Schule des Rades
Hermann Keyserling
Gedächtnisbuch · Letzte Aufsätze
Vom spirituellen Wiederaufbau Europas und der
Begründung eines neuen europäischen Humanismus · 3
Hiermit gelange ich zum letzten Aspekt der durch den Titel bestimmten Aufgabe: derjenigen eines zu begründenden neuen europäischen Humanismus.
Der Humanismus des 18. Jahrhunderts, welcher, seit Jahrhunderten vorbereitet, sehr vielversprechend anhub, ist, wie jeder, welcher Augen hat zu sehen, wissen kann, in Entmenschung sondergleichen ausgeklungen. Wie konnte es so kommen? Es konnte nicht allein, es musste dergestalt kommen, weil der Humanismus vom durch Vorurteile bestimmten abstrakten Menschen ausging, welchen es gar nicht gibt. Diese Wahrheit erläuterte ich erstmalig in meinem ersten Pariser Vortrag, demjenigen des Jahres 1926, der mit den Worten begann: L’homme abstrait n’existe pas
. Mein ganzes späteres Werk ist eine einzige Illustration dieser Grundwahrheit. Wer da vom Allgemeinen ausgeht oder alles darauf zurückführt, und damit die lebendige Wirklichkeit auf eine Abstraktion, kann jener überhaupt nicht innewerden: denn die eigenste Daseinsebene der lebendigen Wirklichkeit ist die der Einzigkeit. Letztere und nicht das Allgemeine ist der Exponent des Universellen hier auf Erden.
So gilt es die Begründung eines besseren Humanismus als es der bisherige war. Dies setzt voraus, dass der Akzent noch mehr auf die Einzigkeit gelegt wird, als es Christus tat, da er vom unendlichen Wert der Menschenseele kündete. Selbstverständlich können Massen-Probleme, zu denen alle sozialen und ökonomischen gehören, nur vom Allgemein-Erforderlichen her gelöst werden. Doch das Massenhafte und der Masse Zugehörige betrifft niemals des Menschen Kern. So erfordert gerade Vermassung im Bereich des Äußerlichen als Ergänzung desto größeren Individualismus nach innen zu. Hieraus aber ergibt sich die Möglichkeit einer neuen auch äußeren Universalität. Kommt es an erster und letzter Stelle auf den Einzigen an, dann sinkt automatisch der Wert aller Zwischeninstanzen; derjenigen zwischen Einzigkeit und großer Zahl, handele es sich um Rasse, Nation, Klasse, Konfession, Weltanschauung oder was sonst. Es ist eine Welt denkbar und praktisch möglich, welcher im Rahmen aller als solchen bejahten kollektiven Verschiedenheiten letztinstanzlich die bewusste Zusammenarbeit aller Einzigkeiten die Signatur gäbe, wo also Kollektives und Individuelles sich ergänzten und gegenseitig bedingten. Eben darum und nur deswegen ist es möglich, dass auf dieses entsetzliche Kriegs- und Revolutionszeitalter eine neue Friedensära folgte. Was sollen Nationalitätenkämpfe, wenn die Nation kein letztes Wort mehr bedeutet? Was schaden Unterschiede in der Weltanschauung, wenn es in letzter Instanz auf den einzigen, konkreten Menschen von Geist, Seele, Fleisch und Blut ankommt? Oft habe ich es ausgesprochen: wesenhafte Lebensprobleme werden niemals gelöst, sie werden erledigt. Mit dem Anbruch einer neuen Universalität im Zeichen des substantiellen Geists werden sich die meisten Probleme, um welche im letzten Jahrhundert gerungen wurde, als irrelevant erweisen und damit zu bestehen aufhören, gleichwie die bloße Erkenntnis der Wahrheit ohne Kampf und Streit den Irrtum automatisch aus der Welt schafft.