Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

XII. Divina Commedia

Überwindung der Trägheit

Weniges berührt den mittel- oder westeuropäischen Geistigen, der sich in den iberischen Kulturkreis begibt, eigentümlicher, als die sich immer wiederholende Erfahrung, einheimische Geistige verrückt erklärt zu hören; dieser oder jener Mann sei zwar bedeutend, aber loco, zum mindesten alocado (welches Wort sich zu ersterem ähnlich verhält, wie angetrunken zu betrunken). Dieses Urteil wird in freundlichster Gesinnung gefällt, in gleicher ungefähr, in welcher Frauen über die sie so überflüssig dünkenden sachlichen Männerkonflikte urteilen. Er zweifelt die Bedeutung als solche auch nicht an. Wenn unsereiner sich aber dann in den Sinn dieses Seltsamen versenkt, dann wird ihm klar, dass es sich hier um das Fortleben von Urtümlichem handelt. Vielen Völkern galt der Wahnsinnige als heilig. Besessenheit war ihnen Überlegenheit über die Natur, denn nur Entzauberung konnte sie heilen. Schon den alten Griechen, nicht erst Cesare Lombroso verschwamm die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn. Seit Alters sieht Russland im Juròdiwyi, im medialen Schwachsinnigen, dessen Typus Europa von Dostojewskis Idioten her kennt, ein höheres Wesen. Aber wenn die aufgezählten Völker ihr Urteil vom anerkannten Geist her fällten, so fällt der Spanier das gleiche von der Erde her. Daher die Möglichkeit der Gestalt des Don Quixote, bei dem bis zum Ende zweifelhaft bleibt, ob er vollkommener Weiser oder vollkommener Narr war, und der dabei in seinem Heimatland als nationales Vorbild, ja als Urbild des Menschen gilt.

So ungewohnt diese Perspektive dem mittel- und westeuropäischen Geistigen sei: in ihr stellt sich das ewige Problem des Verhältnisses zwischen Geistes- und Naturbestimmtheit in allen Hinsichten deutlicher dar, als in irgend einer anderen. Deshalb wüßte ich keinen besseren Ansatzpunkt zum Abschließen unseres Meditierens über das Geist-Problem, als den typisch-hispanischen. Der geistige Mensch erscheint vom Standpunkt der Erde in erster Linie tatsächlich als verrückt. Benutzt einer sein natürliches Dasein nur als Medium für die Verwirklichung intendierten Sinns, so bedeutet es ihm wenig mehr als dem Dichter die Sprache. Wie soll das Sancho Pansa einleuchten? Wie sollten Beatrice und Laura nicht empört gewesen sein, wie sollten sie sich nicht nahezu prostituiert gefühlt haben, da ihnen die Ahnung aufging, dass Dantes und Petrarcas Liebe nicht ihnen persönlich, sondern ihrem Seelenbilde galt, und dass nicht Gegenliebe, sondern ihr Werk beiden Dichtern wesentliches und letztes Ziel war? Verrückt-Erklären des aus dem Geiste Lebenden liegt nun desto näher, als der Geistige das wesentlich nicht ist, was der Philister normal heißt. Er ist allemal in noch so mildern Grade krankhaft. Im günstigsten Falle ist er abnorm labil, meist aber weist er dauernde Gleichgewichtsstörungen auf.1

Zwischen Körper und Geist besteht keine ursprüngliche Harmonie, sondern ein ursprünglicher Spannungszustand. Das berühmte mens sana in corpore sano gilt nur für solches Gewichtsverhältnis, wo Geist nicht das Übergewicht hat; aber auch in dem Fall stehen Natur und Geist in Spannungsverhältnis, und Produktivität hängt ganz und gar von einem übernormalen Spannungsgrade ab. Dies wird unter anderem dadurch bewiesen, dass wo höhere Spannung nicht von sich aus besteht, das bisherige Gleichgewicht zerstörendes inneres oder äußeres Erleben solche schaffen und damit Produktivität auslösen kann; so macht die Pubertätskrise die meisten kurzfristig zu Dichtern; so haben viele Geister einer Infektion gesteigerte Schöpferkraft verdankt. Umgekehrt bedingt das Aufhören innerer Gespanntheit in der Regel eine Neutralisierung der geistigen Energien. Dies ist manchmal dahin gedeutet worden, dass das Geistige Produkt der physischen Spannung sei. Doch diese Deutung widerspricht den Tatsachen sowohl als ihrem offenbaren Sinn. Es ist ebenso unmöglich, geistige Wirklichkeit unmittelbar aus körperlicher abzuleiten, wie den Inhalt von Gedanken aus der Eigenart der Sprache, welche sie ausdrückt. Das beste Bild des wahren Zusammenhanges ist und bleibt das der Beziehung einer Melodie zu den gespannten Saiten, die sie zu spielen ermöglichen. Ohne gespannte Saiten kein Geigenspiel. Doch keine Musik folgt aus den Saiten; sie ist ausschließliche Erfindung des musischen Geists. Und die Notwendigkeit der Spannung, welche wieder und wieder zum Zerspringen führt, beweist, dass zwischen den Normen optimaler Geistesverwirklichung und optimaler Existenz für die Darmstränge keine Kongruenz besteht.

Dieser Widerstreit zwischen Geist- und Körpernorm, oder allgemeiner, vitaler Norm überhaupt besteht nun durchaus und auf allen Ebenen. Schon der bloße Rhythmus geistiger Entwicklung deckt sich nicht mit dem der körperlichen. Im Falle jener bezeichnet nicht die Jugend, sondern das Alter den normalen Höhepunkt; im Höchstfall darf man behaupten: Geist verjüngt sich stetig dem Grabe zu. Zwischen den beiderseitigen Wachstumsgesetzen besteht überhaupt keine Harmonie. Auf allen Ebenen und in allen Richtungen setzt Durchgeistigung Konzentration und Disziplinierung der vorhandenen Energien voraus. Nun wächst auch der Muskel durch Übung und dies hat gelegentlich zur Deutung verführt, dass beide Prozesse der gleichen Ordnung angehören. Dies ist jedoch nicht der Fall. Konzentration und Disziplinierung zwecks Steigerung der Geistigkeit über den Punkt hinaus, der noch als höhere Norm des Tieres homo sapiens Linné gelten kann — denn Geistbestimmtheit überhaupt gehört zur Natur des Menschen — geschieht auf Kosten seines Erdhaften. Daher die schnelle Entartung und das frühzeitige Aussterben allzudurchgeistigter Geschlechter, welches Schicksal der Keuschheit gelobende Mönch vorwegnimmt. In der Tat ist mönchische Askese, d. h. Selbstgestaltung unter Verleugnung des Erdgemäßen, Urform des Lebens aus dem Geist. Doch sehen wir von allen Höchstausdrücken möglicher Durchgeistigung ab: diese steht und fällt mit Gana-Überwindung und -Meisterung. Das Wesen der Gana nun ist Trägheit — Überwindung der Trägheit ist aber das erste Gebot, welches Geist aus sich heraus aufstellt. Welche ungeheure Paradoxie hierin liegt, von der Erde her gesehen, leuchtet aus den Geboten, mutig, glaubend, treu, konsequent und ausdauernd zu sein — lauter Sonderausdrücken des einen Gebots, die natürliche Trägheit zu überwinden — weniger deutlich ein, als gerade von seiner untersten Stufe, dass der Mensch arbeiten soll, zumal in deren weltanschaulicher Zuspitzung, dass der Mensch sein Brot zu verdienen hätte: da wird die selbstverständliche Basis alles irdischen Lebens, das Essen, an die Erfüllung, einer Geist-Forderung geknüpft! Schaut man diese Paradoxie mit der weiteren zusammen, dass nachweislich der allein Vollendung des Geistes und im Geist erreicht, welcher sich an den gänzlich unpraktischen und im Extremfall lebensfeindlichen Idealen orientiert, welche den sogenannten ewigen Werten entsprechen, dann muss man, wohl oder übel, anerkennen, dass Geist- und Erd-Normen sich ursprünglich nicht entsprechen. Deren wahres Verhältnis leuchtet vielleicht am besten aus einem karikierenden Vergleich von Geist- und Gana-Artung ein. Inwiefern heißt man den Geist frei? Ob er im absoluten Verstande frei sei, ist eine Frage der Wort-Definition und nicht der Wirklichkeitseinsicht. Doch an den Normen der Gana gemessen, ist Geist ohne Zweifel frei; er ist es, insofern er unbindbar ist. Sinn ist nicht festzuhalten, so wie die Gana festhält. Das Ur-Charakteristische aller Götter und Geister ist dementsprechend ihre Unverlässlichkeit. Sie sind nicht unverlässlich nach Art der Gana, deren zäher Zusammenhang durch allen Wandel und Wechsel und Umschlag ins Gegenteil hindurch besteht. Sie sind absolut unverlässlich. Geister kommen und gehen, sie verschwinden und entstehen neu und verwandeln sich in beliebige Gestalten und dies allem Anschein nach nach Willkür. Und so fallen die — Gedanken ein oder auch nicht, wie es ihnen gefällt. So musste mit dem Einbruch des Geistes die Selbstverständlichkeit aufhören, welche der Gana Element ist, und die Problematik anfangen, die ihrem zäh-konservativen Sinn ein Greuel ist. Nun könnte sie sich zur Not mit der Problematik abfinden, wenn es wenigstens endgültige Problemlösungen gäbe, welche die alte Sicherheit auf neuer Ebene wiederherstellten. Aber es gibt keine Endlösungen, solange Geist lebendig ist. Damit bedeutet Bekenntnis zum Geist, von der Gana her gesehen, Bekenntnis zur Unsicherheit, also zu dem einen, wogegen sie sich von der Geburt des ersten Lebens an gewehrt hat. Diese Unsicherheit erreicht ihren Höhepunkt in der Indetermination der Bedeutung aller Tatsachen. Alle Lebenserscheinungen gehören Sinneszusammenhängen an und haben in diesen ihren schöpferischen Grund. Aber die vitalen Zusammenhänge sind im großen und ganzen und in allen wichtigsten Hinsichten festgelegte Melodien; so beginnt jeder Mensch sein Leben als Kind und endet, lebt er lang genug, als Greis, und diese Phasen bedeuten in allen Fällen vital Identisches. Bestimmt hingegen Geist letztinstanzlich, dann ist es mit aller einfürallemaligen Bedeutung aus. In jedem Einzelfall kann alles, aber auch alles seinen besonderen Sinn haben, welcher jeweils der einzig gültige ist. So können die gleichen Tatsachen Verschiedenstes bedeuten, die Bedeutung kann sich von Augenblick zu Augenblick verändern, oder auch zu sein aufhören. Geistige Zusammenhänge bestehen aus eigenem Recht und scheren sich den Teufel um die Tatsächlichkeit. Ist diese nicht so, wie es der Geist fordert, dann soll sie es eben werden. Unter allen Umständen verschiebt Geistbestimmtheit alle frühere Ordnung. Da mag ein Sünder dem Heile näher sein als ein Gerechter, da mag, Häßliches Schönheit ausdrücken und umgekehrt, da mag Lüge wertvollere Gesinnung kundtun als Wahrhaftigkeit. Überdies entstehen aus reinem Sinn heraus wieder und wieder neue Wirklichkeiten, an welche die arme Gana sich wieder und wieder neu anzupassen gezwungen ist. Aber bei diesen Wirklichkeiten weiß sie nie ein für alle Male, woran sie ist. Und hierzu tritt das vollends Skandalöse, dass Geist nur ist und wirkt, wo er erkannt und anerkannt und rezipiert wird; wird er nicht oder nicht mehr bemerkt und geglaubt, dann ist er aus dem Erdgeschehen ausgeschaltet…

So vertragen sich Geist- und Erdnorm offensichtlich schlecht. Der letzte Zweifel schwindet, wenn wir von hier aus die Fragestellung umkehren und noch einmal vom Geist her auf das Erdhafte hinblicken, so wie wir’s in Gana, Delicadeza und Emotionale Ordnung taten. Da erscheint Wirklichkeit direkt unsinnig oder widersinnig. Die Unstetigkeit und Endlichkeit und Ausschließlichkeit des Gana-Lebens widerstreitet der elementaren Geist-Forderung von Zusammenhang und Stetigkeit; das Werden und Vergehen der Empfindungen spottet aller Logik und aller Vorausschau; die Ungerechtigkeit und Wertefremdheit der emotionalen Ordnung spottet aller ethischen Maßstäbe, das physische Werden und Vergehen aller Schönheitsforderung und die mögliche positive Rolle des Bösen aller Moral.

Wir können das Ausgeführte dahin zusammenfassen, dass der Geistige und der Erdhafte sich gegenseitig verrückt erscheinen müssen. Desto mehr, als die Einstellung auf die Normen des einen Pols für die des anderen blind macht. Ist einem Menschen Nutzen oder Erfolg höchstes Ziel, dann müssen ihm alle Forderungen der Selbstüberwindung und -verleugnung wahnwitzig erscheinen, mit deren Verwirklichung Spiritualität steht und fällt. Doch nicht minder blind sind ausschließlich Geistbestimmte für die Normen der Erde. Hier verkörpert Don Quixote das Urbild. Alle ganz großen Geschichtsbildner waren Monodeisten, Monomane und Halluzinierte, welche unbeirrbar und rücksichtslos ihre Idee auslebten. Dies führte zu zwei entgegengesetzten Einstellungen zu den Erd-Kräften, die aber Gleiches bedeuten. Entweder sie waren vollkommen unklug, und dann siegten sie kraft ihres Heldenmuts als reine Toren über alle Ränke. Oder aber sie waren hinsichtlich der Mittel vollkommen skrupellos; der Eigen-Sinn der Mittel bedeutete ihnen nichts. Auch die vollkommene A-Moralität eines Lenin bedeutet letztlich Ver-rücktheit.

Ich habe hier die Gegensätzlichkeit der Normen von Geist und Erde so scharf als nur irgend möglich herausgearbeitet, weil der Weg zum Verständnis der Tatsachen von dieser Fragestellung her durch die geringste Anzahl Vorurteile verbaut ist. Jesu kündete von seiner Botschaft, sie brächte nicht den Frieden, sondern das Schwert: dies galt nicht nur von ihr, es gilt vom Einbruch des Geistes überhaupt. Denn seither war der Mensch mit sich selbst ursprünglich uneins. Und dieser Konflikt wurde fortschreitend quälender, je mehr sein Bewusstsein sich aufhellte, denn immer gewisser wurde ihm, dass seine letzte Wirklichkeit nicht in seinem leibhaftigen Dasein, sondern im unfassbaren Geist mit dessen schwer, wenn überhaupt, verwirklichbaren Forderungen liegt. So wurde in seiner Seele immer lauter die vom Dasein her schlechterdings nicht zu verstehende Forderung vernehmlich: werde, der du bist! Seither war die paradoxale Sehnsucht nach Selbstverwirklichung Grundton geistbewussten Menschenlebens.

1 Dieses Problem haben Ernst Kretschmer (in Geniale Menschen, Berlin, Julius Springer) und Wilhelm Lange-Eichbaum (in Genie, Irrsinn und Ruhm, München, Ernst Reinhardt) im von mir vertretenen Sinn, doch von der Medizin her, wohl endgültig richtiggestellt.
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
XII. Divina Commedia
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