Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

XII. Divina Commedia

Anerkennung der Wirklichkeit

Jesus von Nazareth hat gesagt: ich bringe nicht den Frieden, sondern das Schwert. Und weiter hat er gesagt: ich bin nicht gekommen, aufzuheben, sondern zu erfüllen. Diese beiden Aussprüche umgrenzen mit jener letzten Deutlichkeit, welche erstes Sehen allein ermöglicht, die großen Umrisse des ganzen Geist-Problems. Als Einbrecher ist der Geist in eine uralte Ordnung eingedrungen. Seither ist Unfrieden im Menschen, und dieser Unfriede muss anhalten, bis dass der Geist sich vollkommen durchgesetzt hat. Denn nunmehr ist er des Menschen Wesenskern. Durchsetzen aber kann sich der Geist nicht mit Gewalt. Wo immer er dies versucht hat, hat er sich selbst verloren. Wollte er die Welt gewaltsam moralischem Gesetze unterwerfen, so wurde sie noch böser, als sie früher war. Sollte sie kraft seines Machtspruchs ausschließlich schön sein, so wurde sie nur verlogener. Sollte sie, durch den Verstand gebändigt, zur Sklavin des Menschen werden, so führte dies dazu, dass sich der Mensch entmenschte und schließlich ganz der Norm des Toten verfiel. Nur indem sich der Geist dem Bestehenden sachte einbildet, nur indem er erfüllt, so wie Jesus von Nazareth es meinte, kann er zu siegen hoffen. Er muss die ganze Wirklichkeit erkennen, wie sie ist. Er muss sie anerkennen, so wie sie ist. Dann erst ist er der ebenbürtige Gegner dessen, was er anders will. Aber in seiner geheimsten Tiefe kann der Geist die Erde nicht anerkennen, so wie sie ist. Zu sehr widerstreitet sie allen seinen Idealen. So kann er, brach er freiwillig in das Erd-Reich ein, nur Un-Irdisches, der Erde Unfassbares gemeint haben…

Ende

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
XII. Divina Commedia
© 1998- Schule des Rades
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