Schule des Rades

Hermann Keyserling

Gedächtnisbuch · Letzte Aufsätze

Über die Schule der Weisheit

Radiovortrag für den Innsbrucker Rundfunk, September 1945

Wie soll ich über meine Schule der Weisheit Eindeutiges sagen, da es sich überhaupt um keine Institution, sondern den Wirkungsrahmen für die Ausstrahlung lebendiger Geister handelt: an erster Stelle meines eigenen Geistes, dann derer, die mit mir als Gesinnungsgenossen, Mitarbeiter und Schüler verbunden sind. Der substantielle Geist, des Menschen tiefster Grund, der nicht interpretiert, sondern ist und schafft, ist allemal rein persönlich, überhaupt nicht zu versachlichen: Dementsprechend kommt es auf Sein, nicht auf Können an erster und letzter Stelle an. So schrieb Konfuzius:

Ein vornehmer Mensch kann durch sein schlichtes Dasein der Welt Frieden bringen, und Lao Tse: Der Weise ist kein Gerät; Menzius: Wer die Welt durch bloße Tüchtigkeit gewinnen will, der wird sie verlieren.

Von dieser Fragestellung her führte der Vortrag, mit dem ich 1920 die Schule der Weisheit in Darmstadt eröffnete, den Titel Seins- und Könnenskultur, in welchem ich unter anderem zeigte, dass letztere nur in Unmenschlichkeit und Selbstzerstörung einmünden kann. In der Programmschrift Was uns not tut, was ich will vom Jahr 1919, auf Grund welcher es zur Gründung kam, bezeichnete ich als Hauptziel der Schule der Weisheit die Neuverknüpfung von Seele und Geist, womit ich Mich dahin festlegte, dass es in erster Linie auf höchste Menschlichkeit und nicht auf Wissen ankommt. Seither sind die Schule der Weisheit und ich selbst in Korrelation zueinander stetig gewachsen.

Mein Schüler und Mitarbeiter, der Salzburger Oscar A. H. Schmitz, schrieb einmal ganz in meinem Sinn: In seiner Schule der Weisheit ist Keyserling der erste und beste Schüler. Aber nie gab es in ihr Schüler im üblichen Sinn, alles war auf Seinssteigerung mittels Polarisation angelegt, über welche Methode ich mich in vielen Schriften ausführlich ausgesprochen habe. Was nun das Wort Weisheit betrifft, so bedeutet Weisheit für mich in erster Instanz rechte Einstellung im Kosmos im Zeichen absoluter Wahrhaftigkeit, verantwortlicher Selbstbehauptung und Echtheit. Jeder ganze und echte Mensch stellt einen berechtigten Aspekt der Menschheit dar. Schon 1911 schrieb ich im Reisetagebuch: die Weisen und Heiligen sind die Grundtöne der Lebensmelodie, auf die sich alle abstimmen müssen, wenn sie sich selbst verwirklichen wollen. Aber kein Grundton widerlegt durch sein Anklingen Mittel- und Obertöne. Diese müssen nur den besonderen Sinn ihres Daseins klarer fassen und als solche rein klingen. Bachs unerreichte Tiefe entwertet nicht allein einen Mozart, sondern auch einen Johann Strauss nicht. Jeder lerne nurt — das war und ist eine Hauptlehre der Schule der Weisheitt — im einzig richtigen Sinn bescheiden sein: sich bei dem bescheiden, was er wirklich ist, ob Grund- oder Oberton, ob groß oder klein. Wer immer das gelernt hat, befindet sich auf dem Wege zur Weisheit. Früh oder spät wird dann jeder an sich selbst erfahren, dass der Mensch zutiefst substantieller, strikt persönlicher, autonomer und selbstverantwortlicher Geist ist. Diesen in sich zu realisieren ist die Hauptaufgabe von jedermanns Leben. Indem sie das vertritt, ist die Schule der Weisheit eine vornehmlich menschliche und ethische Angelegenheit. Sie lehrt einsehen, dass die Primärausdrücke des Geistes nicht Verstand und Theorie, sondern Mut und Glaube sind. In diesem Sinne steigert und erhebt sie die Menschen, die sich in ihr Kraftfeld begeben, schafft Trost und Kraft zu leben. Um also zeugerisch zu wirken, vertritt sie ausschließlich das Prinzip der Inspiration und nicht dasjenige der Erziehung. Alles Große auf der Welt, von der Weltschöpfung angefangen, ist aus jener hervorgegangen.

Über den Gegensatz zwischen Inspiration und Erziehung habe ich mich in meinem letzten in deutscher Sprache erschienenen Buch, den Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit, ausführlich und für mich abschließend ausgelassen. Als Inspirierender habe ich innerhalb aller Völker gewirkt. Eben darum bin ich so selten zitiert worden: pater nunquam certus est. In meinem druckfertig vorliegenden, aber bisher nicht veröffentlichten Hauptwerk Das Buch vom Ursprung führe ich alles, was ich jemals differenziert vertreten habe, auf den lebendigen Ursprung, als Integral aller nur möglichen Differenzierungen zurückt — absichtlich wählte ich ein vieldeutiges Wort, denn auf den höchsten Höhen und in den tiefsten Tiefen ist alles vieldeutig. Von der Basis meines Buchs vom Ursprung her wird die Schule der Weisheit, welche in Darmstadt zerstört wurde, wiedergeboren werden, wie sie einstmals auf mein Reisetagebuch hin entstand. Doch es wähne keiner, alles Wesentliche über mich zu wissen, wenn er nur dieses oder jenes Buch gelesen hat: mein ganzes Leben, von welchem mein Schreiben und Reden nur Sonderausdrücke sind, dient den Erkenntnissen, die ich hier nur andeuten konnte.

Nur noch ein Wort der Erläuterung: Weisheit bedeutet für mich erkenntnisbedingtes Leben, nicht abstrakte Philosophie, für welche ich mich jetzt, in meinem Alter, sogar kaum mehr interessiere. Ich bin ein durch und durch realistischer und praktischer Mensch. Für mich ist Philosophieren keine Wissenschaft, sondern eine Kunst, gleichwie alles geistbestimmte Leben der Ebene des Lebens als Kunst angehört. Und die Kunst der Künste ist für mich das schöpferische Leben selbst, welches hoch über allen Sonderkünsten steht. So vertritt, denn die Schule der Weisheit letztlich Selbstverwirklichung. Ihre Methode ist die Polarisierung von Mensch zu Mensch im Zeichen souveränen Wertgefühls: Die Schule der Weisheit hat dementsprechend überhaupt keine besonderen Gegenstände, diese ergeben sich, von Fall zu Fall. Es gibt kaum ein Thema, mit dem ich mich nicht einmal im Leben im Geist der Schule der Weisheit beschäftigt habe. Fortan wird alles dem Neuaufbau der zerstörten Kulturwelt gelten. Mehr brauche ich nicht nur nicht zu sagen, wer mehr wissen will, der lese lieber meine Bücher nach, welche, zur Zeit vergriffen, hoffentlich bald neu aufgelegt werden.

Hermann Keyserling
Gedächtnisbuch · Letzte Aufsätze · 1948
© 1998- Schule des Rades
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