Schule des Rades
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen
I. Der Kontinent des dritten Schöpfungstages
Selbstbehauptung der Phantasie
Je mehr Tage und Jahre verstreichen, seit ich in Südamerika weilte, desto deutlicher wird mir, was jener Erdteil mir bedeutet hat. Es war ein gewissenloser, verräterischer Mensch, welcher zuerst seines Lebens Eindrücke festhielt: ihm fehlte das Gewissen für das Gesetz des Wachstums in der Verwandlung, die unaufhörliches Vergessen verlangt, und er verriet sein Innerlich-Lebendiges an Äußerlich-Totes, das es ohne seinen bösen Willen gar nicht gäbe. Denn die Tatsachen
sind nichts für sich Bestehendes; sie sind Kunstprodukte willkürlicher Abstraktion. Ursprünglich gibt es nur unauflösliche Gesamtsituationen, zu deren Bestandteilen unter anderem das gehört, was mehr oder weniger alle mehr oder weniger gleichmäßig feststellen können, wenn sie sich mehr oder weniger gleichen Bedingungen unterwerfen. Freilich mag der Nachdruck auf diese Konstanten gelegt werden. Doch dann schrumpft die Welt zusammen. Es vergeht das, was das Gemälde von der Palette unterscheidet, es schwindet das Erlebnis, der Sinn verflüchtigt sich, und der Einzigkeitscharakter geht verloren. Kein Brasilianer antwortete auf taktloses Insistieren je mit gleicher Vergrämung, wie das Weltall. Wer diesem mit Festlegungen und Statistik kommt, dem verwandelt es sich zu einer Rumpelkammer. Wogegen es sich beglückt wie ein Weib der Dichtung jedes echten Liebhabers angleicht. Und zwar handelt es sich hier wie dort um echte Verwandlung. Deswegen behielt jeder, der eine wirklich eigene Welt zur Welt trug, nicht nur für sich recht: war er zum Liebhaber berufen, das heißt verstand er seinen Gegenstand in seiner Tiefe, dann verlangte das Universum allemal, mit wiederum weiblicher Parteilichkeit, dass alle es so sähen wie er. Bis einmal ein Besserer kam.
Das ist der Sinn des Gestaltwandels der Götter. Primitive Kosmogonie schob einem ersten Urheber alle Verantwortung für alles Geschehen zu, und was dann aus dem Rahmen erster Planwirtschaft herausfiel, entwirklichte sie als Sünde. Logischerweise behielt der Mensch im Fall des starrsinnigsten Gottes der Geschichte für ewig schuld vor ihm. In Wahrheit lagen und liegen hier die Dinge ebenso, wie im Fall des Reigens, welchen Sonne und Erde miteinander tanzen: es ist nicht möglich, letztgültig zu bestimmen, wer sich um wen dreht. Schöpfer und Schöpfung stellen eine unauflösliche Gesamtsituation dar, die sich jeden Augenblick in allen Dimensionen wandelt oder wandeln kann. Mag sonach alles im Anfang so gewesen sein, wie dies die Buchführung des Siebentagewerkes darstellt: sobald anderen als dem ersten Urheber eigenes einfiel, wurde alles anders. Schon die kleine Intrige zwischen Schlange und Weib erschütterte den ersten Plan. Dann musste das Paradies verlassen werden, bei dem es doch bleiben sollte; es geschah das vom Standpunkt der Ur-Ordnung höchst Bedenkliche, dass den Vertriebenen eigene Arbeit geboten ward, welches allen nur möglichen Initiativen freies Spiel gab; bald erschien der vollends planwidrige Kain, und so ging es fort und fort, zu solchem Verdrusse derer, die am Vorurteil des Ein-für-allemal
festhielten, dass heute nur noch blinder Glaube die Pole Schöpfer und Schöpfung in ihrer ursprünglichen Konstellation zusammenhält. Blinder Glaube als Religion
, das heißt als Behauptung der Bindung des Einen an das All, ist aber der äußerst denkbare Ausdruck der Verzweiflung. Er bedeutet, dass die lebendige Bindung verlorengegangen ist. Denn diese besteht ganz und gar und einzig und allein im organischen Zusammenhange mit der Schöpfung, wie sie wirklich ist, nämlich ein sich immerfort Verwandelndes. Wohl setzt die Wahrung dieses Zusammenhanges Glaube als letzte subjektive Instanz voraus — nicht aber Glauben im Sinn des Gehorsams gegenüber Festgelegtem, sondern in dem des Hinzutragens des Eigenen zum Anderen. Echter Glaube ist Selbstbehauptung der Phantasie.
Es gibt so viel Welt-Möglichkeit, als es Phantasie gibt. Es hat so viele Weltwirklichkeiten gegeben, als Phantasien sich durchsetzen konnten. Von hier aus gewinnen wir ohne weiteres den einzigen kosmisch-stichhaltigen Wahrheitsbegriff: dieser ist eins mit dem der Entsprechung von Subjekt und Objekt. Zuunterst deckt er sich mit dem der Wahrheit im Sinn des Einmaleins. Wie aber die höhere Mathematik sich von der niederen dadurch unterscheidet, dass sie, je höher sie wird, desto wandelbarere Größen in haltbarem Zusammenhang zusammenfasst, so kann Entsprechung bedeuten, dass schöpferischer Geist die Welt sich selbst entsprechend umschafft. So, und so allein verstanden, hat der Grenzbegriff eines ersten Urhebers, im Zusammenhang mit dem, was später nachweislich geschah, einen sinnvollen Inhalt. Zu diesem nun gehört nicht allein die natürliche Entwicklung, sondern auch die Erneuerung der Weltschöpfung aus dem Geist. Letzteres und nichts anderes haben die Welteroberungen durch Religionen und Philosophien bedeutet. Indem sie das Äußere anders anzusehen lehrten, wurde dieses anders. Ohne jedes metaphysische Vorurteil kann als erwiesen gelten, dass Geist mitschafft an der Welt. In unserer Menschenwelt ist der für sich erlebende, seine Zusammenhänge dem Universum aufzwingende sinngebende Geist sogar die letzte Instanz. Vor aller Wissenschaft, welche nur nach-deutet, ist immer die primär be-sinnende Religion. Dass dem so ist, hat gerade die Religion der Materie am eindrucksvollsten erwiesen: sie hat die Erde mit Gestaltungen bevölkert, die es vorher nicht gab; sie hat die kosmischen Kräfte in früher nie begangene Bahnen eingezwungen. Verdirbt und vergeht sie heute, so liegt das daran, dass sie ihren eigenen Sinn und Ursprung nicht versteht: dieser liegt nämlich durchaus im Geistigen: im Glauben an das Primat des Materiellen. — Doch wie dem auch im besonderen sei — hier will ich keine Theodizee entwickeln —, das Wesentliche ist, dass die Weltschöpfung nie aufhört, nie am Ende ist, und dass es von der Qualität des Geistes abhängt, welche Rolle er in ihr spielt.
Der Geist ist ursprünglich Schöpfer, nicht Interpret. Wird er so leicht zu letzterem, so bedeutet das Ähnliches, wie dies, dass gerade der Edelmann, der Herr par définition, in sein Gegenteil, den Diener umschlagen kann; denn der Hofmann ist ja der Diener par excellence. Dient der Geist heute keinen Göttern, sondern den sogenannten Tatsachen, erweist er sich diesen gegenüber feiger, als je ein Azteke es seinen mörderischen Göttern gegenüber war, so bedeutet das Ähnliches, wie das Kriechen eben der aufrechten Männer, welche Könige stürzten, vor Finanzmagnaten. Was ich nun, seitdem ich aus meiner ersten kontemplativen Geistigkeit herausgewachsen bin, betreibe, ist nichts anderes, als die Überwindung dieser Angst. Der Sinn schafft den Tatbestand, Phantasie verwandelt die Welt, aus Sinnbildern wird Geschichte: mein Leben und Schaffen ist ein einziges Zeugen dafür. Und damit maße ich mir nichts an, ich übe nur elementares Menschenrecht aus. Wäre Gott gegen dieses Weiter-Schaffen des Menschen, längst hätte er ihm das Handwerk gelegt.