Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

XII. Heiligung

Tiefenpsychologie

Immer wieder ersteht vor meinem geistigen Auge das Bild jener um 1924 in Rom ausgegrabenen heidnischen Privatkapelle, die deren Besitzer mit Freskobildern aller möglichen Göttergestalten, unter anderen auch des Guten Hirten mit dem Kreuzstab, hatte ausschmücken lassen. Dieser Kapelle war, durch eine Geheimtür zugänglich, ein christliches Tempelchen angeschlossen, in welchem die offenbar zum Christenglauben bekehrte Hausfrau betete. Schwerlich hatte der biedere Römer etwas gegen diese Vorliebe: ahnte er doch nicht, dass der neue, aus Galiläa eingeführte Gott nicht mehr ein Gott unter anderen war, sondern das Sinnbild einer neuen Religion und eines völlig neuen exklusiven Weltgefühls, welches das ihm selbstverständliche zerstören würde. Aber wie sollte er es auch ahnen, falls er nicht bekehrt oder ein im höchsten Grade einfühlungsfähiger Philosoph war? Abstrakt geurteilt, ließen sich ja alle Daten der neuen Religion auch von antik-heidnischen Voraussetzungen her begreifen, und die bloße Möglichkeit, das sich von sich aus Ausschließende zusammenzufassen, musste dem wesentlich staatsmännischen Römersinn die Richtigkeit seiner Voraussetzungen beweisen. Doch von abstrakten Überlegungen her dringt niemand in das Eigene und Eigentliche irgendwelchen Lebens ein, für das sich ja auch der Staatsmann nie interessiert. Jede neue Voraussetzung stellt einen neuen Schöpfungsanfang dar (S. 308); von früheren her gibt es zu diesem überhaupt keinen Übergang, ein unüberbrückbares Unstetigkeitsmoment trennt und scheidet sie voneinander. Im modernen Gleichnis ausgedrückt: jede andere Voraussetzung entspricht einer anderen Wellenlänge im Radio; wer auf eine bestimmte nicht abgestimmt ist, vernimmt nichts, was auf ihr gespielt und gesprochen wird. In eben diesem Sinne konnte der echte Heide den echten Christen nicht verstehen, noch dieser jenen.

In unserer Zeit ist ein ungeheuer großer Prozentsatz abendländischer Menschen, und zwar gerade der bestimmenden unter ihnen, nicht mehr auf die christliche Wellenlänge abgestimmt. Was schon sehr lange unbewusst oder uneingestandenermaßen der Fall war, tritt seit dem Weltkrieg immer offener bei immer zahlreicheren Vertretern auch der Völker in Erscheinung, unter denen sich Mehrheiten nicht aus Zweifel am Wert von Religion überhaupt — wie vor allem in Frankreich — vom Christentum abgewandt hatten. Es sind gerade religiös Bedürftige und Suchende, die heute vielfach dem Christentum entfremdet sind. Dies gilt zumal von den deutschsprachigen Völkern. Und bei diesen sieht man auch schon deutlich, dass ihr wahrer, ihnen selbst meist unbewusster heutiger Zustand ein Übergangsstadium mit all seinen typischen Eigenschaften darstellt. Jedes neue Leben beginnt von Undifferenziertem her; was sich einmal differenziert und artikuliert hat, kann nicht mehr neu werden. Ein solches Undifferenziertes nun stellt heute die Tiefenpsychologie dar; diese entspricht auf unserer Bewusstseinsstufe genau dem, was wir im vorigen Kapitel als Bewusstseinsart der Primitiven schilderten. Die religiöse Entwicklung verläuft nämlich niemals so, dass niedere Religion mählich höherer Platz machte: sie verläuft so, dass sich die Seele als Erlebnisorgan differenziert und dies die Notwendigkeit neuartiger Beziehung zur Gesamtwirklichkeit schafft. Eben aus solcher Differenzierung ist in Europa aus der Totalweltschau des mittelalterlichen Christentums der Drang zur Wissenschaft entstanden, ohne welche Völker anderer Struktur nicht allein vorzüglich auskommen, sondern mit welcher solche, falls sie ihnen aufgedrängt wird, nichts Ersprießliches anzufangen wissen. Warum dem so sein muss, sieht man recht deutlich an den Volksschichten Europas und Amerikas, die an der inneren Entwicklung, welche die Geburt der Wissenschaft ermöglichte und forderte, erbmäßig nicht teilhatten: diese sind dank mechanischer Aufnahme popularisierten Wissens viel oberflächlicher geworden, als es ihre köhlergläubigen oder abergläubischen Väter waren. Das sogenannte Niedere drückt eben im Höchstfall, welchen alle großen Mythen verkörpern, in besonderer, realem Zustand angemessener Sprache nicht Niederes, sondern Höchstes angemessen aus. Eben deshalb aber sind, umgekehrt, mythische Vorstellungen dem geistbestimmten Europäer zugleich alter Tradition und fortschrittlichen Geistes nicht mehr angemessen: dieser muss, um höchsten Erlebens teilhaftig zu werden, zwischen und Geist, Wissenschaft und Religion, zwischen Magie und Technik scharf und deutlich unterscheiden, denn in ihm haben sich die Funktionen, welche den genannten Begriffen entsprechen, real differenziert. Will ein solcher über seinen bisherigen Zustand hinauswachsen, dann muss er zunächst diese Differenzierungen wieder einschmelzen; er muss sich die Ur-Undeutlichkeit, in der alle Grenzen verschwimmen, auf neuer Stufe oder in neuer Form wiederherstellen. Solche Undeutlichkeit ist es denn, welche das Welterleben derer, in denen sich die neue Mutation vollzieht, bestimmt. Diese unterscheiden viel undeutlicher, als irgend einmal seit über tausend Jahren geschah, zwischen Erd-, Blut-, Seele- und Geistprinzipien, zwischen Mythos und Wissenschaft, zwischen Wunschbild und Wirklichkeit. Alte Götter und Geister und Dämonen erleben kaum verkleidet eine Wiedergeburt. Urkräfte regen sich allenthalben. Aber dieses Erleben der neuen Generation ist andererseits sehr reich, unzweifelhaft reicher als das ihrer überdifferenzierten und in irgendwelcher Einseitigkeit erstarrten Vorgänger: daher die erwiesene Werbekraft des Primitiven auch in bezug auf solche, welche andererseits eine höchstentwickelte Wissenschaft als Spezialität betreiben; hier denke man nur an den einen Edgar Dacqué.

Von den Gebilden, die in solchen Zeiten der Verjüngung und damit Verundeutlichung entstehen, sind allemal natürlich nur wenige zu Weiterleben bestimmt. Genau so, wie dies von allen organischen Übergangsstadien gilt, sind es ausschließlich die, welche echte Embryonalformen möglicher neuer Endgestalten, verkörpern. Eben dieser Umstand — und nicht etwa ihre vermeintliche Vorgeschrittenheit — verleiht denn der Tiefenpsychologie ihre schwer zu überschätzende Bedeutsamkeit. Wer da fähig ist, ältestes und tiefstes Unbewusstes so an die Oberfläche zu heben, wie C. G. Jung dies tut, muss insofern Primitiven ähnlich geworden sein. Gleiches beweist die eigentümliche Schwierigkeit, welche es Jung bereitet, zu einem den Erfordernissen moderner Bewusstheit entsprechenden Gedanken- und Sprachstil zu gelangen. Gleiches beweist auch sein besonderer Monismus. Ob er sich dessen denkend bewusst sei oder nicht: für Jung ist alles psychisch — einmal hat er’s direkt ausgesprochen, ihm bedeute Gott eine psychologische Funktion; eine Aussage, welche Franzosen nicht weniger unverständlich vorkommen dürfte, wie nur irgendeine Gleichung, die auf den Vorstellungen von Totem und Tabu beruht. Alles Persönlich-Bewusste ist Jung Teil oder Ausdruck oder Ausgeburt des kollektiven Unbewussten, dessen Grenzen mit denen des Weltalls verschwimmen. Nun, eben diese Primitivität ist es, noch einmal, welche die Tiefenpsychologie so angemessen erscheinen lässt als Erstausdruck von Tiefen-Erleben einer verjüngten Menschheit in einer neuen Zeit. Noch ist das durch Neuhervortauchen lang verdrängter oder jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendelang nicht mehr bewusst gewesener Elemente erweiterte Bewusstsein, das für die Vorhut der westlichen Nachkriegsmenschheit charakteristisch ist, nicht artikuliert. Also könnten ihm differenzierte Begriffe nicht gerecht werden. Hier liegt die Tragödie Freuds gegenüber Jung, die übrigens eine Analogie hat in derjenigen Oswald Spenglers gegenüber Leo Frobenius. Freud wie Spengler sind Grenzmenschen; als Menschentypen gehören beide dem 19. Jahrhundert an, sie fanden aber andererseits geistigen Zugang zu einer Wirklichkeit, die nur ein neuer und anderer Typus unverfälscht assimilieren kann. Beide von hochdifferenzierter und schärfster Intelligenz, versuchen sie Germinales mit Begriffsmitteln zu fassen, die nur Artikuliertem gemäß sind — und töten damit deren Eigensinn, gleichwie die geringste Spur ätzender Flüssigkeit zartes Gewebe zerstört.

So gelangen beide Forscher zu mechanistischen Deutungen eines von Hause aus doch richtig als neuartig Erkannten. Was speziell Spengler betrifft, so hat dieser die Ganzheit, welche jede Kulturentwicklung als organisch-melodiöser Prozess ausdrückt, richtig intuiert, doch nur im Sinn eines ablaufenden Uhrwerks hat er sie zu denken und zu deuten gewusst (MS, III). Demgegenüber erlebt Frobenius, als Primitiver auf neuer Stufe, die Wirklichkeit, die seinem Paideuma-Begriff entspricht, unmittelbar. Daher u. a. sein selbstverständliches Auffinden von Spuren uralter Kulturen an unbekanntem Ort. Diese seine Fähigkeit erinnert an die Art, wie junge Vögel, zum ersten Male ohne ältere Führer im Herbste südwärts wandernd, unbeirrbar die uralten Zugstraßen befliegen, oder wie Waldtiere in fremdem Revier von vornherein wie selbstverständlich die ortsüblichen Wechsel einhalten. So wird Frobenius und nicht Spengler der Zukunft das bedeuten, was dieser der Gegenwart bedeutet, und Jung und seine Nachfolgerschaft das ernten, was seine Vorläufer gesät haben.

Die moderne Tiefenpsychologie entspricht also ungefähr dem, was man seit einigen Jahrhunderten niedere Religion heißt. Dank dem kann sie natürlich höherer Religion und wissender Metaphysik nicht ganz gerecht werden. Doch die neue Erlebnisbasis, von welcher zumal Jung ausgeht, ist so sehr die Grundlage alles Welterlebens der geistigen Vorhut der neuen Generation, dass sogar Menschen ursprünglicher und differenzierter Beziehung zum Metaphysisch-Wirklichen in Jungs Theorien das sehen, was sie selber meinen, und sich also dazu verführen lassen, Metaphysisches psychologisch zu deuten. Heinrich Zimmer, dessen Ewiges Indien (Potsdam 1931, Müller & Kiepenheuer Verlag) echten Tiefblick in das, was die indischen Weisen eigentlich meinten, bewies, hat seither in seinen bereits zitierten Drei Vorträge zur Bedeutung des indischen Tantra-Yoga, die im übrigen mit ehedem unerreichter Klarheit die psychologische Bedeutung der Yoga und aller mit ihr zusammenhängenden Erscheinungen richtig erfasst, das indische Ziel der Vereinigung mit der Gottheit als Integration im Jungschen Sinne gedeutet. Nun hat Zimmer freilich recht, wenn er schreibt (S. 80):

Die Inder haben vom Unbewussten mehr in Erfahrung gebracht als der Westen bislang, wohl mehr als andere irgendwo — darin liegt ihr Spezifikum, wie das unsere in der beispiellosen Entwicklung der rationalen Naturerfassung und ihrer Ausmünzung zur Vergewaltigung der Schöpfung.

Doch nicht darauf beruht der Inder Wesentliches und Vorbildliches. Hiermit gelange ich denn von der Primitivierung, welche die westliche Menschheit zur Zeit durchlebt, unmittelbar und ohne weiteren Übergang zur Frage des jenseits derselben winkenden geistigen Ziels: Das Wesentliche und Vorbildliche der Inder liegt — in vielen meiner Schriften steht diese These begründet, so dass ich mir hier nähere Ausführung sparen kann — darin, dass sie den ganzen Reichtum der erdbedingten Psyche zum rein metaphysischen, zum recht eigentlich übernatürlichen Geist, wie ihn auch das Christentum kennt, verstehend in Beziehung gesetzt haben. Die alten Inder haben, als erste und bisher einzige Menschenart, sämtliche Schichten des Menschenwesens wahrgenommen, erkannt, anerkannt, durchschaut, und als Ergebnis ihrer exakten Schau richtig intuiert, wo das Ziel menschlichen Strebens liegt: in der Einbeziehung alles Irdischen und Kosmischen in das Geistwesen. Es liegt nicht im Gleichgewicht der polaren Naturprinzipien Yang und Yin, sondern in der Gewinnung eines inneren Standorts oberhalb ihrer. Es liegt nicht in psychologischer Integration, als Ergebnis welcher der Mensch selbst günstigsten Falls auf dem gleichen Niveau verbleibt, welches er vorher innehatte, nur in Form eines besseren Gesamtgleichgewichts: das Ziel liegt in der Erhebung des Lebenszentrums über die psychologische Ebene hinaus ins Reich der schöpferischen Indifferenz der unbedingten Freiheit, welches Reich oberhalb des Zugriffs jeder nur möglichen Analyse liegt. Auf dieser richtigen Intuition beruht das unvergleichlich Werbende der indischen Weisheit gerade für diese Zeit. Es beruht nicht darauf, dass diese Weisheit eine Vorläuferin der Tiefenpsychologie wäre, sondern darauf, dass sie von einem ähnlichen primitiven Zustande her, in welchen wir jetzt dank der Einschmelzung der alten Differenzierungen zurückgefallen sind oder zurückfallen, den Weg zu eben dem geistigen Ziel gefunden hat, welches uns heute vorschwebt, welches Ziel übrigens schon die tiefsinnigsten Urchristen im Geiste schauten. Bekanntlich lehrten schon diese, das Reich des Sohnes werde nicht ewig dauern und nicht das letzte auf Erden sein: nach ihm würde das Reich des Heiligen Geistes kommen, in welchem jeder, ohne Mittler, mit Gott würde kommunizieren können. Dass alle Mystiker, alle tiefreligiösen Naturen Europas der letzten Jahrhunderte überhaupt, Ähnliches anstrebten und -streben, liegt dermaßen deutlich vor Augen, dass es überhaupt keiner Erörterung dieser Sonderfrage bedarf.

Doch ist die Wellenlänge, die nach Überlebung aller Übergangsstadien dem sich verwandelnden Seelentum und der neu sich bildenden Geistigkeit entsprechen wird, nicht mehr diejenige traditionellen Christentums, so ist es auch keine auf Indien, auch keine auf Alt-China abgestimmte. Daher zumal in Deutschland die überstarke Reaktion, die auf die kurze Zeit folgte, da weite Kreise ihr geistig-geistliches Heil im Osten suchten. Eine der wichtigsten und bleibenden Errungenschaften der Tiefenpsychologie ist deren Erkenntnis, dass jedes seelische Heute in seinem Ausdruck durch alles, was ihm vorausging, vorausbedingt ist. Psychische Arten und Gattungen sind ein genau so Reales wie körperliche.

Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
XII. Heiligung
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