Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

V. Schicksal

Abenteurertum

Beschließen wir diese Meditation mit einer Betrachtung der Uranfänge der Geschichte. Blut und Erde bestimmen zuunterst das, was sich oben als Geschichtsprozess entrollt. Das Besitzen bestimmten Landes ist Forderung der Ur-Angst, die sich primär im Besitz sichert; hier wurzelt alle Statik der Geschichte. Ihre Dynamik aber hängt intern vom Grad des Blutskonfliktes ab, und nach außen zu von der Macht und Rolle des Ur-Hungers. Ist diese groß, dann werden Völker zu Eroberern. Doch die echten Eroberervölker waren von je und sind heute noch ursprünglich ziellos — so wie es die Engländer sind, die ohne eigentliche Absicht ein Weltreich aufbauten — und im Uranfang war dies im äußersten Maß der Fall. Dementsprechend berichten übereinstimmend alle Sagen, dass die Geschichte mit Abenteuer und Abenteurertum begann. Und zwar war der Ur-Abenteurer nicht etwa Don Quixote, das Urbild bestimmenden weltüberlegenen Geists, der seinen Traum der Wirklichkeit aufdrängt, sondern der völlig phantasie-, ja vorstellungslose Abenteurer, welcher das schlechthin Unbekannte und insofern das Nichts will. Was wir heute Abenteurer heißen, ist ein zur Monstrosität herausdifferenzierter Extremfall. Der moderne Abenteurer ist der absolut leere Mensch, welchem das Schicksal aus horror vacui Zufall auf Zufall zuführt. Allein umsonst: er ist unfähig, auch nur das Allermindeste zu erleben, geschweige denn in Werte umzusetzen, denn aus ihm ist nichts Innerliches zu evozieren. Der Abenteurer als Geschichtspionier war blinder noch, doch seine Blindheit gehörte zur Eigenart primordialen Lebens. Ihn trieb der Ur-Hunger, der sich durchs Weltall durchschlingen will. Dieser Ur-Hunger ist aber zugleich der Urausdruck des männlichen Prinzips und damit die irdische Keimzelle späterer Freiheit. Diese wurzelt im Drang zum Risiko, der im Verlauf der Durchgeistigung zum Vehikel des Wählens und Wagens und Entscheidens wird. Das sich-Aussetzen den Zufällen des Lebens allein löst auf die Dauer alle inneren Kräfte aus. Noch vom Höchstdurchgeistigten gilt dies; nur sich-Aussetzen den Zufällen des Lebens bringt auch bei ihm die innere Schicksalsmelodie zum Anklingen. Doch zu Beginn der Menschheitsgeschichte war von Voraussehen und Planen und Zielen keine Rede. Da war die Blindheit des Ur-Hungers der Mutterschoß aller Dynamik. Daher das Ungeheuerliche frühesten Abenteurertums, welches nie wiederholte Heldentaten vollbrachte. Man gedenke der ersten Seefahrten, die zur Eroberung der Erde führten. Nach Herman Wirth soll der früheste nordische Mensch von Nordamerika her das Kap der Guten Hoffnung im Ruderboot umschifft und von dort her die Südsee besiedelt haben. Solch ungeheuerliche Abenteuer waren möglich, weil die furchtgebärende Vorstellungskraft kaum vorhanden und zugleich der Ur-Hunger grenzenlos war. Wie Nachtwandler und Trunkene eroberten die ersten Herrenvölker die Welt.

Meiner Feder entfloß unwillkürlich der Ausdruck Herrenvölker: sie waren in der Tat ursprünglich die einzigen, die Initiative besaßen; sie allein verantworten deshalb für die großen Linien der Geschichte. Die anderen, in denen das Prinzip der Ur-Angst und damit der Sicherung im Besitz dominierte, verblieben geschichtslos, wie sie waren, und so löste kein Erleben Entwicklungskräfte in ihnen aus. Sicherungsvölker sind erst auf der Höhe allgemeinen Erreichnisses als irgendwie historisch bestimmende Mächte denkbar. Dies erklärt die heutige Vormachtstellung Frankreichs. Im Uranfang zählte nur der Abenteurer. Und lange nachher war der Held Prototyp des historischen Menschen überhaupt. Damals stellte sich einzig die Alternative: Heldengeschichte — gar keine Geschichte. Ist das Sicherungs- und damit das Besitzbedürfnis die Mutter aller Ordnung, so ist der Krieg der Vater zwar nicht aller Dinge, wohl aber alles geschichtlichen Werdens. sintemalen es Anstrengung und Überwindung kostet, historisch zu leben, d. h. seinen eigenen Weg bahnend und nicht dem Naturgefälle folgend, so strebt alle Spirale zum Kreise zurück und alle Geschichte in die Geschichtslosigkeit. Neuanfang gab es immer nur dann, wenn Wille zum Risiko erstarrte Ordnung zerbrach und sich aufbauender Zukunft gewiss unbefangen zur Zerstörung bekannte. Daher das Periodische nicht nur der großen Kriege, sondern auch der großen Revolutionen.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
V. Schicksal
© 1998- Schule des Rades
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