Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

X. Die Traurigkeit der Kreatur

Selbstbespiegelung

Die alten Tierfabeln, und unter diesen die Schöpfungsmythen, geben wahrhaftigeren Aufschluss über frühe Zuständlichkeit, als ausdrücklich Menschen betreffende Überlieferung. Dies liegt daran, dass sich die primitive Seele fast ganz in Projektionen auslebt. C. G. Jung, welcher diesen Zusammenhang bisher am tiefsten durchforscht hat, gibt geradezu die Möglichkeit zu, dass die sogenannte Buschseele vor der im Menschen wohnenden Einzelseele real da sei.1 So sagen die uralten Vorstellungen von der Traurigkeit der Kreatur und von der Sehnsucht der Schöpfung nach ihrem Schöpfer über Tiere und Pflanzen und auch die ersten Menschen vermutlich wenig aus. Desto bezeichnender sind sie für die Dämmerung des Geistbewusstseins. Angst ist das Ur-Erleben alles Lebendigen; sie ist blind und deswegen problemlos; sie ist einfach da. Sie gehört der Gana-Ebene an und ist darum ein ebenso wenig Kontinuierliches wie der Schmerz, der mit dem Aufhören erledigt ist. Die Traurigkeit nun ist ein Gefühl, und schon deshalb verschwimmender, verschwebender und damit dauernder. Doch sie ist kein Gefühl, das aus sich selbst heraus bestände — sie ist undenkbar ohne geistige Komponente. Ihr Dasein setzt Erinnerung und Vorschau und damit Bild-Erleben voraus, sei dieses noch so dumpf, zugleich die Ahnung, dass die Dinge anders sein könnten, als sie sind. Der Inhalt des Traurigkeitsbegriffs bedarf zu seiner erschöpfenden Bestimmung zum mindesten vierer Coordinaten, welche die deutsche Sprache schlecht unterscheidet, doch welche die französichen Worte douleur, regret, appréhension und nostalgie leidlich genau wiedergeben. Diese Traurigkeit ist die Grundstimmung aller seelisch begabten, doch geistig primitiven Menschen.

Dass dem so sein muss, leuchtet von der Liebe her, diesem ewig Primordialen, ohne weiteres ein. Plato hieß Eros den Sohn des Reichtums und der Armut. Für unsere Zwecke genügt die folgende noch so vergröbernde und verdürftigende Begriffsdeutung des schönen Bildes: es gibt nur unglückliche Liebe. Denn die Sehnsucht ist ihr Element; sie besteht durch alle Erfüllung hindurch fort. Deswegen kann es wirkliche Erfüllung des Liebesanspruchs niemals geben. Auf der Gana-Ebene ist vollkommene Erfüllung freilich möglich; sie stellt sich jedesmal ein, wo eine Gana-Melodie unbehindert ausklingen konnte; von der Gana her erlebt, bedeutet sogar der natürliche Tod nicht nur Befriedung, sondern Befriedigung. Doch sobald Seele bestimmt, ist keine ausschließliche Gana-Melodie mehr letzte Instanz, denn schon dem einfachsten Gefühl ist eine Vielheit ihrer Material. Und sobald noch so dumpfes Geistbewusstsein mitspielt, wird der Widerspruch zwischen der Kontinuitätsforderung des Geists und der Endlichkeit und Sterblichkeit des Ganamäßigen zum Grunderlebnis. Diesen Widerspruch überwindet zu solcher Souveränität erwachsene Geistigkeit, dass Wert- und Sinn-Motive bestimmen, so dass das Werden und Vergehen des Erdentsprossenen für das Bewusstsein seine letztinstanzliche Bedeutung verliert. Dementsprechend ist die Stimmung ausschließlich vom Geist Beherrschter reine Freudigkeit, und sei ihr Leben Tortur. Vom Erd-Erleben her geurteilt, liegt grausamste Ironie der indischen Lehre zugrunde, dass im Höchstzustand Sein, Wissen und Glück (sat, chit, ānanda) zusammenfallen, denn das Dasein ist Leiden, und Wissen zerstört alle Illusion. Und dennoch spricht sie wahr, denn Geist an sich wird weder durch irdische Leid-Motive berührt, noch kann er Ent-Täuschung kennen, da er ja die Wahrheit ist. Aber als Grundstimmung ist Freudigkeit andererseits nur dem Durchgeistigten möglicher Zustand. Wem immer Nicht-Geistiges letzte Instanz, und wer doch schon geistbewusst ist, der muss bei jeder Zusammenschau erleben, dass das Leben aus lauter Toden besteht. Und daraus ergibt sich als Ur-Stimmung jedes frühen Menschen, dessen Seele genügend entwickelt ist, um tief zu erleben, Trauer im ewig wahren Ur-Sinn der Trauer um geliebte Verstorbene. Und diese Traurigkeit wächst proportional der Aufhellung des Bewusstseins. Schon allerprimitivste Reflexion fordert Zusammenhang, Überschau, Dauer und Sinn, und dieser Forderung widerspricht die Wirklichkeit des Gana-Lebens absolut. Dessen schlechthin Bindendes widerstreitet dem ahnenden Bewusstsein möglicher Freiheit. Das Leben könnte und sollte anders sein, als es ist. So wie es ist, ist es Leiden.

Was der Buddha zuerst scharf und klar definierte, bestimmt als Grundstimmung alle Ur-Überlieferung. Was anderes war Grundmotiv aller frühen Kosmogonie, aller frühesten Liebesgedichte und Totenklagen, als eben der Widerstreit zwischen Geistforderung und Gana? Woher sonst der allgegenwärtige Mythos vom verlorenen Paradies? Gerade die älteste Überlieferung atmet am ausgesprochensten die Stimmung der Traurigkeit, weil das Vergänglichkeits­bewusstsein desto stärker und tiefer ist, je weniger der erklärende und versprechende Gedanke erlebnismäßig bedeutet. Daher die Düsternis der frühesten Götter. Auch sie waren vergänglich, waren diesseits der Schöpfung entstanden, wie der indische Mythos so bedeutsam sagt, und bei ihrem sonstigen Freiheitsbewusstsein lastete dies Schicksal auf ihnen doppelt schwer. Aus dem gleichen Grunde des Widerstreits zwischen Geist und Gana bedeutet die Jugend das schwermütige Alter. Dumpf empfindet sie ihr gegenwärtiges Dasein als sinnlos, denn das Geistige in ihr hat nicht die Macht, die ihr Idealismus fordert. Und dieser wiederum ist ohne eigentlichen Gegenstand; letztgültige Ziele fehlen ihr. Von ihren Trieben fühlt sich die Jugend mehr überwältigt als getragen. Daher ihre Sucht, sich auszutoben: viel häufiger bedeutet diese Abtötungswillen, als ausgelassene Fröhlichkeit. Aus der gleichen Ur-Traurigkeit heraus geht Jugend so leicht in den Tod. Ihr Glück steht und fällt mit der Ausgefülltheit des Bewusstseins durch animalische Triebkräfte, diese aber setzt aus, die Fülle wechselt mit Leere ab und deshalb die Euphorie mit Depression. So ist die Grundstimmung der Jugend vorgeschrittenster Nationen in ähnlichem Sinne traurig, wie es die Grundstimmung aller Primitiven ist. Die Ur-Tonart menschlichen Erlebens ist nicht eine in Dur, sondern in Moll.

In verklärendes Bildbewusstsein eingebildet, lebt diese Stimmung in der ältesten Poesie der Griechen fort. Doch die Verklärung fälscht das Ur-Erlebnis. Dieses steht an der Grenzscheide zwischen Tag und Nacht, und seine Schau ist undeutlich, wie die eines halb Erwachten, halb Geblendeten. Auf dem Gana-Kontinent Südamerika nun herrscht die Ur-Traurigkeit vollkommen unverfälscht. Und dank der in Raum und Zeit wahrscheinlich einzigartigen Konstellation, dass seine Bewohner zugleich primitiv und individualisiert, zugleich sensibel und blind, zugleich für Geist empfänglich und primordial passiv, zugleich emotional zentriert und geistig behende sind, tritt dort die Ur-Traurigkeit mit unheimlicher Deutlichkeit in die Erscheinung. Die argentinische tristeza zumal ist von so elementarer, ja massiver Mächtigkeit, dass sie den empfänglichen Neuankömmling also bald erobert; ich weiß von vielen, die sich zuerst ganze Wochen entlang mit Selbstmordgedanken trugen. Die Passivität und der Mangel an Einbildungskraft der Argentinier zusammen erhalten die tief erlebte Ur-Traurigkeit in einem dauernden Schwebezustand. Diesen Menschen ist nicht gegeben, sich im Kollektiv-Erleben zu erlösen, in Ritus und Zeremonie, so wie dies plastisch begabte Primitive tun. Sie können Angst und Leid auch nicht im Bilde abreagieren, wie es die Griechen in der Tragödie taten und die Christen unseres Mittelalters im Nacherleben der Passion. Ihnen fehlt die geistige Initiative, deren es bedarf, um eine Ebene oberhalb der Traurigkeit zu erklimmen — und doch wissen sie um deren Möglichkeit. Dies ergibt denn eine Grundsituation, wie sie im europäischen und nordamerikanischen Leben die Frau mit hypertrophischem Ich-Bewusstsein kennzeichnet — und deshalb begann ich diese Meditation mit einer Betrachtung ihrer; von ihrer Unseligkeit her ist der Weg zum Verständnis der Ur-Traurigkeit am kürzesten.

Nur erscheint die grundsätzlich gleiche Situation in Südamerika ungeheuer verschärft. Alles bedeutsame Leben und Erleben drüben ist ja passiver Artung, und die Delicadeza-Zentriertheit bedingt ihrerseits Steigerung und Übersteigerung des Leid-Erlebens. Der Mensch ist so organisiert, dass Aufmerksamkeit das, worauf sie sich heftet, belebt und zum Wachsen bringt. So bewirkt Akzentlegung auf die Verletzbarkeit deren Wachstum. Und da es nichts gibt, was, auf bestimmte Weise angesehen, nicht verletzen könnte, so verwandelt sich dem südamerikanisch Eingestellten das ganze Weltall auf die Dauer in ein einziges Knäuel des Verletzenden und des Gefährdenden. Und proportional der Leidensbereitschaft erfährt das Ich wachsende Ausweitung. Im Extremfall mündet diese in eine richtige Inflation ein. Und dieses hypertrophische Ich ist in sich gekehrt und ausschließlich selbstbeachtend. Die ursprünglich ausgestülpte Umwelt des Menschen erscheint von solchem Ich her wie eingestülpt. Aus der Schau südamerikanischen Menschentums erwuchs mir das Urbild der Urmutter der Eitelkeit. Eines Tages vermählte sich die Ur-Angst mit der Ur-Empfindlichkeit, und wie die Stunde gekommen war, da ward als Frucht das absolut schöne Weib in die Welt hineingeboren. Doch dieses Weib war unfähig, sich deren Rhythmus hinzugeben. Vom ersten Augenblicke an verlangte es, dass sich das Weltall seinen Wünschen füge. Und da das Weltall ablehnte, so lehnte das Weib sich auf. Es konnte sich nicht durch Schalenbildung sichern, auch nicht durch Durchlässigkeit. So erfand es die Rüstung der Selbstbespiegelung.

Keine Rüstung schließt hermetischer ab. In ihrer Isolierung erwuchs zuerst das abgeschiedene Ich. Dieses Ich war nicht das Selbst, dieses letzt-Persönliche und -Subjektive, auf welches das Selbstbewusstsein sich in letzter Instanz bezieht, und deren Einbildung in alle psychische Gestaltung zur Integration des Gesamtmenschen führt. Es war auch nicht das Ich des modernen Egoisten. Den gibt es auf früher Daseinsstufe nicht; dessen besonderes Ich kann sich erst ausbilden, wenn Macht- und Lusttriebe vom Geiste aktiviert werden; es setzt Initiative des Subjekts voraus; so kommt es, dass es unter Ich-versenktesten Südamerikanern kaum Egoisten gibt. An der Stelle des Egoismus steht in Südamerika ensimismamiento, für welche unter modernen Sprachen charakter­istischer­weise allein die spanische das entsprechende Wort besitzt; ensimismamiento bedeutet wörtlich in-sich-Selbst-heit. Das primäre abgeschiedene Ich ist eine Sondergestaltung, in welcher das schlechthin Ungeistige, das ausschließlich Gana-Mäßige seine äußerste Übersteigerung erfährt. Ihm fehlt jede Freiheit; sein Wesen ist Trägheit im Verstand der physischen Schwerkraft. Es ist abgeschlossen, ohne Horizont; es ist undisziplinierbar, unverwandelbar. Genau besehen, ist es überhaupt nicht im eigentlichen Sinn Subjekt: es ist ein Ich, in dem sich das Subjekt verfängt. Es ist höchst merkwürdig, aber es ist so, dass Geistbewusstsein zu aller erst zu neuer und für das Bewusstsein stärkerer Fesselung führt, als sie die noch so fest gefügte Gana und emotionale Ordnung schaffen. Das keimhaft ins Leben getretene aktive Ich kapselt sich zunächst ein in ein Organ, zu dem die passivsten Eigenschaften der Gana das Material liefern. Durch Absperrung entstanden, ist es unfähig, sich zu Öffnen. So gibt es aus ihm, solang es bleibt, was es ist, keinen Weg hinaus. Wir hießen dieses Ich das Kind der Eitelkeit. Herrlich tief gibt die Sprache den Ur-Sinn dieser Eigenschaft wieder, sie, welcher eitel selbstbespiegelnd und umsonst zugleich bedeutet. Aber gleiches meint auch der Mythos vom Sündenfall. Wo der Geist das Ich durchdringt und seinem Gesetz unterwirft, da wird es zum Organ der Welt-Offenheit, ähnlich dem Auge, das ja als Körper auch ein Abgeschlossenes ist. Aber zuerst reichte das Licht des Geistes nur zur Selbstbespiegelung und damit zur Steigerung der Sonderart des Ungeists aus. So wurde das unschuldig Böse der Unterwelt zum schuldig Bösen. So führte Ver-Ichung zunächst zu einer Verengung der ursprünglichen Natur. Denn diese schwingt im Gesamtrhythmus des Weltalls und kennt insofern keine Vereinzelung.

Erwacht der ver-ichte Mensch zum Bewusstsein dieses seines Zustands, dann muss unsägliche Traurigkeit ihn überfluten. Denn er fühlt sich nun auf die hoffnungsloseste aller nur denkbaren Weisen gefesselt und gefangen: Fesseln und Gefängnis sind Teile seiner selbst. So kann er nicht einmal mit seinem ganzen Wesen Befreiung wollen. Die Qual des Tantalos haben die Hellenen insofern ungenau geschildert, als Tantalos nicht allein nimmer erreichen konnte, was er ersehnte, sondern nicht einmal ganz ersehnen konnte, was er als Ziel seiner Sehnsucht vorstellte. Dieses passive und hermetisch abgeschlossene Ich, in welchem der Mensch sich unentrinnbar verfängt, ist das Urbild der Hölle. Die Hölle war lange vor möglicher Selbstsucht da. Sie stellt ein besonderes Organ dar, welches vergehen muss, auf dass der Mensch zur Selbstbestimmtheit fähig werde. Was Hölle bedeutet, ermisst jeder am leichtesten an einem Leben, welches die Eifersucht zur Achse hat. Eifersucht hat und kennt jeder. Für sich ist jeder Mensch, gleich Jahveh, ein eifriger Gott, welcher Alleingeltung beansprucht, und jede Unterwelt beherbergt Dämonen, welche vernichten wollen, was ihnen nicht gehört; noch traf ich keinen guten und wohlwollenden Menschen, welcher nicht, an dem verschwiegenen Orte berührt, wo er sich selbst letztlich ernstnimmt, ein Moloch war. Doch wer seine Eifersucht überdies bewusst bejaht und betont, wer alles in ihrer Stimmung erlebt und von ihr her beurteilt, muss jeden Augenblick Schauerliches erleiden. Denn es gibt nichts, was die Eifersucht auslöschen, und es gibt auch nichts, was ihr nicht Nahrung geben könnte, denn nichts gehört einem Menschen allein im absoluten Sinn. — Was von der Eifersucht gilt, gilt grundsätzlich von allem Leben im Seelenraum des bejahten und betonten passiven Ich, denn jedes Leben dieser Art ist vereinzelt und außerstande, durch sich-Öffnen Beglückung und Erlösung zu erleben. Solches Leben ist ein Kreisen innerhalb von Kreisen ohne Ausgang. So stellte Dante die Hölle wahrhaftig dar. Es ist die letzt-verhaftende Haft. Es ist Einzelhaft ohne Hoffnung auf Begnadigung. Die Argentinierin Victoria Ocampo hat in ihrem Buch De Francesca à Beatrice2 das Gefangensein von blinder Leidenschaft im Kreis der Hölle an Paolo und Francesca folgendermaßen geschildert:

Francesca und Paolo gehen zusammen, doch wohin? Nirgendwohin! Sie drehen sich nur im Kreise. Francesca und Paolo sind zusammen, aber wie? In Orkan und Finsternis gehüllt. Geblendet durch die Dunkelheit der Luft, taub geworden durch das Heulen des Windes können sie sich weder sehen noch miteinander reden. Sie gehen daher, eng aneinander gepreßt, und doch einer für den andern blind und taub. Einzelhäftlinge des Sturmes und der Nacht. Gefangene ihres eigenen Sturmes und ihrer eigenen Nacht. Und eben das, was sie gegeneinander preßt, trennt sie voneinander. Es sind irrende Wanderer ihrer Liebe, sie bewohnen ihre Liebe nicht. Sklaven des Wirbels, der sie mit sich fortrafft, immerdar von ihm im Kreise gejagt, aus dem es keinen Ausgang gibt, drehen sie sich im Raume ihrer Leidenschaft, ohne je halten, ohne je einander genießen zu können… Meinen wir anfangs, dass sie, zusammen in die Hölle gebannt, keine entsetzliche Qual erleiden sollten, so beweist das nur, dass Meditation unsere Gedanken noch nicht gereift hat. Da ahnen wir nicht einmal, dass Wesen, welche solches Los erleiden, wo immer sie sich befinden, nie miteinander vereint, sondern eines an das andere gekreuzigt sind.

Es ist dies eine der lebenswahrsten Schilderungen der Verfallenheit an die blinde Gana, von denen ich weiß. Ist solche Verfallenheit, vom geistbewussten Menschen her beurteilt, schon als Liebe Hölle, so ist vollkommene Verfallenheit an den Teil des persönlichen Wesens, welcher keine Freiheit kennt, aus dem es keinen Weg hinaus gibt, falls kein für sich beglückendes Gefühl die Seele füllt, der Hölle unterster Zirkel. Wie mir dies deutlich ward, da ging mir die ganze Großartigkeit und zugleich die tiefe Wahrhaftigkeit des Bildes vom schönsten und freiesten der Engel auf, der in die Hölle stürzte: er fiel, er musste fallen, weil er sich freien Willens in dem verfing, was keine Freiheit kennt. Das ist des Menschen eigene Unterwelt. Wem solch’ Geschick beim geringsten Hauch von Geistbewusstsein widerfährt, muss unselig sein, so wie Verdammte unselig sind. Und dann begriff ich auch, warum Christus Tötung des Ich als Bedingung des Heiles predigte. Nie dachte dieser Einzigkeitsbewussteste aller Menschen daran, Persönlichkeit zu bekämpfen. Aber er war offenbar von Menschen ähnlicher Artung umgeben, wie es heute die Südamerikaner sind. Auch in der damaligen Kolonialwelt des Okzidents herrschte offenbar eine Inflation des Ich in seiner passiven Modalität. Und dieses rudimentäre Organ muss freilich zu sein aufhören und in Höherem aufgehen, auf dass der Mensch den Weg zur Freiheit antreten könne.

Seitdem ich die Urtraurigkeit in Südamerika geschaut, klingt sie auch in mir an, so oft ich mein Bewusstsein in die unterste Tiefe meiner Natur hinabsenke. Aus der Höhle des Zusammenhanglosen, des Sinnlosen und Verhaftenden muss der Mensch, sobald er nur dunkel ahnt, dass es Zusammenhang und Sinn und Freiheit geben kann, nach Erlösung schmachten. Und je mehr sich die Dämmerung des Geists dem Tage nähert, doch ohne dass es Tag werden könnte, desto unseliger muss er sich fühlen. Erwacht nun aber die Ahnung möglicher Selbstbestimmtheit in ihm, dann muss er sich schuldig fühlen: er hätte es besser machen sollen, so wenig er wisse, wie. Dieses Schuldgefühl bedeutet die Spiegelung der Ur-Angst im Zwielicht der Geistesdämmerung. Und aus diesem Schuldgefühl und der Sehnsucht nach Befreiung aus letzter Ohnmacht erwächst das Bild eines möglichen Erlösers. Die ursprünglich schwebende Traurigkeit nimmt Richtung an als ein Seufzen der Kreatur nach ihrem Schöpfer. Dem Bewusstsein, dass ein Leben, welches Erleiden ist, aus eigener Kraft keine Fessel sprengen kann, entringt sich das Gebet veni creator spiritus. Und so drängt es den Menschen als Erstes nicht zur Selbstbestimmung, sondern zum Bestimmtwerden durch ein Außer-Sich. Daher der Urdrang zum Gehorchen-Dürfen. Wer nicht oder noch nicht zu aktiver Selbstbestimmung fähig ist, für den gibt es nur die eine positive Lösung der Lebensgleichung: dass er sich von außen her von Geist beherrschen lässt. So wollen Kinder folgen. So wollen naturnahe Frauen vom Manne ihr Gesetz empfangen. So müssen Unmündige um ihres eigenen Glückes willen von Vorgesetzten diszipliniert werden. So beseligt es alle, deren persönliches Selbst nicht so tief verwurzelter Geist beherrscht, dass sie auch ihre geistige Sehnsucht erfüllen können, indem sie persönlichem Gesetze folgen, an vorgegebenes Dogma blind glauben zu dürfen. Mögliche Selbstbestimmung beginnt mit dem guten Willen, welcher sich selbst als letzte Instanz erlebt. Wirkliche Selbstbestimmung mit bewusst getragener Verantwortung. Daher deren entscheidende Bedeutung. Wir handelten vom objektiv Bösen der Unterwelt und vom Bösen als Naturfolge der Verletztheit oder der Inkompatibilität: alles dieses ist nicht im geistigen Verstande böse. Geistig Böses entsteht erst durch persönlich-geistige Entscheidung für des Bösen geistigen Sinn. Mit Recht steht und fällt für die Justiz die Frage der Schuld mit der Frage der Verantwortlichkeit.

1 Vgl. seinen Vortrag Der Archaische Mensch, den er 1930 auf der Jubiläumstagung der Schule der Weisheit zu Darmstadt hielt. Abgedruckt in Seelenprobleme der Gegenwart, Zürich 1931, Rascher & Co.
2 Im französischen Original 1926 in Paris, édition Bossard, 140 Boulevard St. Germain, erschienen; spanisch beim Verlag der Revista de Occidente, mit einem Nachwort von José Ortega y Gasset.
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
X. Die Traurigkeit der Kreatur
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