Schule des Rades
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen
III. Krieg
Soldatentum
Im Kriege führt die böse Unterwelt ein rechtmäßiges Dasein. Wo immer das Stadium naiven und deshalb schönen Blutrauschs so oder anders überwunden ward, sind Ur-Hunger und Vergeltungstrieb seine tiefsten und letzten Motive. Lebten diese Dämonen nicht, ewig lebendig, in der untersten Tiefe, kein Völkerkrieg wäre auch nur theoretisch denkbar. Woher kommt es nun, dass das Menschheitsbewusstsein diese Wahrheit noch heute nicht wahr hat? Das liegt an der ungeheuren und tragischen Paradoxie, welche der Krieg als Oberweltserscheinung verkörpert. Der Krieger, der jeden Augenblick Entsetzlichstes zu tun und zu erleiden bereit sein muss, ist der fröhliche und leichtsinnige Mensch par excellence — er ist es wirklich, er gilt nicht nur dafür. Und das unreflektierte Bewusstsein spiegelt den Krieg überhaupt nicht als das, was er wesentlich ist. Zuunterst erweckt sein Begriff die Vorstellung unbedingter Disziplin. Auf höherer Stufe die mathematisch klarer Berechnung. Und als sein Sinn endlich gilt heute noch, trotz Maschinenkriegs- und Giftgaserfahrung, das ritterliche Spiel, welches er niemals wesentlich war; das Spiel, dessen Seele die Ehre ist. Dies gilt so sehr, dass der unbekannte Soldat sich überzeugt dem Feldherrn opfert und dass einzig das, was der Krieg diesem bedeutet, in der Erinnerung als Wesen und Sinn des Krieges fortlebt.
Wie ist das möglich? — Bedenken wir die verschiedenen Punkte in ihrer logischen Folge.
Der Krieger kann und muss leichtsinnig sein, weil er als Krieger die Normen der Unterwelt übernimmt, als welche blind ist und zum Töten und Sterben gleichgültig steht. Dies Übernehmen der Unterweltsnorm mit gutem Gewissen wirkt andererseits befreiend; denn nun setzen alle Hemmungen aus, die von der Oberwelt her die Unterwelt am sich-Ausleben hindern. So bewirkt sogar die Bereitschaft zum Tode innere Lösung. Der Zwang, unter dem der Soldat lebt, entspricht aber seinerseits der Norm der Unterwelt, er widerspricht ihr nicht. Sie kennt keine Freiheit, ihr ist Zwingen und Gezwungenwerden gemäß. Was ihrem Wesen widerstreitet, sind Voraussicht und Verantwortung — und gerade die werden dem Soldaten abgenommen. Es sind immer Vorgesetzte, die zu wissen haben, was über das Nächsterforderliche hinausgeht; auch für dieses verantworten sie, und diese letzte Verantwortungslosigkeit geht, vom Erlebenden her geurteilt, bis zur Grenze des obersten Heerführers. Endlich ist der Krieger sicher, dass für ihn materiell gesorgt wird; deswegen leidet er von allen Menschen am wenigsten unter der Ur-Angst; diese bezieht sich nämlich primär nicht auf den Tod, sondern auf das Hungern. Von den Trieben her beurteilt, ist der Soldat der gesichertste Mensch; schon deshalb hat er am wenigsten Angst; schon deshalb ist es psychologisch berechtigt, vom Soldaten mehr Mut zu erwarten, als vom Zivilisten. Weiter wirkt auf die Masse, welche im Krieg eine unbegrenzte Suggestion ausübt, als innerlich befreiend der Umstand, dass Minderwertigkeitsgefühl kaum überhaupt aufkommt: im Kriege ist der im Frieden Untüchtigste dem Tüchtigsten gleichwertig, wenn nicht überlegen. Wie General Crozier es einmal gut gesagt hat:
Es gibt keine schlechten Soldaten, sondern nur schlechte Führer.
Endlich darf sich im Krieg die ganze Unterwelt im Zusammenhang ausleben. Zum Krieger-Dasein gehören auch Saufen, Spielen, Zoten, Huren und Bejahung des Schmutzes. Doch auch die schöne Seite des Triebhaften und Ursprünglichen kann sich im Kriege ungehemmt ausleben. Dieses will die Strapaze, denn der Muskel wächst durch Übung; der Ur-Hunger äußert sich als Todesverachtung, alles Sicherungsstreben schwindet und damit aller Geiz; es entfaltet sich die Fähigkeit unbekümmert schenkender Liebe. Und wie jede vorhandene Kraft in anderen gleiches anklingen lässt, so geben sich im Kriege sonst wählerischeste und unzugänglichste Mädchen beglückt schier jedem hin, den sie für einen Helden halten. Auch sie wollen sich opfern, und verglichen mit der Hingabe des Lebens scheint keine andere zu groß. Da ferner die Liebe mit dem Tod verschwistert ist, so gewährt Liebe angesichts des Todes höchste Wollust. Das Bild der Leichtsinnsförderung vollendet der psychische Mechanismus, dank welchem alle Betonung eine Mit- und Überbetonung des Gegensatzes auslöst. Gerade weil es sich beim Kriegerdasein um ein reines Unterwelts-Leben handelt, spielt diese im Bewusstsein die geringste Rolle. Das Häßliche des Kriegshandwerks führt zu exklusiver Betonung des Schönen, von Sang, Klang und Spiel und der Pflege der edlen Gruppengefühle. Das rational Unsinnige der Seinsart des Unterweltlichen fördert seinerseits den Leichtsinn. Blinder Ur-Hunger, Überwältigungs- und Vergeltungstrieb, blinder Blutrausch und die blinde Wollust des Sterbens der anderen rechtfertigen sich auf ihrer Ebene selbst. Zu verstehen ist das alles nicht, wozu also denken? Von hier aus darf man endgültig behaupten: je rationalisierter eine Welt, desto sinngemäßer ist ein allen geistigen und sittlichen Normen hohnsprechender Krieg.
Bei der Disziplin wirkt ein anderer Zusammenhang. Auf den ersten Blick scheint ihre Bedeutung im Krieg eine ungeheuerliche Paradoxie. Die untersten, niedersten, ungebändigtesten und wildesten Triebe machen Krieg überhaupt möglich. Und nun soll Kriegführung sich in Form schlechthinniger Naturüberlegenheit darstellen! Die Paradoxie besteht; nichtsdestoweniger ist gerade auch die Disziplin in der Unterwelt begründet. Zwang und Gewalt sind deren eigenste Normen; nur Freiheit ist ihr völlig fremd. Im übrigen arbeitet Disziplin zuerst und zuletzt mit der Angst, der Ur-Eigenschaft primordialen Lebens. Und dieses will vergewaltigt werden, nicht selbst entscheiden. Wie genau die militärische Disziplin der Unterwelt angepasst ist, beweist die Tatsache, dass sie die Menschen tatsächlich ändert, von außen nach innen zu, und dass es diese zuunterst freut, wenn sie durch Disziplin gebrochen und eingebrochen werden, so wie das Kind für die Strafe dankbar ist, dank der es ihm gelingt, schlimme Neigungen zu überwinden und brav zu sein. Doch dass jeder Soldat in der Disziplin, wenn sie ihm einmal in Fleisch und Blut überging, ein Ideal sieht, liegt daran, dass Disziplin nicht allein bindet, sondern auch befreit. Indem sie die Unterwelt bindet, indem sie das für sich Undisziplinierbare vom Geiste her diszipliniert, macht sie zugleich die Bahn frei für selbständige Auswirkung geistiger Energien. Es ist richtig, dass man gehorchen lernen muss, um befehlen zu können. Deswegen beginnt auch aller Weg geistlicher Vollendung mit Askese, d. h. mit Disziplinierung. Der auf den Ebenen des Disziplinierbaren vollkommen Disziplinierte ist eben dadurch der freieste Mensch. Dass nun die Disziplin allgemein als Seele des Kriegerhandwerks gilt, beweist, dass ihr Geistiges dem Bewusstsein mehr bedeutet, als ihre Grundlage. So ist Soldatentum der Weg zur Freiheit nicht nur im Sinn des Auslebens des Unterweltlichen, das allein Kriegführen ermöglicht, sondern auch im Sinn der Befreiung des Geists. Für den nicht höchststehenden Menschen gibt es überhaupt nur diesen Weg zur Geistesfreiheit. Ja, es gibt auch kein erreichbares höheres geistliches Ziel für jedermann, als diszipliniert überhaupt
zu sein; gerade auf geistlichem Gebiet sind wenige berufen, über den Unteroffizier hinaus zu avancieren. Daher die nachträgliche Begeisterung der meisten, die seine Wirkung persönlich erfuhren, für militärischen Drill. Dieser wird deshalb zu beliebigem Ende als bewährte Technik fortleben, auch wenn der Krieg einmal überlebt sein sollte.
Dass der Krieg dem Strategen reine Mathematik ist, beruht nicht allein auf der Unmöglichkeit, Massenentscheidungen anders herbeizuführen: es hat tiefe lebendige Gründe. Der höhere Offizier rückt entsprechend dem Polaritätsgesetz instinktiv von der reinen Unterweltsbestimmtheit zur reinen Intellektualität ab. Er sieht im Kriege ehrlich nur das Hin- und Herrücken von Fähnchen auf der Karte, und in Blutopfern rechnungsmäßiges Abschreiben. Aber gerade die damit in die Erscheinung tretende Unmenschlichkeit beweist die Kraft des unterirdisch wirkenden und bestimmenden Urlebens. Es gibt wenige Generäle, die nicht heiße Wollust beim Gedenken der Blutopfer in sich verdrängen und drum durch kaltes Rechnen überkompensieren. Und vollends beweist letzte Unterweltsbestimmtheit, dass viele, allzu viele Führer Tausende mit gutem Gewissen in den Tod schicken, um damit für sich einen Orden zu gewinnen.
Die letzte Paradoxie des Krieges ist nun das, was ihn letztendlich adelt. Wo bestialisch gewütet, wo kaltherzig gerechnet wird, ist das im Bewusstsein letztentscheidende Motiv das Seelenvollste, Subjektivste und Persönlichste von allem, was es auf Erden gibt; zugleich das Geistigste, insofern es allein in bezug auf den unvergleichlichen Einzigen Sinn hat: die Ehre. Die persönliche Ehre bestimmt letztlich ausgerechnet dort, wo die Person als Tatsache überhaupt nichts gilt. Ehre ist nie zu begründen noch zu beweisen. Ehre hat überhaupt keine Triebgrundlage, denn sie hat wesentlich nichts mit Eitelkeit, Selbstliebe, Besitz- und Machttrieb zu tun. Ehre hat auch keine Verstandesgrundlage, denn Verstand muss vergleichen, und Ehre ist das schlechthin Unvergleichliche; sie west jenseits jeder nur denkbaren Beziehung zu anderen. Wer ihren Sinn auch nur im allermindesten im Ansehen
, im Urteil anderer sucht, der missversteht ihn ganz. Der Ehrbegriff ist ein so rein Spirituelles, dass bloß intellektuelle, genau wie ausschließlich triebbestimmte Zeiten unmöglich wissen können, was es bei ihr gilt. Insofern ist die Ehre der vornehmste und erste Exponent der Tiefe im Menschen, die ihre Wurzel nicht in der Unterwelt hat. Zuerst war die Frauen-Ehre. Es beruht auf Einzigkeitsbewusstsein und zugleich dem Bewusstsein schlechthinnigen Werts, wenn eine Frau sich entehrt fühlt, die von einem Mann genommen wird, dem sie sich nicht geschenkt hat. Unmittelbar darauf, als erste Mannes-Ehre, leuchtete im Bewusstsein das Ideal der Krieger-Ehre auf. Nunmehr bestimmte diese an sich, unabhängig von jedem Kriegs-Motiv und jedem Kriegs-Ziel. Fortan ward vorausgesetzt, dass wer da kämpft, ob auch als Bandit, Räuber, Söldner, als wissendes Organ schmählich ausbeuterischer Unternehmung, ja, gegen seine eigene beste Überzeugung, unter allen Umständen seine Ehre wahrt.