Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

V. Schicksal

Mut zum Risiko

Heute weiß ich, was Schicksal ist. Es ist nichts Metaphysisches. Im Rahmen des üblichen Notwendigkeits-Schemas ist sein Sinn freilich auch nicht zu fassen. Gewiss bedarf die Fähigkeit jenes sonderbaren brasilianischen Schmetterlings mit den Hasenohren-artigen Riesen-Antennen, die Anwesenheit eines brünstigen Weibchens über eine deutsche Meile weit zu wittern, keiner Erklärung dahin, dass ausgerechnet dieses bestimmte Geschöpf sein Schicksal sei. Und nicht viel anders steht es mit den meisten besonderen Zufällen im Menschenleben. Die Allermeisten sind zu wenig sonderlich, als dass nicht viele Zufälle für sie gleich bedeutsam werden könnten. Ferner ist das heutige menschliche Nachrichtensystem wohl allen Fernorganen der Tiere überlegen, so dass es ebenso möglich ist. Affinitäten bei Antipoden zu spüren, als in unmittelbarer Nähe. Dies hindert aber nicht, dass es tatsächlich schicksalsmäßige Zufälle gibt; d. h. solche, die eine andere Deutung verlangen, als die bisher berührten. Zu den bestimmten Lebensmelodien bestimmter Wesen gehören organisch auch bestimmte äußere Zufälle, was der übliche Kausalitätsbegriff zu begreifen nicht mehr erlaubt.

In welchem Sinne dies der Fall ist, wurde mir klar, als mir ein Zufall — dieses Mal ein reiner, wirklicher — das Neueste über die Geschichte des Aals vor Augen führte. Erst gegen Lebensende geschlechtsreif, pilgert dieser seltsame Fisch aus nördlichen Flüssen und Seen nach der zwischen den Bermudas und Südamerika belegenen Tiefsee, setzt dort eine neue Generation in die Welt, um alsdann zugrunde zu gehen; wenigstens kehrte kein erwachsener Aal je aus den Tropen heim. Die Jungen nun ähneln jahrelang nur wenig dem Bilde ihrer späteren Vollendung; die merkwürdigsten Larvenzustände durchwandeln sie. Doch was das Rätselhafteste ist: zu langer Fahrt nicht im mindesten geschickt erscheinend, streben sie doch, sobald sie sich bewegen können, den süßen Gewässern des fernen Nordens zu. Dort erst erwachsen sie. Aber dort können sie sich wiederum nicht fortpflanzen. Durchkreuzt Geschick die Erfüllung der Sehnsucht des erwachsenen Aales nach dem Tropenmeer, dann stirbt er kinderlos. — Manch andere Tierodyssee ist abenteuerlicher noch als die des Aals. Am bekanntesten dürfte die des Bandwurms sein, welcher dann allein sämtliche Etappen seiner möglichen Lebenslaufbahn durchmisst, wenn er zufällig als bestimmtes Larvenstadium auf bestimmtes Gras geriet und dann von einem bestimmten Tiere zufällig gefressen ward. Ein einfacheres Beispiel des gleichen Verhältnisses bieten die Zugvögel. Doch ich möchte beim Aale bleiben, weil mir an seinem Sonderfall der Sinn des Schicksalsproblems überhaupt aufging. Hier kann kein Zweifel walten, dass die Raumverschiebung mit hineingehört in die an sich rein zeitliche Lebensmelodie. Offenbar nun gilt gleiches ganz allgemein vom Zufall im Zusammenhang des Schicksals, wo von Schicksal füglich die Rede sein darf. Der Lebensweg des Aales und die Bahn der Zugvögel und die Peripetien der Völker und Persönlichkeiten sind verschiedene Äußerungsformen eines gleichen Urzusammenhangs.

Zu dessen Fassung liefert Einsteins Relativitätstheorie das beste, ja das angemessene Schema. Und zwar kann man das Schema hier mit lebendig verständlichem Inhalt füllen, was in bezug auf die Objektwelt der Physik nicht gelingt. Vom Standpunkt des Verstehens ist es absurd zu behaupten, die Zeit sei die vierte Dimension des Raums, denn Raum und Zeit sind bestimmte Erscheinungsqualitäten, deren Unterschiedlichkeit und Unvereinbarkeit keine noch so richtige Formel überbrückt. Hier läge der einzig denkbare Weg zur Verständlichkeit in der folgenden Überlegung: es müsste ein Wesen geben können, das die primäre Raum-Zeit-Einheit ebenso unmittelbar erlebte, wie wir Raum und Zeit als verschiedene Dimensionen erleben. Im Fall des Schicksals nun besteht solch erlebbare Einheit eines dem Denken Unbegreiflichen. Besäßen sie Bewusstsein, so müssten Aal, Bandwurm und Zugvogel unmittelbar fühlen, dass bestimmte Raumverschiebung unlösbar zu ihrer zeitlichen Lebensmelodie gehört, und bestimmter Zufall zur Erfüllung ihres Schicksals. Ließe sich das Verhältnis auf eine Formel bringen, dann müsste sie eines Sinnes sein mit der Grundformel der Relativitätstheorie. Faktisch kann keine solche Formel aufgestellt werden, nicht allein weil es sich hier um wesentlich konkrete Situationen handelt, d. h. um solche, welche als Sonderfälle allgemeinen Gesetzes nicht zu begreifen sind, sondern vor allem, weil hier Freiheit mitspielt. Doch gleichviel, ob und wie weit es gelinge, den wahren Zusammenhang begrifflich zu fassen — unter allen Umständen lebt der Bandwurm, der Aal, der Zugvogel unmittelbar aus einer Synthese heraus, welche Zeit und Raum, Notwendigkeit und Zufall auf einmal als integrierende Bestandteile umfasst. Und so erlebt sie auch, und erst recht, der schicksalsbewusste Mensch. Je ausgesprochener seine persönliche Lebenslinie, desto notwendiger gehören alle Zufälle, die ihn treffen, zu ihm. Er fühlt, wohin er sich jeweils wenden soll wann seine Stunde schlägt, und wann sie um ist.

Genau in diesem Sinne musste ich nach Südamerika, obwohl ich sehr wohl nicht hätte hinreisen können. Die Phänomenologie des mit freiem Willen begabten Menschen verhält sich zu der des von blindem Gattungsdrang getriebenen Aals genau so, wie Überfallen-werden von Zufällen zu deren willkürlicher Herausforderung. Der Mensch setzt sich willentlich den Zufällen des Lebens aus; er nimmt seine Chancen bewusst wahr. Dass das behauptete Verhältnis gilt, scheint mir unmittelbar bewiesen durch die Tatsache, dass nach aller Menschenerfahrung nur der, welcher den Mut hat zum Risiko, das erfüllt, was andere nachträglich sein notwendiges Schicksal heißen.

Es bleibt bei der selbständigen Bedeutung des Zufälligen; nur das Verhalten dessen, welcher es erleidet, ist ein anderes. Das Gesagte gilt noch vom Höchstdurchgeistigten: die innere Melodie des Lebens klingt nur dann an, gelangt nur da zu vollendeter Ausgestaltung, wo sie äußere Anlässe dazu zwingen. Daher die Bedeutung des Zufalls in aller Geschichte großen Menschentums; diese Bedeutung geht so weit, dass es sinngerechte Überlieferung gibt, welche nur äußerliches Geschehen betrifft. Daher andererseits die immer notwendige Zustimmung zum Zufall, welche oft alles eher als leicht fällt. Mein Großvater, dessen Leben ein selten begnadetes war,1 pflegte zu sagen, im Grunde sei es eine Kette von Missgeschicken gewesen. Tatsächlich war die schöne epische Linie seines Daseins zu einem erheblichen Teil dank persönlichem Verzicht zustande gekommen. Von mir glauben viele, ich hätte immer getan, was ich wollte, denn Rücksichten im üblichen Verstande habe ich wenig zu nehmen gebraucht. Und doch sind gerade die entscheidendsten Wendungen meines Lebens zum Guten dem zu danken, dass ich schweren Herzens das Opfer der Neigung brachte. Ich tat es allemal aus dem bestimmten Gefühl heraus, dass gerade mein innerliches Schicksal im gegebenen Augenblick ein ja-sagen zu scheinbar Äußerlichem forderte.

Im Gesagten wurzelt die Wahrheit der Astrologie sowie die des chinesischen I Ging,2 des Buchs der Wandlungen. Das Schicksal, welches sie meinen und zeichnen, unterscheidet sich vom bisher betrachteten insofern, als sie vom Gesamtkosmos ausgehen und nicht von der Erde allein; doch eben diese Voraussetzung kann a priori als zutreffend anerkannt werden. Die Astrologie behauptet, dass auf der Ebene der Natur jedes Leben eine gebundene Marschroute hat. Das ist richtig im gleichen Sinn, wie gleiches vom Aal gilt. Und wie der Aal sehr wohl sein Schicksal nicht erfüllen kann, indem er von Strömungen abgetrieben oder unterwegs gefressen wird, so hindert kein Horoskop Geist- und Sinnesverwirklichung. Der statischen Wahrheit der Astrologie gibt der I Ging die erforderliche dynamische Komponente. Jeden Augenblick bilde, so lehrt Das Buch der Wandlungen, jeder Mensch den Mittelpunkt einer bestimmten kosmischen Situation. Aus dieser ergäben sich im Guten nur bestimmte Möglichkeiten. So gäbe es Zeiten ratsamen Tuns und Zeiten ratsamen Lassens; bald gälte es vorzugreifen, bald abzuwarten; von zwei möglichen Richtungen bald diese, bald jene einzuschlagen. Auch hier handelt es sich um nichts Metaphysisches: der I Ging stellt nur auf Grund uralter Erfahrung allgemeine Regeln fest, deren Möglichkeit sich aus dem Gesetz der großen Zahlen ergibt. Gebunden ist die Marschroute nur im Guten jederzeit steht es dem Menschen frei, Verderbliches zu wollen und zu tun, so wie jedes Tier durch Durchkreuzen seines Wegs durch fremdes Geschehen am Vollenden seiner normalen Lebensbahn gehindert werden kann. Die Astrologie behauptet nun, auch Glück und Unglück — wir dürfen die modernen Begriffe des eine Chance habens und seine Chance wahrnehmens getrost unter den Begriff des reichen antiken Glücks, das als besondere Tugend galt, subsumieren — seien innerlich bedingt. Auch das kann man zugeben, weil auch diese Vorstellung aus dem Rahmen der Natur nicht hinausführt. Die Seele jedes Menschen gleicht dem körperlichen Witterungsorgan des eingangs genannten brasilianischen Schmetterlings. Lehrt die moderne Psychologie, der Mensch beschwöre die Zufälle seines Lebens, so bedeutet das nur, dass das Unbewusste jeden den ihm entsprechenden Zufällen zulenkt. Fehlt jede Affinität dieser Art, dann kann kein persönlich bedeutsamer Zufall eingreifen. Insofern fallen die meisten Zufälle nicht unter den Schicksalsbegriff. Doch man hüte sich, nunmehr dem zielstrebigen Unbewussten alles das zugute zu halten, was das 19. Jahrhundert der für allmächtig, allwissend und allgegenwärtig geltenden Kausalität zuschrieb.

Was sicher besteht, ist ein mehrdimensionaler Zusammenhang, welcher auch wirklichen und unzurückführbaren Zufall einschließt und den wir dem Einsteinschen Weltbild verglichen.

Damit greife ich auf den Satz zurück, dass ich nach Südamerika musste obgleich ich sehr wohl nicht hätte hinreisen können. Tatsächlich habe ich vielleicht schwerer innerlich gekämpft, ob ich dem an mich ergangenen Rufe Folge leisten sollte, wie im Falle irgendeines früheren vergleichbaren äußeren Entschlusses. Ich fühlte, dass diese Fahrt eine Gefahr für mich bedeutete — was wiederum nichts Mystisches war, da ich genügend Vorkenntnisse besaß, um wenigstens unbewusst den Effekt des Zusammenpralles dieser Welt mit meiner Natur vorauszuahnen. Dass ich nun aber hinreiste, war echte Schicksalserfüllung. Denn ohne Südamerika wären mir die Probleme, mit denen ich mich in diesen Meditationen befasse, in der erforderlichen Deutlichkeit und von der richtigen Fragestellung her nie aufgegangen. Nicht jeder Zufall löst gleiches innerlich Notwendiges aus.

1 Vgl. Graf Alexander Keyserling, Ein Lebensbild in Briefen, Berlin 1902, Vereinigung wissenschaftlicher Verleger.
2 Die bisher einzige sinngerechte Ausgabe ist die bei Eugen Diederichs erschienene, von Richard Wilhelm herausgegebene und kommentierte.
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
V. Schicksal
© 1998- Schule des Rades
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