Schule des Rades

Manfred Keyserling

Gedächtnisbuch · Letzte Aufsätze

Zur Einführung

Als mein Vater vor bald einem Jahr für immer die Augen schloss, glaubte er sich am Ziel seines Schaffens. Seine Schule der Weisheit sollte von selbständigen Menschen neu aufgebaut werden, er wollte nur noch einmal einen letzten Impuls geben, um alles in die von ihm erschaute Richtung zu führen und fortan nur eines tun: leben, um seine Schüler durch sein lebendiges Dasein davor zu bewahren, aus seiner Lehre ein starres Dogma zu schmieden.

Ich glaube deshalb ganz im Sinne meines Vaters zu handeln, wenn ich, zusammen mit meiner Mutter und meinem Bruder, dieses kleine Buch zu seinem Gedächtnis herausgebe, bevor Gelegenheit ist, seine eigenen Werke neu zu verlegen. Seine letzten Aufsätze, in denen die Unermüdlichkeit zum Ausdruck kommt, mit der er bis zum letzten Augenblick seiner Zeit geistige Hilfe leistete, seine letzten Gespräche mit Journalisten sowie wenigstens ein Teil des Widerhalls, den sein Tod bei einigen Freunden und in der Presse fand, soll hier der Öffentlichkeit übergeben werden, bevor die Nachwelt Mensch und Werk zu dem unvermeidlichen Mythos des anonymen großen Mannes umformt, der bisher das Schicksal jedes Menschen, der sein Leben vom Geist her formte, wurde. Es war leider nicht möglich, alle uns zugesandten Nachrufe in dieses Buch aufzunehmen. Die Auswahl war angesichts der zahlreichen Pressestimmen und Freundschaftsbeweise nicht leicht: viele, aus denen tiefes Verständnis für das Wesen des Verstorbenen sprach, mussten wir leider der Kürze des Buches wegen weglassen. Was wir an Nachrufen hier veröffentlichen, ist nach reiflichem Überlegen unter folgendem Gesichtspunkt zusammengestellt worden: da es sich um ein Gedächtnisbuch handelt, wählten wir das aus, was in erster Linie dem zeitlichen Menschen Hermann Keyserling gewidmet war, dem Menschen, den die Innsbrucker, unter denen er starb, noch in den letzten Wochen seines Lebens kennenlernten.

Wenn dieses Buch, das sich mit dem Menschen Hermann Keyserling beschäftigt, gleichsam einen ruhenden Pol in der bewegten Tätigkeit seines Geistes darstellt, der durch sein Werk sicher noch vielen Generationen wegweisend sein wird, so will ich die Gelegenheit ergreifen, um auch seine Philosophie von einem gleichsam ruhenden Pol aus zu überschauen. Ich bin mir über das Wagnis dieses Unterfangens durchaus im Klaren: wenn schon der Mensch Hermann Keyserling von den wenigsten als Mensch verstanden wurde, wenn der größte Teil der Zeitungsnachrufe sich in positiven oder negativen Superlativen äußerte, die die einfache menschliche Qualität des Verstorbenen nur als quantitative Übertreibung zu erfassen vermochten, wieviel schwerer wird es dann sein, den Geist dieses Menschen von einem Gesichtspunkt aus zu verstehen, der in kurzen Worten das Wesentliche so skizziert, dass jeder von dieser Skizze aus in der Lage sein kann, sich selbständig einen Zugang zu diesem großen Lebenswerk zu bahnen! Ich bitte den Leser deshalb, diesen Hinweis auf das Zentrale der philosophischen Lehre meines Vaters, der vieles Wesentliche seines Werkes unangetastet lassen muss, als lebendiges Echo auf den Ruf seines Geistes und nicht als philologische Interpretation seiner Lehre aufzufassen. Um seine Lehre in diesem kurzen Zusammenhang ganz zu verstehen, muss ich nämlich von Voraussetzungen ausgehen, die mein Vater nicht immer selbst genannt hat, weil sie sein eigenstes und daher zum größten Teil oft unbewusstes Lebensziel waren. Wie derjenige, der einen Nachruf schreibt, ja schließlich von der Voraussetzung des Todes dessen, über den er schreibt, ausgehen muss, so will ich, der ich ein Echo auf den im Leben ausgedrückten Geist meines Vaters als Vorwort diesem Büchlein voranstelle, von der Voraussetzung dessen ausgehen, was der Sinn seiner Lehre als für ihn endgültiges Bekenntnis zu irgendwelchen Werten ausgedrückt hat. Das heißt: um seine lebendige Weltanschauung zu verstehen, will ich fragen, der Ausdruck welcher Werte den Sinn dieser Weltanschauung ausmacht.

Diese Frage, die mir, nur auf den Zweck dieses Gedächtnisbüchleins bezogen, nicht als sträfliche Vereinfachung erscheint, ist nun durchaus leicht zu beantworten, denn das Dasein objektiver Werte beschäftigte Hermann Keyserling nur insoweit, als diese in einem menschlichen Subjekt Verkörperung finden können. Damit erkannte er als unbedingten Wert nur den im Menschen verkörperten substantiellen Geist an, d. h. das Sein, die geistige Substanz, die das wertmäßige Niveau eines Menschen bestimmt. Dieser substantielle Geist als ausstrahlendes Wirkungszentrum der Gesamtpersönlichkeit gliedert in seiner Weltanschauung den Menschen in die Hierarchie der in der Welt wirkenden Wahrheit ein, die als persönlicher Wert erlebt wird. Diese Eingliederung geschieht bei Hermann Keyserling durch die Sinneserfassung, d. h. durch das Verstehen des Sinnes einer geahnten oder geglaubten Wahrheit für das eigene Leben. Daraus geht hervor, dass er Werte nur so weit für wirklich hält, als sie von einem Menschen in seinem eigenen Leben verkörpert werden, da dieser sonst niemals ihren letzten Sinn zu erfassen vermag. So geht Sinneserfassung Hand in Hand mit Sinnesverwirklichung. Um diese Philosophie in ihrem zentralen Punkt zusammenzufassen, möchte ich deshalb folgenden Satz für sie prägen: ein Mensch besitzt gerade so viel Wahrheit, als er vom Sinn seines Wertes erfasst und damit bewusst verwirklicht.

Der Weg zu dieser letzten Sinneserfassung des eigenen ursprünglichen Wertes ist etappenweise, oft sprunghaft, oft allmählich, oft mit vielen scheinbaren Umwegen im Werk Hermann Keyserlings niedergelegt. Zwei Wegweiser halfen ihm dabei: eine nichts ausschließende Weltoffenheit und eine kompromisslose Wahrhaftigkeit. Eine Wahrhaftigkeit, die keine Wahrheit anerkannte, bevor sie nicht als Wert im eigenen Geist realisiert war und dadurch in einem für unsere heutige Zeit fassbaren Ausdruck erscheinen konnte und eine Weltoffenheit, die schlechthin jede geahnte oder geglaubte Wahrheit als Wert in den Sinn des Lebens einzubeziehen versuchte.

Diese wenigen Worte über die Wertbezogenheit der Weltanschauung meines Vaters — wie wenig Geister der letzten Zeit haben ihr Leben von Werten abhängig gewusst! — sollen uns in diesem kurzen Zusammenhang als Voraussetzung dienen, um die wichtigste Behauptung seiner Philosophie verstehen zu lernen, nämlich, dass im geistbestimmten Leben der Sinn den Tatbestand schafft. Sinn ist für ihn im erkennbaren Zusammenhang des Lebens wirkende Wahrheit, damit ein vom Menschen zu verkörpernder Wert, der deshalb vom Geist des Menschen sinngemäß verstanden werden kann. Deshalb ist für das lebendige Wirken einer Wahrheit zweierlei nötig: erstens muss ein Mensch persönlich ihren Wert verkörpern, zweitens muss diese Verkörperung, vom Leben eher gesehen, sinngemäß sein, denn sonst schafft sie keine lebendigen Voraussetzungen für schöpferische Erkenntnis. Nur das, was dem lebendigen Menschen sinngemäß ist, schafft Tatsachen, an denen wir uns orientieren können, alles andere, mag es an sich noch so wahrscheinlich sein und von noch so vielen Menschen als Wert bekannt werden, ist vergängliche Erscheinung. So ist denn auch tatsächliche Selbstverwirklichung und selbständige Schicksalsgestaltung davon abhängig, dass einer den Sinn erfasst, der dem tatsächlichen tragischen und widerspruchsvollen Leben zugrunde gelegt werden kann, ohne dieses irgendwie durch eine Lebenslüge beschönigen zu wollen. Die damit gegebene Erkenntnis des freien Zusammenwinkens von allem, was im Leben ausdrückbar ist, lässt den Menschen nun zum freien Schöpfer seines Schicksals werden, das ihn, solange es ihm sinnlos schien, knechtete. Der Sinn, den ich meinem Leben gebe, weil ich ihn als lebendigen Ursprung meines geistigen Seins, das ich mit jeder Faser meines Lebens ausdrücke, erfasst habe, schafft den Zusammenhang dessen, was ich als Tatsache erkennen und damit auch anpacken kann; durch diese Sinngebung wirkt mein Geist selbst als Tatsache, als Substanz, im Leben weiter, als Ton unter den Tönen der Symphonie des Lebens! — Das ist die Lehre, die jeder Einzelne aus der Philosophie Hermann Keyserlings ziehen kann.

Überall, wo der Mensch zu geistiger Selbständigkeit erwacht ist, schafft der Sinn den Tatbestand. Der menschliche Geist kann nichts über Zusammenhänge aussagen, die ihm sinnlos erscheinen, da solche ihn selber ausschließen. Die tiefe Wahrheit dieser Einsicht wird uns klar, wenn wir an all die materialistischen Weltdeutungen denken, die in den letzten hundert Jahren versuchten, die Welt von sinnlosen, weil den sinngebenden Geist des Menschen ausschließenden Voraussetzungen her zu verstehen. Was nützt dem Menschen letztlich eine Erfahrung, deren Sinn er nicht versteht? Wir haben nach den Ergebnissen neuester wissenschaftlicher Forschung sogar fast den Anlass dazu zu meinen, ein Experiment, dessen Sinn der Mensch nicht versteht, wirke sich zu seinem Schaden aus. So ist zum Beispiel die Atomenergie dem Menschen buchstäblich über den Kopf gewachsen. Die Vorstellung von ihr beherrscht die menschliche Seele wie alles, was außerhalb der Möglichkeit menschlicher Sinngebung existiert — so wie Blitz und Donner die Seele unserer primitiven Vorfahren erschauern ließen.

Ist erfasster Sinn nun erst die objektive Voraussetzung für jede geistgeborene Tätigkeit, für jede Tätigkeit, durch die ein Mensch Wert verkörpert, so muss erfasster und im Leben verwirklichter Sinn auch die Voraussetzung geschichtlicher Entwicklungen sein, sofern wir nicht leugnen, dass in der Geschichte Werte verkörpert werden.

Ist der Ausdruck eines Sinnes einmal in die Welt gesetzt, entspricht er den Verstehensmöglichkeiten, dann kann man sagen: die Erfassung des Sinnes stellt fortan eine historische Voraussetzung dar,

schreibt Hermann Keyserling darüber in Schöpferische Erkenntnis, einem seiner Hauptwerke. Die Wahrheit dieses Satzes erweist sich nicht so sehr dadurch, dass wirklich schöpferisch erkannter Sinn von Christus bis Nietzsches mit der Zeit auf die Phantasie der Massen wirkte, die ihrerseits die Strömung, das innere Gefälle im Fluss der Geschichte, ausmacht, — die Massen beeinflusst genau so ein geschickter Demagoge — als durch die Tatsache, dass es keinen wirklich bedeutenden Geist gegeben hat, der nicht an den Wertverkörperungen anknüpfte, die ihm vorbildlich schienen. Eine Begabung kann nur durch den Kontakt mit ausgedrücktem Sinn, der ihren Verstehensmöglichkeiten entspricht, dessen Erfassung damit ihre historische Voraussetzung darstellt, ihren eigenen Sinn verwirklichen, welche Tatsache die sterile Frage nach Originalität durch die Frage nach der Tiefe ausgedrückten Sinnes ablöst. Freilich hat nicht jeder wie Plato einen Sokrates als Vorbild: dessen Vorbild war nur seine Mutter, die schlichte Hebamme, die ihm den Sinn seiner eigenen Berufung als Geburtshelfer selbständigen Denkens allein dadurch erschloss, dass sie einfach ihren Beruf ausübte.

So gehört zum Verständnis des lebendigen Menschen und damit zu der Weisheit, die meines Vaters Lebensziel war, nicht nur das Bekenntnis zu dem Wert, der sich in einem menschlichen Leben verkörpert, sondern auch die Erkenntnis seiner historischen Voraussetzung, d. h. des ausgedrückten Sinnes, als Antwort auf den dieser Wert sinngemäß zu sein vermag. Deshalb wäre auch diese Skizze der Weltanschauung meines Vaters unvollständig, wenn ich nicht abschließend noch seine historische Voraussetzung erwähnte: ich meine mit dieser nicht seine Herkunft und Bedingtheit durch äußere Entwicklungen, da davon später in diesem Buche gesprochen wird, sondern ich meine hier seine Begegnung mit dem Menschen, der ihm zum ersten Mal zum Sinnbild seiner eigenen Problematik wurde. In diesem Verstande war seine historische Voraussetzung seine Begegnung mit dem vielseitigen Versteher Houston Stewart Chamberlain, den er zu Anfang unseres Jahrhunderts in Wien kennenlernte. Dieser riet dem damaligen Geologiestudenten, seine wahre Berufung vorausahnend, in einer Krise seiner Entwicklung ein philosophisches Werk zu schreiben, um durch die Beschäftigung mit weitesten objektiven Zusammenhängen über sich selbst hinauszuwachsen. So entstand das Erstlingswerk Das Gefüge der Welt, das mein Vater mit 24 Jahren schrieb und das als Grundton seiner Philosophie bis ins Alter nachklang, wo ihn bereits völlig andere Probleme beschäftigten. Aber schon dort erkennt man, dass ein Geist am Werk war, der nichts ausließ, was ihm zum Problem werden konnte, und mochte es sein ganzes bisheriges Leben durch einen neuen Gesichtspunkt in Frage stellen; und der nichts annahm, was ein Problem hätte lösen können, ohne sein innerstes Wesen in Mitleidenschaft zu ziehen.

Diese Anforderung muss auch der Leser der Werke Hermann Keyserlings an sich stellen, wenn er dem Rhythmus dieses Geistes zu folgen versucht, denn sonst kann es ihm leicht geschehen, dass ihm ob des Reichtums des Ausdrucks die Tiefe des Sinnes jeder einzelnen Fragestellung entgeht. Denn wie das Leben selbst löste jede gegebene Antwort bei ihm neue Fragestellungen aus, die wiederum alte Probleme erledigten, so dass derjenige, welcher das Werk nicht in seinem Zentrum begreift, leicht Gefahr läuft, sich beim Studium der einzelnen Bücher im Irrgarten seiner eigenen Exzentrizität zu verlieren.

Ich hoffe, dass es mir in dieser kurzen Einführung gelungen ist, so viel vom Werk meines Vaters darzustellen, wie ich selber davon verstehe. Möge das Büchlein, dem ich diese Einführung mit auf den Weg gebe, im folgenden zeigen, wie der Mensch Hermann Keyserling, der große In-Frage-Steller, der uns durch seine Fragestellungen die Schlüssel zu so vielen neuen Welten geschenkt hat, seine letzten Tage auf dieser Welt verbracht hat, der einzigen, auf der wir den Sinn dessen, was sich vielleicht in anderen Welten zutragen mag, erfassen und verwirklichen können.

Innsbruck-Mühlau, im Jänner 1948 Manfred Keyserling
Manfred Keyserling
Gedächtnisbuch · Letzte Aufsätze · 1948
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