Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

X. Die Traurigkeit der Kreatur

Glauben

Der Mut an sich ist blind. Tritt nun noch so dumpfes Bildbewusstsein hinzu, dann entsteht Religion als Gefühl der Bindung an etwas, welches weder der Gana noch der Außenwelt zugehört und deshalb unheimlich ist; was Rudolf Otto numinosum und tremendum heißt, ist tatsächlich das religiöse Urerlebnis. Nur ist nicht die Furcht vor dem Unheimlichen das Primäre, sondern der Mut, der ihm ins Angesicht zu schauen wagt; erst die undeutliche Spiegelung jenes Unbekannten, welches das Wunder des Muts ermöglicht, gebiert Furcht. So sehr jede ausgestaltete Religion von Angstmotiven durchsetzt sei — ihrem eigentlichen Sinne widerstreiten diese durchaus. Dieser Sinn besteht im Zusammenhang von Gott- und Selbstbehauptung, welche beide im gleichen Sinn von aller empirischen Wahrheit unabhängig sind. Solcher Mut zur Behauptung eines empirisch Ungewissen oder Unbewiesenen ist nun das, was man Glauben heißt.

Aus dieser einen kurzen Erwägung leuchtet ein, warum die Religion von Anbeginn an ein Reich des Glaubens und nicht des Wissens war und warum alle Akzentverlegung auf ihren Erkenntnisinhalt sie zerstört. Der Glaube wie der Mut ist ein reines von-innen-heraus, er ist actus purus im Gegensatz zu jeglicher Form von Re-Aktion. Der Glaube wie der Mut beruht auf der Bejahung der Unsicherheit. Das meint Miguel de Unamuno, wenn er schreibt, dass wahrhaft lebendiger Glaube vom Zweifel lebe und diesen nicht überwinde. Der mögliche Zweifel gehört einer anderen Dimension an als der Glaube, und die bloße Erkenntnis dessen erledigt jede Gleichung zwischen Wissen und Glaube als Widersinn. Überwindet Mut nun die elementare Ur-Angst, so überwindet Glaube die Angst, welche aus Vorstellung entsteht. Und zwar überwindet sie der Glaube mit entgegengesetzten Mitteln als es die natürlichen der Ur-Angst sind: nicht durch Sekuritäts-Schaffung, sondern durch Betonung der Autonomie des Geists, der als nicht Gana-mäßig von keinem Motiv der Gana berührt wird. Man darf das Gegensatzverhältnis von Wissen und Glauben geradezu in den folgenden Satz überspitzen: Religion ist das Reich des Glaubens nicht um der geglaubten Wahrheit, sondern um des Glaubensaktes willen. Sinn und Wert religiösen Glaubens liegen überall und immer in der Qualität des Glaubenden. Insofern ist der primordiale völlig blinde Glaube, für den sich die Frage der Erkenntnis überhaupt nicht stellt, ein religiös viel Tieferes als aller noch so lebendige buchstabenfromme Glaube, denn in letzterem spielt das Sicherungsmotiv schon eine so große Rolle, dass das eigentliche Verdienst dabei verloren geht. Dieser primordiale blinde Glaube war von jeher und ist noch heute der besondere Glaube Spaniens, und darauf beruht dessen besondere spirituelle Tiefe. Wesentlich war Spaniens Glaube auch in seinen christlichen Zeiten ein Glaube an Nichts, ein Nadismus, wie ihn Miguel de Unamuno heißt. Doch es war ein desto stärkerer Glaube im Sinn des dass. Den echt religiösen Spanier beherrschte von jeher und beherrscht noch heute der reine innere Drang des Geists in solcher Kraft und Reinheit, und zugleich in solcher Unabhängigkeit von Ziel und Gegenstand, dass man sein Leben ein reines Ausströmen sich selber unbewusster Phantasie heißen mag. Der religiöse Spanier verkörpert das Urbild des metaphysischen Abenteurers. Lebendigster Geist wirkt durch ihn durch, doch so sehr fehlt seinem Träger jeder Sicherungsdrang, dass er kaum überhaupt die Frage der Wahrheit stellt. Denn auch seinem Bekenntnis zu bestimmtestem Dogma fehlte jedes wissenschaftliche Motiv. Von der Erkenntnis her beurteilt, war auch der gläubigste Spanier von jeher Skeptiker. Er behauptete einfach, und diese seine Behauptung zwang er der Welt auf.

Dass späteren Zeiten der Gegenstand des Glaubens als Wesentliches galt, beruht auf Missverstehen jenes Spiegelungsmechanismus, dank welchem der Mensch als ein scheinbar Vor-Gegebenes vorstellt, was ihn in Wahrheit von innen her treibt. Alle religiös begabten frühen Völker haben es besser gewusst. Wie leicht entstanden und vergingen in Indien Götter! Wie frei durften Hellas’ Dichter Mythen erfinden! Wohl ist es letztlich nicht gleichgültig, woran einer glaubt, wenn er nur überhaupt glaubt. Doch dieses liegt nicht an der Erforderlichkeit des Zusammenstimmens von Vorstellung und äußerer Wahrheit, sondern daran, dass der Geist seinem Wesen nach sinnhaft ist. Auch wo der Mensch sich nur seines Muts bewusst ist, treibt ihn von innen her etwas, was nach außen projiziert als Sinnbild in die Erscheinung tritt. Insofern entspricht das äußere Bild innerer Wirklichkeit; insofern lässt sich vom geistigen Werte jenes auf die Entwicklung dieser schließen. Eben deshalb aber gilt hier nie der Maßstab wissenschaftlicher Kritik, sondern einzig der wahrhaftiger Entsprechung. Dort, wo nur erster blinder Ur-Mut als Äußerungsmittel vorliegt, drückt sich der innere Sinn entsprechend als blindes Abenteurertum aus. Beim ersten sich Entringen schauenden Geistbewusstseins aus der Gana sind die Bilder Kreuzungsprodukte von Gana und Geist; daher ihr meistens Schauerliches, in jedem Fall aller Oberweltsnorm Widerstreitendes; man gedenke mehr noch als der vielarmigen und -brüstigen Divinitäten Indiens der entsetzlichen Götter Mexikos. Noch das Sinnbild des sterbenden Gottes gehört dieser hybriden Sphäre an. Kein Wunder, dass gerade dieses Unbegreifliche und Erschreckende den sich erhellenden Verstand zur Deutung reizt und so Religion immer mehr zur Theologie, zuletzt zur Wissenschaft wird.

Der Glaube und nicht Wissen und nicht Verstehen ist sonach Erstausdruck autonomer Geistigkeit, sobald die Stadien des reinen Mutes und des blinden tragischen Lebensgefühles überschritten sind. Der Glaube geht schon deswegen allem dem, was wir heute vorzugsweise geistig heißen, voran, weil sein Körper der emotionalen und nicht der rationalen Ordnung angehört, und die Entwicklung jener der Ausbildung dieser vorgeht. Letztlich aber bleibt geistiges Leben auf allen Stufen wesentlich Glauben; deswegen ist Religion nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort der Geistigkeit. Ist das Gana-Leben ein Gedrängt-Werden, ein Gelebt-Werden durch die Unterwelt, so ist geistiges Leben Behauptung der Autonomie eines Subjekts und dessen Ausstrahlung von innen heraus. Deswegen ist geistiges Leben letztlich niemals Deutung, d. h. ein Sekundäres, sondern primäres Sinngeben. Dass Wissenschaft nur nach-denken und deuten kann, wo Religion behauptet, beweist die ursprüngliche Ungeistigkeit jener. Alles geistige Leben ist letztinstanzliche Selbstbehauptung eines eigentümlichen Seins. So beraubt alle Geistigkeit letztlich auf Überwindung der Natur-Wahrheit durch geistig-innerliche Wahrheit; auf Einbeziehung fremder in eine eigene Welt oder auf Aufoktroyierung dieser auf das Fremde. Dies ist der Sinn aller Kultur. Dies ist der einzig haltbare allgemeine Sinn alles geistbestimmten Lebens. Dieses ist insofern immer dogmatisch und nicht kritisch. Und stellt man von hier aus die Wahrheitsfrage, so lautet die Antwort: die Wahrheit erweist sich darin, dass wahr wird, was vorher nicht wahr war. Wer vertraut, der schafft Vertrauen. Wer da glaubt, verändert die Wirklichkeit. Niemals wird Wissen den Glauben überwinden. Was die wachsende Aufhellung des verstehenden Bewusstseins im Guten bedingt und ermöglicht, ist einzig dies, dass aus blindem Glauben langsam sehender Glaube wird. Mit dem Glauben als solchem steht und fällt der lebendige Geist.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
X. Die Traurigkeit der Kreatur
© 1998- Schule des Rades
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