Schule des Rades
Hermann Keyserling
Gedächtnisbuch · Letzte Aufsätze
Vom spirituellen Wiederaufbau Europas und der
Begründung eines neuen europäischen Humanismus · 2
Es handelt sich um den spirituellen und nicht den geistigen Wiederaufbau Europas. Warum und inwiefern? Weil unter geistig seit einigen hundert Jahren unwillkürlich intellektuell, d. h. Intellektgemäß verstanden wird. Der Intellekt aber ist an sich eine ungeistige, der Erde zugewandte Funktion des Menschen-Tiers und, löst er sich aus der menschlichen Ganzheit heraus, — freilich bedarf es seiner zur Materialisierung jedes dem substantiellen Geist entsprossenen Impulses — dann führt das, wie heute jedermann aus der Erfahrung der beispiellosen Greuel der letzten Jahrzehnte wissen kann, unweigerlich zu Zerstörung und Selbstzerstörung. Aufbau ist vom abgelösten Intellekt her vollkommen unmöglich. Es konnte anders scheinen, als der verstehende Geist sich zuerst aus der undifferenzierten Ganzheit früher Zustände loslöste. So war es bei den Griechen — man denke an Sokrates — und ein zweites Mal bei der Geburt exakter Wissenschaft, als diese gerade erst aus der Ganzheit spirituellen Lebens erfolgt war und von dieser getragen und gelenkt wurde. Heute liegen die Dinge völlig anders. Wie ich in der später in das erste Hauptwerk der Schule der Weisheit Schöpferische Erkenntnis
aufgenommenen Programmschrift Was uns not tut, was ich will ausdrückte: der Verstand ist in seiner Entwicklung derjenigen des geistig-seelischen Gesamtorganismus weit vorausgeeilt und hat dessen Ganzheit zuletzt zersetzt. Jetzt tut eine Neuverknüpfung von Geist und Seele not. Die Kritik, welche anfänglich dem Leben die Axt an die Wurzel setzte, muss fortan dem Neuaufbau dienstbar gemacht werden. Hierzu aber gilt es, die richtige Bezeichnung für den substantiellen (im Unterschied vom bloß interpretierenden) Geist als Macht in die Welt zu setzen — dies habe ich in programmatischer Fassung in meinem letzten Werk und wohl Hauptwerk, dem noch nicht erschienenen Buch vom Ursprung getan — und von ihr her neues Leben aus dem geistigen Ursprung, was alle hohen Religionen in mehr oder weniger großer Annäherung versucht haben, aus der Ganzheit des persönlichen Lebens (was noch nie früher unternommen wurde noch unternommen werden konnte) zu begründen. Dieses Leben aus dem Ursprung, das heute kaum mehr in der Welt des weißen Mannes anzutreffen ist, aus der Ganzheit heraus, die wegen der insektenhaften Spezialisiertheit des gültigen Zeittypus den meisten kaum mehr fassbar erscheint, ist eben die neue Spiritualität, die allein aus dem heutigen Chaos einen neuen schöneren Kosmos gestalten kann. Ober die Zeit der alleinseligmachenden bestimmten Konfession, der einzig wahren begrenzten Weltanschauung, der angeblich allein wertteilhaftigen Rasse und Nation sind wir endgültig hinaus. Nämlich von der Vorhut der Menschheit her betrachtet. Rückzugsgefechte mag es freilich noch verschiedene geben. Die zu führen ist aber nicht Sache der Pioniere der durch die zwei Weltkriege eingeleiteten neuen Zeit. Wir dürfen nur vorwärts schauen. Denn es gehört mit zur Richtigstellung der Bezeichnungen, dass man niemals durch Seiten- und Rückblicke die Klarheit der Zukunftsplanung und die Übersichtlichkeit von deren großen Umrissen gefährden darf. Eben darum gründete ich vor einem Vierteljahrhundert die Schule der Weisheit, welche von vornherein den hier skizzierten neuen Impuls vertrat, in offen betontem Unterschied zu Universität, Kirche, Staat und jeglicher Parteiung. Ein wahrhaft geistiges Zeitalter kann nur eines der Inklusivität im Gegensatz zur Exklusivität, der Implikation im Gegensatz zur Explikation, der Integration im Gegensatz zur als letzte Instanz missverstandenen Differenzierung sein.
Noch veröffentlichte ich nirgends meine genaue Differenzierung zwischen Intellektualität und Spiritualität, mit welcher sich viele südamerikanische Vorträge von mir befassten. Doch das über dieses Thema schon Gesagte muss für dieses Mal genügen. Eine neue spirituelle Kultur wird dann allein geboren werden, wenn ein neues Zeitalter bestimmender Spiritualität anbricht, und zwar einer weiteren, tiefergreifenden und zugleich umfassenderen, als es irgendeine bisherige war. Denn die neuerforderliche Synthese ist die zwischen Reichtum und Tiefsinn. Wir sind, im Vergleich zu allen früheren Zeiten, intellektuell unermeßlich reich geworden, und diesen Reichtum kann dem weißen Menschen keine äußere Katastrophe mehr nehmen. So bedeutet das Abstrahieren-Können, das Verzichten, im Gegensatz zum Anfang unserer Ära, keine Tugend mehr, sondern ein Armutszeugnis, ein Beweis von Engigkeit, von mangelnder Kraft geistiger Initiative und Tragfähigkeit der Seele. Man meditiere nun diesen letzten Absatz allein für sich: eröffnet er allein nicht für jedermann, der guten Willens ist, ungeahnte Zukunftsmöglichkeiten? Die Zeit des Entweder-Oder ist um. Wir müssen nunmehr in gleichem Sinn im Geist des richtig hierarchisierten Sowohl-als-auch denken, fühlen und wollen lernen, wie der für uns vorstellbare Schöpfergott. Im richtig hierarchisierten Sowohl-als-auch
freilich. Der Demokratie im heutigen Verstand liegt eine falsch verstandene Weitherzigkeit zu Grunde, deren prägnantester Ausdruck die angelsächsische Anschauung my opinion is as good as yours
darstellt. Dem gegenüber ist das Folgende wahr, was ich in Schöpferische Erkenntnis folgendermaßen formulierte: überhaupt Ansichten zu haben, ist unmoralisch; nur Einsichten dürfen gelten. Nicht umsonst sind wir durch das Zeitalter exakter Wissenschaft hindurchgegangen. Praktisch bedeutet das: ist Demokratie freilich die Grundform ersprießlichen äußerlichen Zusammenlebens der Menschen, so muss diese durch strengste Hierarchie auf der Ebene spirituellen Seins ergänzt werden. Was einstmals in den Sonderformen von Staat und Kirche seinen zeitgemäßen Ausdruck fand, hat eine Wiedergeburt im Zeichen äußerster Universalität zu erfahren.
Spiritualität bedeutet nun endlich dies: dass das Sein über allem, auch dem höchsten Können steht. Die bisherige Kultur befindet sich in Agonie hauptsächlich deshalb, weil sie nur noch eine Könnenskultur geworden ist. Der Wert alles Könnens beruht aber ganz und gar auf dem Werte des Seins, welchem es dient. Welchem Sein das weit vorgeschrittene Können von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr gedient hat, brauche ich nicht näher auseinanderzusetzen: wir alle haben es nur zu sehr an der eigenen Seele und am eigenen Leibe gespürt. Wer es aber nicht gespürt hat, der zählt keinesfalls für eine bessere Zukunft.
Immer niedererem Sein, zuletzt rein negativ zu bewertendem hat es gedient. So hängt der spirituelle Wiederaufstieg ganz und gar davon ab, dass höchste Seinswerte wieder, wie zu allen großen Zeiten, als suprem anerkannt werden. Damit aber hängt auch das zusammen, was die alten Römer amor fati hießen. Ich kenne wenig Oberflächlicheres als die These einer gewissen modernen Philosophie, welche der Hauptexponent der jüngsten Abart von Nihilismus ist, — daher deren Welterfolg — dass der Mensch in sein Schicksal, welches ihn innerlich nichts anginge, sozusagen geworfen
sei. Das Gegenteil dessen ist wahr. Wer da überhaupt Seinsbewusstsein hat, der weiß: das scheinbar Äußerlichste gehört unabtrennbar zu ihm. Nicht zwar im Sinne sinnlosen Fatums, sondern in dem, dass die Grundaufgabe des individualisierten Geists die Eroberung seines ihm zu- und angemessenen Schicksals ist (siehe das Kapitel Selbstverwirklichung meiner Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit
). Denn Selbstverwirklichung und damit geistbedingtes Leben überhaupt gelingt nur von innen nach außen zu. Von außen her, in welchem Sinn auch immer, stellt sich kein Wesensproblem. Darum ist Nicht-Erfüllung des eigenen Schicksals und damit Versagen in der Sinnerfüllung die eine, unverzeihliche Sünde gegen den Geist. Eben diese Sünde hat das Fortschrittszeitalter von vornherein und in immer steigendem Maße begangen. Alles hier Angedeutete gedenke ich in meiner neuen Periode vornehmlich mündlichen Wirkens im Rahmen der neugegründeten Schule der Weisheit soweit als nötig und von Fall zu Fall — denn spirituell verstanden gibt es nur konkrete, überhaupt keine abstrakten Probleme — zu erläutern.