Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

XII. Divina Commedia

Wirklichkeitserfassung

Mit dem Wirksam-werden-können solcher Anders-heit beginnt die Geistigkeit. Sie dämmert schon auf allerfrühester Lebensstufe, doch erst im Menschen von allen Wesen, die mir kennen, tritt sie scharfumrissen als vollendete Seinsart in Erscheinung. Schreiten wir jetzt von den Ergebnissen unserer letzten Meditation her weiter. Die spezifische Erscheinung des Geistes ist das Bild. Nicht das äußerlich bedingte Bild, der Eindruck, sondern das innere Bild. Je mehr Geist sich in seiner Eigenart ausprägt, desto mehr ist das Bild nicht Nachbild sondern Vorbild. Doch sogar beim scheinbar reinen Nachbilden kommt es wesentlich auf das Eigene des Geistes an, denn auch hier nutzt anderer Sinn, als der des gegebenen Menschen als Naturproduktes, dessen Organe, Funktionen und Ausdrucksmittel. Und rein erfinden kann kein erdverkörperter Geist; auf irdischen Stoff ist selbst der souveränste Genius angewiesen. Auch auf der Stufe geistigen Schaffens nun verkörpert der Schauspieler die Grund- und Urform. Dies ist der Sinn des Übens und Nachahmens aller Jungen. Keinem fällt von vornherein Neues ein: zuerst stellt er dar, was andere vor ihm wussten oder waren. Er bekennt sich zu einem Vorbild, das ihm Ideal ist, schwört auf die Worte eines Meisters, betet diese nach, findet sein Glück in blindem Glauben an seine Lehre oder seine Seinsart. Was er so darstellt, bedeutet psychologisch Gleiches wie alle Schauspielerei. Doch an dieser Stelle können wir zwischen Schauspielertum im Rahmen der Natur und geistigem Schauspielern klar unterscheiden. Ist das Ur-Weib die Natur-Schauspielerin, welche instinktiv und insofern unpersönlich die vital erforderliche Rolle spielt, die ihm die äußere Situation zuweist, so übernimmt der geistige Schauspieler mittels der Imagination eine von seinem persönlichen Leben verschiedene Rolle und stellt sein Vitales in deren Dienst.

Der nächste Schritt der persönlichen Geistigkeit zu führt zum Spielen der Kinder. Wir vereinfachen die Verhältnisse ein wenig, doch wir verfälschen sie nicht, wenn wir behaupten, dass der Weg der Entwicklung von der Gana- zur Geistbestimmtheit durch zwei Unstetigkeitsmomente führt: zuerst von der problemlosen Blindheit zum reinen Geistbewusstsein; alsdann von diesem zur Wirklichkeitserfassung. Wie wenig selbstverständlich der Übergang zu letzterer gelingt, illustriert die Befremdetheit jedes Kindes, wenn es vom Spiel zum Ernst des Lebens hinüberfinden soll. Von einem gewissen, sehr frühen Punkte ab ist das Menschenkind geistiger als der Erwachsene. Es lebt in einer rein innerlichen Bilderwelt; das Äußerliche ist ihm bloßes Material für seine Dichtung. Dieses hält an, solang die Unterwelts-Triebe schlummern. Erwachen diese, dann erfolgt der Einbruch des Dunkels. Dann fühlt sich das Kind überfremdet; dann verliert es sich, ängstigt es sich. Kinder des hier geschilderten Zustands leben eben reine Phantasie aus. Ihnen fehlt jede bewusste Beziehung sowohl zur eigenen physiologischen Wirklichkeit, wie zu der der Welt; jedes Märchen erscheint ihnen realer und plausibler als Alltagsbegebenheit. Hier handelt es sich offenbar nicht um Schauspielerei, d. h. um Darstellung eines in bezug auf das persönliche Leben Äußerlichen: es handelt sich um unbefangenes sich-Ausleben autonomer geistiger Wirklichkeit, ohne Rücksicht auf alle Außenwelt. So ist das Kind in anderem Sinne echt als das schauspielernde Ur-Weib. Im Falle dieses ist die Natur selber Komödiantin; bei jenem äußert sich Geistiges unbekümmert um alle Natur, doch ohne dass dieses Geistige mit dem persönlichen Ich zusammenfiele; das Kind weiß genau, dass seine Betätigung Spiel ist und nicht Ernst, obgleich es andererseits sein Spielen allein ganz ernst nimmt. Doch wie es vermittelnde Zustände gibt zwischen Chamäleon und Schauspielerin, so trennen Unstetigkeitsmomente nicht in allen Hinsichten das spielende Kind vom Tier. Auch Tiere spielen. Und auch Tiere haben in irgend einem Grad am Geiste teil. Doch bei diesen bedeutet das Spielen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, dass festgelegte der Wirklichkeit a priori angepasste Gana-Melodie geübt und geprobt wird. Auch diese Art Spielen ist Menschenkindern nicht fremd. Doch das eigentliche Spielen des Menschenkindes als Ausleben einer innerlichen Welt ist kein Gana-Phänomen. Deswegen hielt Jesus, welcher ausschließlich den Geist im Menschen anerkannte, Erwachsenen das Kind zum Vorbild vor.

Vor hier aus können wir bereits im großen und ganzen übersehen, wie Irdisches und Geistiges in der besonderen Hinsicht, welche uns hier angeht, zusammenhängen. Es gibt die verschiedensten möglichen Beziehungen und Gewichtsverhältnisse. Die Ausdrucksmittel sind überall grundsätzlich die gleichen. Aber sie können Verschiedenes ausdrücken: ihren eigenen Sinn, den des Gesamtkörpers, den der eigenen erdverhafteten Psyche, Vorstellung von Fremdem, lebensfremden Geist. Doch man hüte sich vor vereinfachenden und vereinheitlichenden Deutungen. Nur soviel gestatten die Erfahrungstatsachen zu behaupten: zwischen wirklichem und dargestelltem Leben, zwischen organischer Übung und Spiel, zwischen Mimikry und Komödie, zwischen Leben und Geist gibt es Übergänge und es gibt sie wieder nicht. Unter allen Umständen bedingt jede Bedeutungsverschiebung aktuell ein Unstetigkeitsmoment. Für diesen Zusammenhang bietet die Liebe die lehrreichste und erschöpfendste Illustration. Ihre Wurzeln liegen in der Schicht nicht nur des dritten Schöpfungstages, sondern der dunkelsten Schöpfungsnacht. Urtriebe speisen sie durchaus; noch bei ihren sublimsten Formen spielt das Unterweltliche entscheidend mit. Und doch erschöpft sich der Sinn der Liebe beim Menschen nicht in der Fortpflanzung und dem, was unmittelbar mit dieser zusammenhängt. Es gibt wesentlich seelische Liebe. Es gibt rein geistige Liebe. Und je nachdem, was letztlich die Liebe bestimmt, bedeutet der Zeugungsakt, der bis auf die höchsten Stufen hinan der vollkommenste Ausdruck aller Liebe bleibt, Verschiedenes. Die Lust dissoziiert sich schon bei vielen Tieren von der Fortpflanzung; beim Menschen ist diese Loslösung das Urphänomen. Und nun kann der gleiche Akt das Allerverschiedenste bedeuten, und allemal handelt es sich dabei nicht um nachträgliche Deutung, sondern um ursprüngliches Sein: reines Lust-Streben, den Ausdruck bewusster Sehnsucht nach Kindern, absichtliche Natur-Vergewaltigung in der Perversion, höchsten Einklang von Körper, Seele und Geist und reine Kunst. Die körperliche Vereinigung tief Liebender, unabhängig von jedem Zeugungsmotiv, ist im tiefsten und schönsten Sinne Spiel. Und doch klingen so oder anders alle möglichen Sinnes-Töne mit. Immer mehr beunruhigt mich das Wunder der Fortpflanzung. Lägen die Dinge so, dass sie eine rein körperliche Angelegenheit wäre und die Seele ganz von außen in den Körper einströmte, dann wäre volles Verständnis zwar auch nicht möglich, immerhin aber ein erträglicher Grad von Plausibilität erreicht. Aber irgendwie stammen die Kinder von ihren Eltern unzweifelhaft auch geistig ab. Und dies zu verstehen, erkläre ich mich außerstande.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
XII. Divina Commedia
© 1998- Schule des Rades
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