Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

III. Krieg

Blutrausch

Ich sitze im Halbdunkel einer Petroleum-Lampe, fröstelnd, den Hals in einen Vicuña-Poncho gehüllt, in meinem Schlafzimmer in La Porteña, jener Estancia der Provinz von Buenos Aires, in welcher Ricardo Güiraldes, der Schwanensänger der Gaucho-Zeit, seinen Don Segundo Sombra schuf. Don Segundo lebt noch leibhaftig, ein hoher Siebziger. Am Nachmittag hatte ich ihn besucht, mich beim Maté an seinen in archaischem Spanisch fein pointierten Sarkasmen ergötzt. Dann kam er zum Feste herüber, das Don Manuel Guiraldes mir zu Ehren gab. Es wurde Gitarre gespielt, gesungen und getanzt. Mit unvergleichlicher Anmut vollführte der Alte einige jener pas, in welche der Mann des argentinischen campo seine ganze Bewegtheit in gleichem Sinne zuspitzt, wie die indische Bajadere die ihre in eine Fingerbewegung. Dann aber kam ein buchstäblich homerisches Gelage. Rind auf Rind war eingefangen worden. Dies war mit jener Sicherheit und Umsicht, mit jener Freude am Schwierigen und Umständlichen geschehen, mit welcher die alten Damen meiner Jugendzeit feine Spitzen aus zwischen Pflöcken gespannten Fäden klöppelten, mittels von verschiedenen Seiten her raffiniert, bald um ein Horn, bald um einen Fuß geworfener Lassos, bis dass die Beute regungslos dastand. Dann ein schneller Stoß in die Gurgel… Unabgelöst vom Fell, auf roh geschichtetem Holz im Freien wurde das Fleisch alsdann in ungeheuren Mengen gebraten. Riesenstücke des asado al cuero füllten die Teller. Doch viele zogen die Eingeweide vor. Alle Gedärme fanden Liebhaber. Es ging genau so zu wie im Kreise der Freier der Penelope.

Nun verfolgt mich das Bild des ausströmenden Bluts. Mir ist, als sprudelten über die Pampa, diese ebenste Ebene der Erde, diese unermeßlichste aller Unermeßlichkeiten, weil nicht die leiseste Krümmung ihr Gestalt gibt, mit ihren ewig abendlichen Farben, mit der dumpfen Schwermut ihrer Atmosphäre, welche die Tatsache, dass die Schwärme der Vögel, die man hier Raben heißt, in Wahrheit schwarze Ibisse sind, für mein Bewusstsein irgendwie übersteigert — mir ist, als sprudelten über die Pampa allenthalben heiße rote Quellen. Diese andererseits so feinsinnigen und zartfühlenden, immer leisen, immer gütigen Gauchos sind wesentlich Viehmetzeler, bei jeder Gelegenheit bereit, das silbergeschaftete Messer zu ziehen, um aus schier beliebigem Hals das rote Blut strömen zu lassen. Sogar den Straußen, die wir zu Roß mit Schleudern jagten, schnitten sie, sobald die Vögel in den kugelbeschwerten Stricken verfangen fielen, als erstes die Kehle durch. Der Gaucho-Typus steht und fällt geradezu mit dem Beruf des Halsdurchschneidens, des degollar. Und ich fühle, dass seine Süßigkeit, sein Schönes irgendwie damit zusammenhängt. Das gibt mir viel zu denken. Sind die Spanier nicht menschlicher als andere Menschen, weil sie den Stierkampf haben? Ist es nicht das Töten im Krieg, das den echten Krieger im Frieden so milde macht? Hat nicht die typische Heiterkeit des Chirurgen und die Freudigkeit der Operations­schwestern den gleichen Grund, wie die Sanftmut der Gauchos? Hängt die Unmenschlichkeit des Maschinen­zivilisations­menschen nicht mit seinem bewussten Abscheu vor Blut und Töten zusammen?

Wie dem auch sei: im Geist des Gaucho hat absichtliches Töten wohl überall und überhaupt begonnen. Nichts Böses erscheint ursprünglich mit ihm verknüpft. In der Unterwelt fehlt jede klare Grenze zwischen Töten und natürlichem Tod, ja beinahe zwischen Töten und Sterben. Diese Grenze klärt und schärft sich erst, nachdem die Schöpfungsnacht zum Schöpfungstage ward. Die aufgehende Sonne macht aber das Auge zunächst für das Dunkel blind. So wusste erstes Bewusstsein von den Untergründen der Mordlust ebensowenig, wie es das unserer Kinder weiß. Das erste Motiv zum Töten, das im dämmernden Tagesbewusstsein aufleuchtet, ist das des reinen Blutrauschs. Ich gedenke der Edelfalken, die ich in meiner Kindheit zog: paradiesisch harmlos lebten sie in Freiheit neben anderen Vögeln dahin, welche sie auch als harmlos anerkannten, bis dass sie, halb aus Zufall, erstmalig Lebendiges schlugen; nachher war kein Halten mehr, der Blutrausch war geweckt. Doch nicht sogleich assoziierten sie Töten mit Nahrungsaufnahme. So begann das bewusste Töten beim Menschen mit dem, was wir Krieg heißen; beim Töten um des Tötens willen. Das erste jagen war Kriegführung. Jede Nützlichkeitserwägung war dem ersten Töten fremd. Der früheste Mensch fühlte so, wie heute noch überall der echte Jäger. Das Verspeisen der Beute nahm im frühesten Bewusstsein den gleichen Platz ein, wie das spätere Verspeisen des dem Gotte dargebrachten Opfers.

Das Elementare und Primäre des Blutrauschs erklärt, in der Tat, warum er in aller Geschichte mit den frühesten religiösen Vorstellungen verknüpft erscheint: vom erwachenden religiösen Bewusstsein her beurteilt, war alles Töten ursprünglich Opferung. Und noch heute sieht jeder echte Soldat, noch so unbewusst, das Töten im Krieg als Menschenopfer an. Sonst unterschiede er es nicht aus so echtem inneren Erleben heraus so rein vom Morden; instinktiv schaut er das Selbstopfer mit dem Töten der anderen in eins zusammen. Vom Opfer her begreifen wir denn auch den frühesten Mut. Auch die mutigsten Tiere sind nicht wirklich mutig: sie geben bloß dem Drang innerer anstatt äußerer Übermacht nach, die in bezug auf ihr Bewusstsein ein genau so Äußerliches ist. Doch zugleich mit dem Blutrausch erwacht der Opferdrang. Das Ausströmen des Bluts an sich steigert das Lebensgefühl; ob es das eigene oder fremdes ist, wird auf dieser Stufe kaum unterschieden. Und so ist auch der Kampftrieb sekundär, nicht primär. Von den Untergründen her gesehen und beurteilt, ist er sogar ein spätes Phänomen. Erst war der Wille zum Blutopfer da, dann erst der Wille zum Kampf. Der Kampf als Selbstzweck wird erst möglich, wenn das Spiel im Bewusstsein das Primat vor der Wirklichkeit errungen hat, und dies setzt bestimmende Vorstellung voraus. Die dunklen, dumpfen und blinden Urzustände, in denen noch heute alle tiefsten Beweggründe wurzeln, wissen aber nichts vom Spiel. Ihnen eignet all die Finsternis des Ernstes. Eben in diesem Sinne heißt man Despoten finster. Eben deswegen ist Sowjet-Russland so schauerlich ernst. Nichts widersinniger, als vom Kindheitszustande her Kosmogonien zu dichten: der Kindheitszustand ist ein paradiesischer, kein höllischer; im Anfang aber war die Unterwelt. Deswegen war der Meuchelmord da vor dem ehrlichen Kampf, nur dass im Meucheln nichts Böses gesehen ward; deswegen ging das Töten des Wehrlosen dem des Wehrhaften voran. Der Kampf ergab sich zuerst aus der vis major der Situation, dass sich der Angegriffene wehrte, oder dass der Mensch von anderen Geschöpfen angegriffen wurde. Deswegen ist es auch sinngemäß, dass die Jagd, die alle raubtierartigen Männer heute genau so begeistert, wie sie’s in der Eiszeit tat, wesentlich Meucheln ist. Und der moderne Krieg, in welchem der Angegriffene gegenüber den Waffen des Angreifers wesentlich wehrlos ist, führt recht eigentlich zum Urzustand zurück. Dies erklärt, warum ihn der echte Soldat, so sehr er alle Ritterbegriffe zerstöre, die noch vor wenigen Jahrzehnten gelten konnten, doch nicht als widersinnig empfindet.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
III. Krieg
© 1998- Schule des Rades
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