Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

VII. Gana

Zusammenhanglosigkeit und Inkonsequenz

In Argentinien tritt die Gana-Welt eindrucksvoller als irgendwo sonst in Erscheinung, weil deren wesentliche Passivität mit äußerlicher Fortschrittlichkeit, intellektueller Behendigkeit und großer Feinfühligkeit zusammengeht. Dieses Volk lebt ein Ur-Leben und erscheint doch durchaus modern. Um das zu verstehen, bedenke man, dass Kollektivleben auf jeder Zivilisationsstufe neu beginnen kann, genau wie alles Sonderleben von vorne anfängt, so dass Archaismus oder Primordialität an historisches Alter keineswegs gebunden ist. Das Urtümliche dieses Lebens erweist sich an seiner passiven Artung. Die wesentliche Passivität und Inertie nun ist in Südamerika so groß, dass man das dortige Leben füglich nur ein Gelebt-Werden, kein aktives Leben heißen darf. Alles, was nach Aktivität aussieht, entspringt der Oberfläche, und dies ist der Grund, warum die Südamerikaner allgemein für oberflächlich gelten. Als Substanzen sind sie gar nicht oberflächlich, doch ihre Substanz ist stumm; auch bekennen sie sich ungern zu ihrer wahren Art und äffen lieber fremdes Leben nach. Die ihr Leben erleidende Frau ist typischerweise tiefer, als der in äußerem Tun alles innere Berührtsein abreagierende Mann. Hier liegt die Erklärung dessen, dass alle frühesten großen Welterlebnisse in pathischen Zeiten stattfanden: im Anfang war nicht der Mann, sondern das Weib. Man beruhige sich auch ja nicht mit der Feststellung, es handle sich hier einfach um primitive Psychologie. Erstens handelt es sich bei dem, was ich im Auge habe, um anderes, als um das was letzten Begriff betrifft — die heutigen Wilden oder Naturvölker sind spezialisierte, unbegabte und vielleicht zu höherer Entwicklung unfähige Vertreter des Gana-Lebens —; zweitens ist dieses Primitive der Untergrund alles, auch des durchgeistigtesten Daseins. Ähnlich wie heute die Südamerikaner, waren einmal die Vorfahren sämtlicher Kulturvölker. Sie alle begannen blind. Das mythologische Stadium ist schon ein spätes. Und wer überhaupt vital, wer als Rasse noch nicht am Ende ist, muss, gänzlich unabhängig von seiner Durchgeistigung und Kulturhöhe, in irgendeiner Schicht primitiv sein und bleiben. Daher die sogenannte Kindlichkeit des Genius. Insofern nun die Südamerikaner erdnah und ihre Gana-Kräfte nicht verdrängt, geschwächt oder entartet sind, haben sie mehr irdische Zukunft, als alle entwurzelten und die Erde als bloßen Rohstoff ausbeutenden Völker, so hoch diese geistig ständen. Sie sind denn auch, im Gegensatz zu den Nordamerikanern, durch und durch vital, überschwenglich potent und kinderreich und reichsten Empfindungslebens. Das Ungeordnete ihrer Zustände indes entspricht den vitalen Anfängen aller Völker. Das Gana-Leben ist in seiner äußeren Erscheinung unstetig und unzusammenhängend; in jedem Einzelfall tritt es als qualitativ besondere und hermetisch abgeschlossene Melodie in die Erscheinung. Dank dem beginnt alles frühe Menschendasein nicht in Form großer, sondern kleiner Gemeinschaften, die einander gegenseitig ablehnen; der Partikularismus war die Wiege aller Imperien. Insofern das Gana-Leben passiv ist, ist es ferner statisch und deshalb zäh und fest in der Gesamtwirklichkeit verankert. Nichts leichter, als ein vom Geiste durchorganisiertes Reich wie das deutsche zu schlagen; ward Deutschland nicht zerschlagen, so lag das an den Gana-Kräften seiner verschiedenen Stämme, die auf der heutigen Stufe aus gleichem inneren Drang am Bismarckschen Reiche festhielten, wie das moderne Frankreich, das erst vor 200 Jahren viele unvereinbare Stämme gewaltsam vereinigte, an der France une et indivisible — das aber die Elsässer ebensowenig assimilieren dürfte wie die Syrier und Tonkinesen. Je blinder ein Leben, desto nachtwandlerisch sicherer ist sein Verlauf; desto näher kommt es der Vollkommenheit innerorganischer Prozesse. Ist Gana-Leben als solches stark genug, dann vermag keine Geschichte ihr das geringste anzuhaben. Blind, ist es zugleich zeitlos. Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende lang unterdrückt, fordert es, ewig jung, beim ersten günstigen Augenblick sein Recht.

Und diesen Augenblick erfasst es sicherer als jeder nicht geniale Geist, in welchem Gana- und Geistleben zu höherer Synthese verschmolzen. Denn das unterste Leben ist allen Erdprozessen so genau und allseitig eingefügt, dass es sich selten anders verhält, als was man zweckmäßig oder zielstrebig heißt. Nur ist das Wesentliche dabei, dass diese Gerichtetheit keinerlei Vorstellung voraussetzt. Die Blindheit der Gana bedeutet vom Standpunkt ihrer Leistung kein größeres Wunder, als die Blindheit des Radiums. Wahrscheinlich rührt das herrschende Missverständnis vom fortwirkenden Vorurteil des Primitiven her, dass Tod unnatürlich sei. Aber gerade das Ende, welches der Tod darstellt, gegenüber dem sonst geltenden Gesetz der Erhaltung der Energie, kennzeichnet das Lebendige gegenüber dem Leblosen. Im Zusammenhang verstandenen Gana-Lebens sind die sogenannten Lebens- und Todestriebe ohne weiteres richtig zu situieren. Zutiefst will der Mensch jeden Augenblick zugleich leben und sterben, denn jeden Augenblick stirbt irgend etwas in ihm, während anderes geboren wird. Was das Leben nun eigentlich will ist weder Leben noch Tod, sondern seine bestimmte Identität; dieser Wille setzt bald mehr das, was wir Leben, bald wiederum mehr das, was wir Tod heißen. Er setzt das absolute Ende, wenn eine Melodie ausgespielt ist. Über das Ausleben des Gana-Lebens selbst hinaus fehlt jedes Ziel. Deswegen ist auch der Begriff des blinden Willens verfehlt. Zu verstehen ist dieses alles letztlich nicht, weil Verstehen vom Geist ausgeht, der Kontinuität schafft und fordert, während das Gana-Leben unstetig ist. Vielleicht hilft die Anerkennung der Ergebnisse der jüngsten Physik, wonach das Weltall endlich ist und sich im großen und ganzen wie eine Seifenblase gebärdet, mittelbar dazu, dass auch das Unverständliche der lebendigen Wirklichkeit akzeptiert werde und man von zwar verstandesgemäßen jedoch naturwidrigen Deutungen lasse. Inzwischen nützt vielleicht die folgende Überlegung zur Bescheidung. Wahrscheinlich lässt sich beweisen, dass die Weitsichtigen und Phantasievollen die gefährdetesten aller Wesen sind, denn ihnen entgehen die nächstliegenden Zusammenhänge, von denen ihr Leben an erster Stelle abhängt. Jahrhundertelang gedeihen wilde Stämme unter schwersten Verhältnissen, während das Genie typischerweise hungert.

Schauen wir nun alle unsere Überlegungen zusammen, so befremdet uns die Möglichkeit eines modernen und zugleich wesentlich blinden Lebens, wie es uns in Südamerika entgegentritt, nicht mehr. Keine Voraussicht, keine Initiative; so geringe Einbildungskraft, dass der Zufall wie zur Zeit der frühesten Moira waltet; vollendete Zusammenhanglosigkeit und Inkonsequenz. Und doch fließt das Leben im großen und ganzen befriedigend dahin. Der Akzent ruht eben nicht auf dem Unzulänglichen, sondern auf den besonderen Tugenden der Gana. Wohl wenige Südamerikaner nehmen ihr Tun ganz ernst, denn letztlich ist doch aller Erfolg Geschick oder Zufall. Und sie haben in ihrem Falle recht mit dieser Resignation auf der Ebene geistiger Initiative: von innen heraus wirkt ein Zwang, welcher das Leben Gana-gerecht zusammenhält. Und gegenüber diesem Zwang, welcher fast immer instinktsicher waltet, ist das südamerikanische Bewusstsein hellhöriger als das europäische. Das Merk- und Urteilsvermögen des Körpers übertrifft in seiner Sphäre das des allergrößten Geists. Seine Empfindlichkeit ist die eines Präzisionsinstruments. Ein Gana-zentriertes Leben hat an vielen Vorzügen des Körperlichen teil. Andererseits aber macht absolute Hingabe des Bewusstseins an die Gana das Leben oft nicht allein zu einem einzigen Erleiden, sondern leicht auch zu einer dauernden Krankheit. Folgerichtig wird Krankheit grenzenlos ernst genommen. In Buenos Aires wird sie damit zu einem Mittel sozialen Aufstiegs. Dadurch, dass die großen Zeitungen eine besondere, sehr aufmerksam und teilnahmsvoll verfolgte Rubrik Enfermos führen, genügen vier oder fünf angezeigte Grippen, um bekannt zu werden, und damit den Weg in die erste Gesellschaft zu finden.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
VII. Gana
© 1998- Schule des Rades
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