Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

IX. Die emotionale Ordnung

Nächstenliebe

Wie steht es unter diesen Umständen mit dem Fortschritt über den heutigen Zustand des Westens hinaus? Sein Problem liegt ohne jeden Zweifel in einer anderen Dimension als der aller nur möglichen gangbaren Fortschritts- und Gemeinschaftsideologie. Diese geht überall von rationalen wenn nicht Forderungen, so doch Voraussetzungen und damit Zielsetzungen aus. Gerade diese aber kommen bei der Wiedergeburt der Seele, welche allerorts als Lösung und Erlösung gefordert wird, gar nicht in Frage. Das Problem liegt äußerlich undeutlich, weil alle oder beinahe alle, die es stellen, im Rahmen christlicher Kategorien denken oder wenigstens reden, und unbewusst annehmen, die moderne Krisis der Menschlichkeit läge noch im ideellen Raum des christlichen Kosmos. So wähnen sie, das Gemeinschaftsproblem sei dort, wo es gestellt wird, von der christlichen Nächstenliebe her zu lösen. Aber gerade diesen Nächsten gibt es nicht mehr. Dessen Begriff stellte einen wunderbar klaren Ausdruck rein gefühlsmäßigen Verhaltens und Wertens dar. Deswegen redete Jesus nie vom Fernsten, denn Gefühle wirken nicht in die Ferne; deshalb meinte er nie die Menschheit, sondern seine Jünger, seinen Kreis, sonach seine Freundschaft. Deshalb war er alles eher als Philanthrop und ebenso hart wie weich, ebenso kalt wie warm. Was heute als Nächster missverstanden wird, ist ein ganz anderes: der unentrinnbare Mitmensch, d. h. die dank der Überwindung von Raum und Zeit durch die Technik jeden unmittelbar umgebende und unentrinnbar bedrängende menschliche Umwelt, eine übermächtige Masse von Millionen von ins intimste Privatleben eingreifenden Unbekannten. Diese Umwelt trägt keinen anderen Charakter als die tote Umwelt. Dieser gegenüber ist positives gefühlsmäßiges Verhalten ausgeschlossen. Ja sie muss jeder nicht Gefühlsstumpfe direkt als widerwärtig und odiös empfinden, insofern jeder in bezug auf ebenso viele andere, als ihn bedrängend umgeben, nicht Nächster, sondern unentrinnbarer Mitmensch ist, was allseitige Reibung und allseitiges sich Stören bedingt. Diese eine Erwägung genügt zur Erklärung der auf nie dagewesene Weise vergifteten Welt-Atmosphäre.

Nichts verständlicher, als dass unter diesen Umständen in gleichsinnig nie dagewesener Inbrunst der Schrei nach neuer Gemeinschaft ertönt. Aber die wird durch keine Rationalisierung, keine Kollektivierung, keine soziale Fürsorge, keinen Wohlfahrtsstaat, erst recht keine Ausrottung des Individualismus durch kommunistische Gesinnung, sie wird auch durch keine Wiedererweckung des christlichen Kosmos gelingen, denn Restaurationen großen Stiles gibt es nicht in einer Welt, deren Motto Einmal und nicht wieder ist. Neue Gemeinschaft kann einzig und allein durch die Apokatastasis der Gefühlssphäre als solcher, der in der Gana wurzelnden, von der Empfindung gespeisten emotionalen Ordnung zustandekommen. Und deren Problem stellt sich unabhängig von aller Technik, aller Masse, kurz alledem, was das Fortschrittszeitalter geschaffen und herausgestellt hat.

Selbstverständlich ist auf der einmal beschrittenen Bahn noch viel zu tun; so ist die ökonomische Krise nur aus intellektueller Einsicht heraus mittels sachlicher Organisation zu überwinden. Überhaupt können Verstand und Tüchtigkeit eine völlig neue Grundlage schaffen für das menschliche Lebensproblem — die Grundlage, welche dem geologischen Zeitalter des Menschen1 entspricht. Doch das eigentlich menschliche Problem stellt sich reiner denn je in seiner gleichzeitig ursprünglichen, urtümlichen und ewigen Form, denn nie war das Menschengeschlecht auch nur annähernd gleich entmenscht. Es gilt auf der Basis und im Rahmen des von der Vernunft begründeten höheren neuen Zustands eine neue Welt der Seelen-Bestimmtheit aufzubauen. Die wird eine Welt nicht der angeblichen Menschheits-, sondern der echten Nächstenliebe sein. Engste Beziehungen, kleinste Kreise werden entscheiden. Ein Vorbild dessen, was für uns Aufgabe ist, gibt es in der Vergangenheit: Alt-China hat es verkörpert. Dort gab es schon vor Jahrtausenden viel zu viele Menschen. Dort lag schon damals nahe, alle soziale Struktur auf den unentrinnbaren Mitmenschen und nicht den Nächsten zu gründen. Doch die Integralität des chinesischen Menschen, welcher ursprünglich ein Empfindungswesen war, wies ihn einen glücklichen Mittelweg. Gerade innerhalb einer für frühe Zeiten beispiellosen Massenhaftigkeit und Organisiertheit wurde aller Nachdruck auf die Gefühle zum Nächsten gelegt. Die konfuzianische Lebensphilosophie wurzelt ganz und gar in der Beziehung von Mensch zu Mensch, in Liebe, Freundschaft, Loyalität; im Höchstfall auf Ehrfurcht. Deswegen ist China nie untergegangen. Deswegen wird es auch diese Krisis, so lange sie währen mag, ungealtert überstehen. Denn der Jungbrunnen des Menschen ist seine Gefühlssphäre, sein Reich der Seele.

1 Diesen Gedankengang habe ich im Kapitel Das Tierideal von Amerika ausgeführt und verweise hier deshalb darauf.
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
IX. Die emotionale Ordnung
© 1998- Schule des Rades
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