddhismus, welcher Samsara und Nirvana in eins zusammenschaut. Doch auch diese vergewaltigt das Erlebnis letztlich auf Grund geistigen Vorurteils, denn gerade Einheit ist dem Bewusstsein nirgends gegeben. So müssen wir schon nach eigenem und neuem Ausdruck suchen, um den Forderungen des radikalen Realismus gerecht zu werden.

Soweit ich urteilen kann, wäre der folgende Ausdruck Tatsachen- sowohl als Sinn-gerecht. Der Mensch ist nachweislich nicht die abgeschiedene Einzelperson, als welche er sich, sofern er ein Weißer des 20. Jahrhunderts ist, unwillkürlich vorstellt; er ist keine Monade, schon gar keine Monade ohne Fenster: er verkörpert vielmehr eine Beziehung zwischen Selbst und Welt im weitesten Verstand. Unablöslich gehört er dem großen Ganzen an — im Raum sowohl als in der Zeit, in der Dimension des Erscheinenden sowohl als in der des Sinns; doch mit verschiedenen Teilen seines Wesens tut er’s auf verschiedene Weise. Die äußerlichste Beziehung versinnbildlicht die Notwendigkeit des Essens und des Atmens. Doch ist das Milieu, wie man es gemeinhin heißt, in einem viel tieferen Verstande bildend, als gerade Milieutheoretiker zu verfechten pflegen. Mit Recht spricht man von Vater- oder Mutterland: insofern der Hormonspiegel den Typus macht, und jener unzweifelhaft zu einem sehr erheblichen Teil durch Umwelteinflüsse bedingt wird, hat jeder Mensch außer seinen leiblichen Eltern, in analogem Sinne wie er einen besonderen geistlichen oder geistigen Vater und besondere seelische Vorfahren haben kann, auch seine Erde oder sein Meer recht eigentlich zur Mutter. Dieses Erd-Kind im Menschen gehört nun unablöslich zu ihm, doch es ist nicht er selbst; es ist ein Mittel- und Bindeglied zwischen Selbst und Gesamtkosmos. Dennoch kann von ihm, noch einmal, beim konkreten Menschen niemals abgesehen werden, denn der konkrete Mensch ist eben nicht das Selbst allein, sondern eine Beziehung zwischen Selbst und Welt in allseitigem Verstand.

Inwieweit das Wahre an der Astrologie in den oben beschriebenen Zusammenhang hineingehört, liegt dermaßen auf der Hand, dass es darüber kaum Worte zu verlieren lohnt (W 49 ff.). Bekanntlich hat Karl Ernst Krafft im Lauf des letzten Jahrzehnts durch völlig vorurteilsfrei und exakt vorgenommene statistische Untersuchungen nachgewiesen, dass der Mensch wirklich im Sinn der alten Astrologie vom Gesamtkosmos bedingt ist und dass es wirklich eine kosmische Prädetermination gibt, die sich im Horoskope äußert. Das Verhältnis der Einzigkeit und Freiheit der Persönlichkeit zu diesem Fatum ist (dies ist meine Deutung) so zu verstehen, dass sich mittels gleicher Buchstaben verschiedenster Sinn ausdrücken kann. Das Verständnis der Beziehung zwischen der persönlichen Indeterminiertheit und den Zahlengesetzen des Kosmos vermittelt die Musik: auch hier sind es ewig gleiche Zahlengesetze (welche sogar mit den für die Planetenabstände gültigen übereinstimmen), mittels derer die Inspiration des Künstlers sich ausdrückt, doch hängt es andererseits von diesem allein ab, was er mittels dieser Zahlengesetze sagt; Anschlag, Auffassung, Tempo usf. beziehen den physikalischen Rhythmus und Zeitbegriff in den der erlebten Zeit, der durée réelle Henri Bergsons, hinein. Grundsätzlich Gleiches, wie die Astrologie, behauptet der I Ging, das chinesische Buch der Wandlungen, indem er lehrt, dass jeder persönliche Zustand jedes Menschen zugleich einer kosmischen Situation entspricht (W 54). Dafür sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass von der hier von uns gegebenen Formulierung aus zum ersten Male dem Verstande einleuchten kann, inwiefern sich der Mensch mit dem sich wandelnden Planeten mitverwandeln muss1. Als Erdwesen ist er gar nicht selbständig; er gehört dem Erdkörper an, dessen Schicksal zugleich das seine ist oder abgrenzt. Mit dem Erdschicksal aber kann sich kein geistiges Selbst identisch fühlen, denn das Erdenschicksal ist nicht Geist-Schicksal. Letzteren Satz brauchen wir nicht näher auszuführen, noch auch zu begründen: die elementarste Selbstbesinnung erweist die Nicht-Identität von Geist- und Erderlebnis, und dieser Erfahrung gegenüber ist keine anderes behauptende Theorie auch nur für einen Augenblick ernst zu nehmen. Doch auch mit dem, dessen Wirklichkeit der Blutbegriff im weitesten Verstand am eindeutigsten bezeichnet, ist der Mensch nicht identisch. Freilich ist der Mensch seine Rasse, sein Geschlecht — doch nur mit bestimmten Elementen der Beziehung zwischen Selbst und Welt, die seine Ganzheit darstellt; er ist es als Kollektiv-, als Gattungswesen; das Eigentümliche der Individuation aber liegt gerade darin, dass die ursprüngliche Identität von Individual- und Kollektivdasein durch einen Differentiationsprozess aufgehoben wird, kraft dessen ein ebenso unzurückführbares Novum entsteht, wie dies das Kind in bezug auf seine Eltern darstellt. Auch hier erübrigt sich jede weitere Ausführung und nähere Begründung: wer zwischen dem Kollektiv- und Individualwesen in sich nicht zu unterscheiden weiß, der versenke sich nur einmal, sämtliche Vorurteile abblendend, für einige Stunden in sich selbst und versuche ehrlich das zu realisieren, was sein Bewusstsein ihm tatsächlich vor-stellt: glückt ihm nur einmal der eingeleitete Versuch des Innewerdens, dann werden für ihn sämtliche Theorien ohne Ausnahme, welche die Identität von Individuum und Kollektivum behaupten, für alle Zeit erledigt sein. — Der Mensch ist also unbestreitbar eine Beziehung zwischen Wirklichkeiten verschiedener Art. Dies ergibt von Hause aus im Falle jedes Zustandes ein überaus komplexes, von vielfältigsten Kräften bedingtes Gleichgewicht, das überaus leicht gestört werden kann. Es ergibt sich als Grundcharakteristikum des Menschen seine organische Gefährdetheit.

Hiermit hätten unsere Betrachtungen uns von anderer Seite her der früher erlangten Einsicht wieder zugeführt, dass das Gesundheitsideal ein Ausdruck unter anderem dessen ist, dass Problematik den Menschen macht. Nur können wir jetzt einen Schritt weiter gehen. Ganz offenbar gehört die Gesundheit im üblichen Verstand zu den Aspekten des Gesamtgleichgewichts, welche die geringste persönliche Bedeutung haben. Das Klima mag schlecht, das physische Erbe schadhaft sein; Mikroben mögen sich zu Herren des Organismus aufwerfen, Gifte den Körperchemismus auseinanderbringen, physische Ursachen die Psyche bis zur Unkenntlichkeit verändern: den betreffenden Einzelnen berührt alles dies in seinem Identitätsbewusstsein desto weniger, je tiefer dieses wurzelt. Gesundheit ist nämlich auf den Geist überhaupt nicht zurückzubeziehen, alles Persönlichkeitsbewusstsein jedoch ist geistiger Art. Man versenke sich ehrlich in das, was man als Selbst erlebt und suche es verstandesmäßig zu begreifen: nie wird man da behaupten können, dass man sich als Blut oder Erde erlebt; man erlebt sich immer nur als ein Subjekt, das allem empirisch Bestimmbaren zugrunde liegt. Und dieses Subjekt ist durchaus nicht etwa eine Verstandesabstraktion, es ist konkrete Bewusstseinstatsache und als solche qualifiziert. Dieses Subjekt ist nun das Eine und Einzige, mit dem sich der Mensch als Persönlichkeit zutiefst identisch fühlt. Auf dieses aber lässt sich der Gesundheits- und Krankheitsbegriff überhaupt nicht anwenden, geschweige denn zurückbeziehen. Daher das Widersinnige, das der Vorstellung des Todes eignet und die Plausibilität des Unsterblichkeitsgedankens. Sucht man von hier aus nun zwischen Selbst und Nicht-Selbst, von allen Übergängen absehend, grundsätzlich zu unterscheiden, dann gelangt man zur folgenden Allgemeinbestimmung: alles, was von außen her überhaupt direkt beeinflussbar und wandelbar ist, ist Nicht-Selbst. Worauf immer Mineralien oder organische Substanzen oder fremde lebendige Körper oder fremde Seelen Einfluss haben können — letztere in Form von Drill, Training, Suggestion — ist mit dem Persönlichkeitskerne nicht identisch. Damit ist aber alles, schlechthin alles, was die Problematik der Gesundheit ausmacht, als den Kern des Menschen nicht betreffend festgestellt. Abschließend dürfen wir denn sagen, dass der Gesundheitsbegriff letztlich das darstellt, was Alt-China eine falsche Bezeichnung hieß, von deren Richtigstellung alles Heil abhängt (SE 344 ff., RM 21-24, AV, II). Gerade dort Vollkommenheit vom Standpunkt des Einzigen zu fordern, wo das Kollektive oder Nicht-Menschliche vorherrscht, wo aller Nachdruck auf Nicht- oder Überindividuellem ruht, bedeutet ganz einfach Widersinn. Die Gesundheit gehört zum Unpersönlichen das dem Menschen zugehört.

Ist dem nun also, dann kann sich das Persönliche überhaupt nicht direkt in diesem Zusammenhang manifestieren, sondern einzig und allein in der Art, wie sich der Mensch zum Nicht-Ich in sich verhält. Hiermit wäre denn bestimmt, wie sich das Problem des persönlichen Lebens im Rahmen des Gesundheitsproblemes praktisch stellt. Es stellt sich grundsätzlich nicht, anders, wie im Rahmen des Schicksalsproblems (SM, VI). Und daraus folgt weiter: amor fati sollte die Grundhaltung aller Gesundheit und aller Krankheit gegenüber sein.

1 Der zweite der vier Vorträge, die ich auf der Darmstädter Weisheitstagung des Jahres 1927 Mensch und Erde hielt, führte dementsprechend den Titel Der sich wandelnde Planet als Einheit. Dieser Zyklus ist in die anglo-amerikanische und die spanische Ausgabe von Wiedergeburt mitaufgenommen worden. In deutscher Sprache ist er im Leuchter-Band Mensch und Erde (Darmstadt 1927, Otto Reichl Verlag) nachzulesen. Dem gleichen Zyklus gehörte auch Max Schelers Stellung des Menschen im Kosmos an und Hans Muchs philosophisch beste Leistung: sein Vortrag Der Körper als Fatum.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
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