Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

VI. Tod

Geborgenheit im Rhythmus der Erde

Auf argentinischer Erde, deren strotzende Schwärze eine einzige Bereitschaft ist, zu begraben, auf dass endlos neues Leben Grund und Boden fände, fiel mir, als ich einmal schwer erkrankte und mich lebensüberdrüssig fühlte, wieder ein, was lange Jahre vorher eine alternde Frau zu mir gesagt und was ich damals nicht verstanden hatte:

jeder Krume fühle ich mich verschwistert. Ich möchte mich hinlegen und warten, bis dass auch ich zu Humus werde.

Es mag mit die Horizontalität der Pampa gewesen sein, die alle Theorie, dass die Erde rund sein könne, lächerlich erscheinen lässt, welche die Schwerkraft in mir zum bestimmenden Bewusstseinsmotiv erweckte. Ich bin immer häufiger krank gewesen, als gesund. Von jeher habe ich Monate jedes Jahres liegend verbringen müssen. Aber nie früher fühlte ich mich gezogen, gedrängt, zu versinken; nie früher empfand ich es als ein Vorläufiges, ein kleinlich Vorläufiges, dass mich die Erde trug, dass ich nicht in ihr aufging, dass sie hart und verschlossen unter mir verharrte und jede Sehnsucht in den leeren Raum des mit bleichen Sternen wirr besäten Himmels fortwies.

Ich hatte nicht Selbstmordgedanken. Schwere Krankheit des Körpers nimmt der Seele allen Willen zum Sterben ab. Daher ihr tief Beruhigendes. Ohne alles Zutun des Bewusstseins, ohne alle Eile noch Geschäftigkeit stellen sich im Rhythmus schweren Erkranktseins die Millionen Sonder-Lebewesen, aus denen der Leib besteht, wie schwimmende Eisenspäne dem Magneten zu, dem Tod entgegen um; ohne Panik, sondern in ruhig abwartender Verteidigungsstellung an sich haltend; nicht selbstverleugnend, sondern positiv teilnehmend am Schicksal ihrer Endlichkeit, auf dass es sich zur rechten Zeit erfülle, weder früher noch später. Schwere Krankheit ist insofern der eine Zustand ohne Furcht. Sie mag Qual sein und Marter: nichts verdirbt dem, der sich ihr restlos hingibt, die Geborgenheit im Rhythmus der Erde. Deswegen ist die Resultante ihrer Prozesse der Genesungs- und nicht der Selbstmordwille. Deswegen gibt es nur verschwindend wenig Kranke, welche sterben wollen, denn der Wille zum Tode ist ihnen abgenommen. Und damit ist der Krampf der Krämpfe für eine Zeit gelöst. Das Geistbewusstsein weiß von keinem natürlichen Ende. Es muss umnachtet sein, im buchstäblichen Sinn des Worts, es muss die Uhr der Schöpfungsnacht den Takt schlagen, auf dass kein Widerstreit bestehe zwischen Körper- und Geisteswelt.

Ich war immer besonders glücklich, wenn ich krank war. Vielleicht, weil mir der Schlaf als natürliche Versenkung in den Naturprozess als selteneres Geschenk zuteil wird, als den meisten, und ich so anderer Gleichgewichtsverschiebung bedarf, um der Erde zu geben, was der Erde ist, und von ihr zu nehmen, was sie geben kann. Doch nie, vor jenem argentinischen Erlebnis, kannte ich Todessehnsucht anders denn als Wunsch, die Melodie, die ich nicht weiterspielen wollte, zu unterbrechen. Ich erinnere mich noch, als ob es heute wäre, wie tief mich mit zwanzig Jahren der von Richard Wagner so herrlich verstehend vertonte Sehnsuchtsschrei des Wotan nach dem Ende ergriff; nie mehr seither verstummte er als Unterton meines Bewusstseins. Da ich in Argentinien krank war, und immerdar seither, erlebe ich äußerlich Gleiches in einem völlig anderen Sinn. Ich spüre jetzt jeden Augenblick das Streben des Urlebens in mir nach dem absoluten Ende. Doch das hat mit meinem geistigen Schicksal nichts zu tun. Es unterbricht es nicht. Es erfüllt es. Wieder Erde zu werden, ist die Erfüllung meines Erd-Teils. Seitdem dieser in mein Bewusstsein hineinwuchs, ist es nicht mehr Wotans Düsternis, die ich zuunterst spüre, sondern die Stimmung, aus der Bach seine Beschwörung Komm, süßer Tod erschuf. Und seitdem begreife ich den Sinn aller großen Choräle. Es gibt ja triumphierende Kirchenmusik. Doch die ist eitel Dichtung und kann nur exaltieren, nie erbauen. Alle echten Choräle sind Beerdigungsgesänge. Daher ihr tiefes Moll. Sie lassen im Menschen das anklingen, was das irdische Ende will. Und eben dadurch beglücken und befreien sie.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
VI. Tod
© 1998- Schule des Rades
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