Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

X. Freiheit

Weltrevolution

Doch wie stimmt das im letzten Abschnitt über die Freiheit Ausgeführte mit dem Ideal größtmöglicher Weltoffenheit zusammen, das wir als Generalideal für alles aufsteigende Menschentum nachgewiesen hatten? Die Antwort finden wir, wenn wir bei der Behauptung anknüpfen, dass der Held das Urideal des Menschen darstellt. Die Haltung, das Ethos überhaupt macht den Menschen im Unterschied vom Tier. Der Höchstausdruck des gehaltenen und ethischen Menschen ist der Held. Und da unsere bisherigen Betrachtungen sich beinahe durchaus auf die aktive Modalität des Lebens bezogen, wie dies der Deutlichkeit halber sein musste, weil jeder Freiheit unwillkürlich mit Aktivität assoziiert, so mussten wir derselben Deutlichkeit halber unsere Betrachtungen zuletzt auf den Helden zuspitzen. Doch andererseits hatten wir schon an früherer Stelle angedeutet, dass der Heilige in noch höherem Grade frei sei als der Held. Knüpfen wir nunmehr an das in Leiden und Weltfrömmigkeit über Ergriffenheit als Weg zum Aufstieg Gesagte an, dann wird es uns ohne weiteres gelingen, unsere neuen Einsichten auf den pathischen Typus des Freien zu übertragen und damit die zuletzt bekundete Einseitigkeit zu überwinden. In Leiden hieß es:

Zwei und nicht mehr schöpferische Einstellungen sind dem Menschen im Weltzusammenhang möglich: die des Ergreifens und die des Ergriffenwerdens, oder kürzer der Ergriffenheit.

Vom Standpunkt der Freiheit ist es offenbar das gleiche, weil nur eine Frage der Betätigungsrichtung, ob sie sich im Tun oder im Lassen, im Erobern oder im Ertragen äußert, denn in beiden Fällen entscheidet die gleiche rein persönliche Unbedingtheit, Verantwortung und Initiative. Kreuz und Adler sind als entgegengesetzte Pole innerhalb des Menschenwesens auf ihrem ursprünglichen Plan auf keinen Generalnenner zu bringen. Doch zeigten wir bereits, dass auf höherer Ebene eine Synthese beider möglich ist. Im Zusammenhang des Freiheitsproblems können wir das Wie dessen näher bestimmen, als in Leiden möglich war, damit aber einen Schritt weiter in der Bestimmung und Lösung des Freiheitsproblemes selbst gelangen. Wir brauchten einmal schon das von Salomo Friedlaender zuerst im hier gemeinten Sinne benutzte Wort schöpferischer Indifferenz. Das funktionale Freiheitsproblem ist augenscheinlich ein reines Aktualitätsproblem. Frei im funktionalen Verstand ist der Mensch immer nur an der mathematischen Grenzlinie zwischen einem noch nicht und einem nicht mehr. Denn bevor eine Entscheidung gefasst wird, tritt Freiheit nicht in Aktion, und nachdem jene getroffen ward, setzt Bindung durch das Geschehene ein. So verstanden ist Freiheit ein Schwebezustand, ein Zustand vollkommener Nicht-Festgelegtheit und damit Unsicherheit. Insofern bedeutet der Wille zu ihr wesentlich Wille zum Risiko (W, 236 ff.). Damit ist nun völlig eindeutig bestimmt, dass das Freie, funktional beurteilt, in einem allezeit Freisein zu etwas besteht. Womit weiter ausgesagt ist, dass der Lebensmittelpunkt des vollkommen Freien genau im Punkte schöpferischer Indifferenz nicht allein zwischen allen möglichen Sonderentschlüssen, sondern auch den Grundpolaritäten des Lebens und damit oberhalb ihrer liegen muss.

Hiermit gelangen wir zu dem konkreten Problem, das sich in der Periode der Generalrevolte der Erdkräfte akuter stellt als vielleicht je zuvor. Die wichtigsten Antithesen und Antinomien, welche heute die Geister beunruhigen, beruhen nämlich auf einem Verkennen des soeben festgestellten Umstands, dass der Mensch seinen eigentlichen Ort jenseits der Polaritäten hat und dass dieses Jenseits gerade in dem Geist liegt, welcher heute so oft als einer der fraglichen Pole beurteilt wird. Die heute landläufigen Polaritäten sind zum größten Teile Pseudopolaritäten. Ich möchte das, was hier zu sagen ist, an besonders eindrucksvollem lebendigen Beispiel dartun und dabei das Erforderliche etwas breiter ausführen, als sonst dem Stile dieses Buches entspricht, damit in bezug auf diesen wichtigsten Punkt ja kein Missverständnis bestehen bleibe oder aufkomme. Die sowohl umfassendste und tiefsinnigste Theorie vom polaren Charakter der Weltordnung enthält die altchinesische Lehre von Yang und Yin, vom Schöpferischen und Empfangenden, deren Zusammenspiel alle Erscheinungen der Welt ergäbe. Da die Chinesen von der Totalität des Kosmos (als Gesamtwirklichkeit verstanden) her dachten, so unterschieden sie nicht in unserem Sinne zwischen Natur und Geist und schieden demzufolge auch nicht scharf zwischen Notwendigkeit und Freiheit. Sie erlebten alles Geschehen in Form unauflöslicher Gesamtsituationen, und so geschah es, dass auch das rein Geistige von ihnen primär in seiner Auswirkung im Rahmen der Natur erlebt wurde. So wurden von ihnen die ursprünglich Naturpolaritäten betreffenden und sinngerecht nur auf sie beziehbaren Begriffe von Yang und Yin auch dort angewandt, wo Geist und Natur in Spannung stehen, wobei denn der Geist meist, aber durchaus nicht immer, mit dem Schöpferischen und Lichten und Leichten identifiziert wurde. Heute nun glauben viele Europäer, dass sich Geist und Erde wesentlich wie Yang und Yin zueinander verhalten, und je nach der Partei optieren sie für das eine oder das andere Prinzip. Das interessanteste Missverständnis dieser Art bekundet nun C. G. Jung. Und seinen besonderen Fall möchte ich hier etwas ausführlicher behandeln, gerade weil ich ihn für einen der bedeutendsten lebenden Erforscher der weitesten Möglichkeiten der Seele halte, und zum Anlass die Äußerung von ihm nehmen, wo sein Missverstehen, soweit meine Kenntnis reicht, am offenkundigsten zutage tritt.

In meinem Buche über die Weltrevolution hatte ich gezeigt, dass der Sinn dieser ihrer ersten Phase der einer Revolte der Erdkräfte ist. Seit dem Siege des Christentums immer mehr verdrängt, hatten sich die Erdkräfte von Jahrhundert zu Jahrhundert immer mächtiger aufgestaut. Und nachdem es oft schon Ausbrüche geringeren Grades und Umfangs gegeben hatte, die aber immer wieder unterdrückt wurden, gab ihnen der Weltkrieg Gelegenheit zu einer so totalen Explosion, dass nur zwei mythische Bilder der heutigen Katastrophe gerecht werden: das der Sintflut und das der Apokalypse. Alle großen Bewegungen dieser Zeit stehen im Zeichen nicht des Geistes, sondern der Erde. Für die Erde aber gibt es keine Freiheit. Und so bestände — so hieß es in jenem Buch — Gefahr, dass alle Errungenschaften der letzten Jahrtausende menschlicher Geschichte verschüttet würden. Diesem furchtbaren Schicksal könne nur höchstes Verantwortungsbewusstsein und höchster moralischer Mut seitens der Vertreter echten Geistes vorbeugen. Zu dem Ende schlug ich vor, dass sich alle wahrhaft freien, unabhängigen, rein Qualitäts- und Einzigkeitsbewussten, keinem äußeren Drück und keiner Suggestion nachgebenden Männer und Frauen zusammenschließen sollten; nicht als Partei, als Klasse oder Organisation, auch nicht als Orden oder Kloster, sondern in Form einer äußerlich losen, innerlich desto festeren Gemeinschaft gleichen Wert- und Verantwortungsbewusstseins. Die Aufgabe dieser ganz kleinen Minderheit — denn nur eine solche käme auf lange hinaus in Frage — solle aber keineswegs in Opposition bestehen. Heute lägen die Dinge nicht so, wie bei der Entstehung des Christentums, wo Martyrium für bestimmte Ideen dem Geist am besten diente. Das Neuaufleben der Erdkräfte sei an sich durchaus nichts Schlechtes, und es gälte auch nicht ihren Gegensatz herauszustellen. Über die schroffen Antithesen des christlichen Zeitalters müssten wir jetzt gerade hinaus, mit dem Ziel einer auf totaler Offenbarung beruhenden integralen Kultur, welche alle Elemente des Menschenwesens zu neuer reicherer Synthese zusammenschlösse. Zunächst aber bestände die Gefahr, dass die übermächtig hervorstoßenden Erdkräfte den Geist, der diese Synthese schaffen könnte, vernichteten. Deswegen dürfe der echte Geistesvertreter heute gerade nicht sterben: er solle und müsse leben und durchhalten, und zwar in der schöpferischen Polarisationsstellung, von der wir früher zeigten, dass sie allein zur Schöpfung im Gegensatz zur Entwicklung führt (AV, IV). C. G. Jung nahm nun gegen die Eigenschaftsliste, welche ich für die Vertreter echten Geistes aufstellte, in einer Kritik meiner Weltrevolution Stellung, wobei er fast überall das genaue Gegenteil von mir behauptete. Er schrieb in den Baseler Nachrichten vom 13. Mai 1934:

Jene Edelmenschen, welche dem Autor vorschweben, werden dann einen Orden bilden oder wenigstens dazu geeignet sein, in einen solchen aufgenommen zu werden, wenn sie sich (des Autors Eigenschaftsliste entsprechend) ihrer Unfreiheit bewusst sind, wenn sie ihre demütige Abhängigkeit erkannt, und ihre sogenannte Einzigartigkeit vergessen haben; wenn sie sich den äußeren Gewalten anzupassen wissen, wenn sie ihre Minorität einigermaßen ertragen können, wenn ihr Gewissen sein natürliches Zentrum in ihrer Erde, in ihrer Rasse, in ihren sozialen und politischen Notwendigkeiten hat und wenn durch die Gegenwart Gottes, die sonderbarer weise immer mit einer größten Not zusammenfällt, in ihnen ein wahrhaftes Gemeinschaftsbedürfnis aus der Erfahrung tiefster menschlicher Nichtigkeit entstanden ist. Weiter schreibt Jung: Fast scheint es, dass dieses Mal die Erde dem Himmel etwas zu sagen und dass mithin der Luftgeist das Parieren zu lernen hätte (von mir gesperrt, K.). Noch weiter hieß es: Der Westen hat den ausnahmsweisen Gegensatz zwischen Geist und Erde perpetuiert und lässt sich darob ethisch nicht zur Ruhe kommen. Der Chinese glaubt an den Geist der Schwere, und der Drache, den wir uns gerne in finstern Höhlen denken, funkelt ihm als fröhliches Feuerwerk am Himmel und vertreibt allen bösen Gespensterzauber. Geist bedeutet ihm nicht Ordnung, Sinn und alles mögliche Gute, sondern ist eine feurige und bisweilen gefährliche Gewalt.

Endlich schrieb Jung, auf meine Prophezeiung einer Revolution des Geistes als Ausgang der Revolte der Erdkräfte übergehend — welche Revolution meiner Überzeugung gemäß zu einer neuen und höheren Art von Spiritualität führen würde —, im gleichen Aufsatz:

Woher soll denn die religiöse Erneuerung kommen, welche Keyserling als notwendig und imminent voraussagt, wenn nicht unser hochgelobter Geist, der alles verstehen will, zu allem sich eine Einstellung reservieren möchte und erst noch ethisch verantwortlich zu sein sich verpflichtet fühlt, das Zeitliche segnen kann? Er ist ja menschlicher Geist geworden, fehlbar, beschränkt; er bedarf eines Todes, um neu zu werden, was er aus sich nicht kann. Was bedeutet die Macht der forces telluriques anders, als dass der Geist wieder einmal altersschwach, weil zu sehr vermenschlicht, geworden ist? —

Ich habe nur Stichworte zitiert, doch sie genügen zur Bestimmung des für diese Zeit typischen Missverständnisses. Auch C. G. Jung ist, obschon Psycholog, ausgesprochener Erdmensch. Nie war er echter, als da er auf der Weisheitstagung zu Darmstadt im Frühjahr 1927 die Variation Die erdbedingte Psyche des Generalthemas Mensch und Erde ausführte. Er ist aber sosehr Erdmensch, dass ihm der freie Geist mehr oder weniger der Luftikus ist. Darum muss er die chinesische Lehre missverstehen, denn der Chinese ist durchaus nicht Erdmensch: sein Bewusstsein verkörpert vielmehr auf höchst eigentümliche Weise das ursprüngliche Bewusstsein des dem Kosmos harmonisch als Geist- und Erdgeschöpf eingefügten Menschen, nur auf der Stufe höchster moralischer und ästhetischer Kultur. Sehr viele Fragen, welche der Europäer stellt, stellt der Chinese nicht: so weder die nach der Freiheit, noch die nach dem irrationalen Schicksal, noch die nach Gott. Aber dank seiner richtigen erlebnismäßigen Einstellung im Weltzusammenhang verschiebt oder verfälscht er auch nirgends die wahren Verhältnisse. So hat er niemals, wie Jung zu Unrecht behauptet, im Drachen ein lustiges Feuerwerk gesehen und nie im Geist ein im ähnlichen Verstand Gefährliches, als welches uns die Unterwelt erscheint. Dringt man durch die Begriffsgebilde, welche die Ideogramme versinnbildlichen, zu dem zutiefst gemeinten Sinne durch, dann erkennt man, dass der Chinese eine Polarität Natur-Geist überhaupt nicht setzt; sonst könnte sich Yang nicht ohne weiteres in Yin verwandeln und umgekehrt; sonst ginge das Lichte nicht immer wieder aus Dunklem, das Leichte aus dem Schweren hervor und umgekehrt. Die Chinesen erkannten sonach im männlichen und im weiblichen, im aktiven und im passiven Prinzip ganz richtig die Pole der Naturdynamik, durch deren Zusammenspiel hindurch der Geist sich manifestiert. Einen dem unseren entsprechenden Begriff von Geist hat China nicht. Doch der des Tao, welcher ihm so nahekommt, als aus kosmozentrisch-naturistischer Einstellung geborenem Begriffe möglich ist, hat wesentlich oberhalb jener Pole seinen Ort; das Tao umfasst und durchdringt zugleich Yang und Yin und offenbart sich durch den Zusammenhang und das Zusammenwirken beider.

Differenziert man nun schärfer, auf westliche Art, dann kann man der richtig verstandenen chinesischen Weisheit nur recht geben. Der Welt-Sinn manifestiert sich durch das Weltalphabet; und nur mittels der vorhandenen Buchstaben und im Rahmen der geltenden Normen von Grammatik und Syntax kann er sich äußern. Und da erscheint mal das Schöpferische und mal das Empfangende, mal das väterliche und mal das mütterliche Prinzip als bester Mittler der Geistesoffenbarung. Jung nun optiert gleich den meisten Repräsentanten der Erdkräfte für das Mütterliche, das er gleich diesen mit dem Erdhaften identifiziert; er sieht im Geist das väterliche Prinzip und dieses entwertet er. Der Geist ist nun in Wahrheit weder Vater noch Mutter, sondern — wenn man ihn irgendwie als personifizierte oder typisierte Gestalt der Natur-Gegebenheit gegenüberstellen will — der deus ex machina, der Zauberer (SM, II, XI, XII). Und die allerdings vorhandene Spannung zwischen Geist und Erde ist nicht polar in dem Verstand, wie es die der beiden Brennpunkte einer Ellipse sind. Hier müssen wir das am Anfang und Ende des vierten Kapitels Ausgeführte ergänzen und präzisieren. Damals hießen wir jede Spannung, welche in ihren Faktoren steigernd, evozierend und fruchtbar wirkt, Polarisierung und in diesem weiten Verstande verwende ich überhaupt gewöhnlich den Polarisationsbegriff (AV, IV). Doch Polarität solcher Art, wie zwischen positiver und negativer Elektrizität, gibt es nur dort, wo die Pole einer gleichen Wirklichkeitsschicht angehören. Das nun tun Geist und Erde ebensowenig, wie Hirn und Darm oder wie Sinn und Ausdruck. Wenn die hier aufgezählten, absichtlich aus möglichst verschiedenen Sphären gewählten Gegensätze einander konstellieren können, so liegt das nicht an polarer Beziehung zueinander, sondern daran, dass sie innerhalb jeder gegebenen Lebenseinheit zueinander in Korrelation stehen. Die letzte Instanz ist also in diesem Falle nicht die polare Beziehung von kosmischen Prinzipien zueinander, sondern die Einheit des Organismus, in welchem alles und jedes in Form eines Wechselseitigkeits­verhältnisses zusammenhängt. Unter diesen Umständen muss jede Übersteigerung oder Überbetonung einer Komponente des Organismus diese auf die Dauer schwächen und damit indirekt die in der Verdrängung erstarkte zur Wirksamkeit berufen. Es evoziert hier aber, noch einmal, kein Pol seinen Gegenpol, sondern gefährdete Einheit sucht sich wiederherzustellen.

Der geschilderte besondere Energiehaushalt manifestiert sich nun besonders drastisch auf Jungs Spezialgebiet, demjenigen der erdbedingten Psyche. Daher die Möglichkeit seines Verkennens des wahren Tatbestands. Geist an sich steht in gar keiner notwendigen Beziehung zur Erde. Da wir diese Wahrheit schon in vielen Zusammenhängen und nach verschiedenen Richtungen hin erwiesen haben, so genügt zum Abschluss vorliegender Sonderüberlegung eine kurze dogmatische Antwort auf die angeführten Jung-Zitate. Ist Geist wirklich seiner selbst bewusst, dann kann er ganz unmöglich seiner Unfreiheit bewusst werden, denn er ist unbedingt. Ganz unmöglich kann er seine Abhängigkeit erkennen, denn solche besteht nicht. Ohne Selbstbelügung kann er seine Einzigkeit gar nicht vergessen, denn einsame Einzigkeit ist nun einmal sein Wesen. Anpassen aber kann er sich den äußeren Gewalten überhaupt nicht, denn er lebt nicht auf gleicher Ebene wie sie. Letztere Forderung Jungs ist in ihrem Widersinn besonders erstaunlich, denn sogar auf der Ebene organischer Natur geht das meiste dessen, was nach Fortschritt aussieht, auf Nicht-Anpassung zurück (AV, IX): unerträgliche Situationen werden durch Erschaffung und Ins-Spiel-setzen neuer Kräfte gemeistert, die dem autonomen Innern des Organismus, und ausschließlich ihm, entspringen. Und so geht nicht nur aller wesentliche Fortschritt auf die Haltung des dennoch! und trotzdem äußeren Einflüssen gegenüber zurück — aus dem Geist der gleichen Haltung allein erfolgt alle Selbstverwirklichung. Daher der Segen der Schwierigkeit, des Leidens, des Sich-Durchkämpfen-Müssens. Neuerdings hat Wilhelm Pinder eine besonders eindrucksvolle Illustration obiger Grundwahrheiten auf dem Gebiet der Kunst gegeben: in seiner Kunst der Deutschen Kaiserzeit (Leipzig 1935, C. A. Seemann) zeigt er, dass das Nordische immer nur in der Berührung mit Nicht-Nordischem nicht allein fruchtbar geworden, sondern sich überhaupt verwirklicht hat. Nur durch den Zusammenstoß mit Romanischem, Orientalischem, Slavischem usw., in der Auseinandersetzung oder Vermählung mit ihm, ist das Eigenste des nordischen Menschen ganz freigesetzt worden. Daher die Größe Griechenlands, Roms, Frankreichs und vor allem Deutschlands, das gerade dank seiner unerhörten Aufnahmebereitschaft für Fremdes heute der eigentliche Hort des nordischen Geistes ist — welcher Geist im von ausschließlich nordischer Umwelt fortgewachsenen Skandinaviertum schon in früher Wikingerzeit seine tiefsten Eigenschaften verloren hat.

Was nun Jungs Behauptung betrifft, nur dann könnten die von mir gemeinten Edelmenschen ernstgenommen werden, wenn sie ihre Minorität einigermaßen ertrügen (anstatt sie stolz-gelassen als Schicksal hinzunehmen), so möchte ich auf diese lieber gar nicht eingehen. Um so lehrreicher aber ist ein Eingehen auf Jungs Forderung, dass diese Edelmenschen ihr Gewissen in ihrer Erde haben sollen. Es ist für einen Menschen, in dessen Bewusstsein der Geist überhaupt soweit einbrach, dass er eine bestimmende Rolle in ihm spielt, ohne Illusion, ja Halluzination schaffendes Vorurteil physiologisch unmöglich, sein Zentrum anderswo zu finden als eben im Geist, denn das geistige Bewusstsein erlebt alles Erdhafte ursprünglich und unmittelbar als ein Außer-sich, als Nicht-Ich, was es de facto ist. Aber der Geist im Menschen ist so frei-schöpferisch, dass er sogar evidente Unwirklichkeit für sich zur Wirklichkeit umzaubern kann; und das ist es, was C. G. Jung passiert ist. Nie und nimmer hätte er sonst schreiben können (hier antworte ich auf die weiteren Zitate seines Aufsatzes), dass der Luftgeist das Parieren zu lernen hätte — Geist kann das Erdhafte wohl verlassen, in dem Sinne wie Gott dem Christenglauben gemäß den Menschen verlässt, aber parieren kann er nicht außer in Form von Selbst-Preisgabe. Und erst recht hätte Jung sonst nie und nimmer unterstellen können, dass der Geist altersschwach werden und des Todes bedürfen könne: niemals bedarf Geist als solcher des Todes, um wiedergeboren zu werden. evidentermaßen falsch ist endlich Jungs Behauptung, der Westen habe den ausnahmsweisen Gegensatz zwischen Geist und Erde perpetuiert und lasse sich darob ethisch nicht zur Ruhe kommen. Die ganze ungeheure Menschheitsbedeutung des Abendlandes liegt gerade darin, dass es den Gegensatz von Geist und Erde nicht als Ausnahme angesehen, sondern richtig als das Grundproblem des Menschen erkannt hat. Dieses Leben ist nun einmal wesentlich tragisch, weil zwischen Geist- und Erdnorm unlösbarer Widerstreit besteht. War es in früheren, undifferenzierten Zuständen möglich, dieser Wahrheit ohne Unaufrichtigkeit nicht innezuwerden oder sie zu eskamotieren, so besteht die Möglichkeit auf der Entwicklungsstufe der heutigen Träger der eigentlichen Geschichte nicht mehr.

Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
X. Freiheit
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME