Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

IV. Blut

Sinnbild ursprünglicher Zugehörigkeit

In Argentinien reproduzierte ich öfters einen alten Traum, in dem ich als letzter Mensch auf der zu fahlem Gestirn zurückverwandelten Erde stand und dabei lachte vor Freude, endlich allein zu sein. Aber diese hatte nun einen anderen Sinn als früher. Vormals war meine Freude echt. Mein Einsamkeitsbedürfnis war so groß, die Menschen empfand ich als so durchaus störend, dass mir Abgeschiedenheit ausschließlich Glück bedeutete. Jetzt hatte mein Lachen unverkennbar den Charakter der Schadenfreude. Und zwar lachte ich so über mich selbst. Mein Geist hatte sich abgelöst von mir, ich war irgendwie eins geworden mit der Erde. Und dennoch war ich einsam. Und diese Einsamkeit war schauerlich.

Ich war in der Fremde. Nichts Unliebes hatte mir ehedem dieses Wort bedeutet, denn niemals hatte ich mich fremd gefühlt im Gegensatz zu dem, was zu mir gehört. Wesentlich fühlte ich mich als Gast auf Erden und als Wanderer von Fremde zu Fremde in meinem Element. Nun, da der Kontinent des dritten Schöpfungstags mir mein Irdisches ins Bewusstsein gehoben hatte, wurde das anders. Und die Veränderung war mir ein desto befremdenderes und damit deutlicheres Erlebnis, als mein Geist nirgends je glücklicher war als drüben; die Art von Sympathie, die mir einzig wertvoll ist, strömte mir dort wunderbar reichlich zu. Nun empfand ich als entscheidend bedeutsam, dass nichts mir in dieser Welt verwandt war. Unter diesen Sternen war ich nicht geboren. Dieser Himmel war mir unübersichtlich. Nichts an und von dieser transäquatorialen Erde gehörte ursprünglich zu mir. Und mit den Untergründen dieser Menschen gab es für mich keine mögliche sympathetische Berührung. Da verstand ich die tiefe Gegenständlichkeit des Bildes vom Stammbaum. Im Erd-Verstande gehört zu einem nur, was die gleichen Wurzeln hat. Ein unüberbrückbarer leerer Zwischenraum trennt Baum von Baum.

Für diese Zugehörigkeit, deren Bedeutung mir gerade am Erlebnis der Fremdheit deutlich ward, steht dem Menschen das Sinnbild des Bluts. Man versuche nicht, es zu durchdringen oder aufzulösen und in Intellekt-gemäßeres zu übersetzen. Wo es verstehende Beziehung zu Wirklichkeiten zu gewinnen gilt, welche nicht der rationalen Sphäre angehören, erlebt allemal die Situation eine Wiedergeburt, aus der die ersten Denker ihre Weltbilder schufen. Da ist das, was man durch die drei Koordinaten: voraussetzungsloses Erleben, erstmaliges Sehen und unmittelbares Einsehen am wenigsten falsch definieren mag, das eine, was zur Erkenntnis nottut, beim Schöpfer wie beim Nach-Denker. Und der exakteste Ausdruck für Gemeintes ist da nicht der Begriff, der da am meisten aus-, sondern am meisten einschließt. Es ist das Wort in seinem archaischen Verstand, das wohl das chinesische Ideogramm oder die nordische Rune, nicht jedoch moderne Schrift entsprechend wiedergibt; es ist das Sinnbild, welches dadurch, dass es bestimmtes Erleben evoziert, wie eine angeschlagene Saite gleichgestimmte anklingen lässt — nicht dadurch, dass es Neues auf Bekanntes zurückführt — zwischen Innen- und Außenwelt ein Entsprechungsverhältnis herstellt. Solche Sinnbilder sind desto besser, je vieldeutiger, nicht je eindeutiger sie sind; je mehr Ober- und Untertöne sie zusammen mit den angeschlagenen in der Seele zum An- und Mitklingen bringen. Das Sinnbild Blut steht für den gleichen Zusammenhang, für den auch der Stammbaum ein gegenständliches Zeichen ist. Nur bezieht es sich auf alle Richtungen der Zeit, nicht allein die Vergangenheit, und es betont einen anderen und spezifischen Aspekt dieses Zusammenhangs. Es ist der, welcher dem Gemüt als erster auffällt. Gehe ich von meinen Gefühlen aus, so assoziiere ich zu Verwandtschaft und Heimat an erster Stelle Wärme. Der Raum zwischen den Sternen ist kalt. Alle Fremde ist kalt. Doch auch das Keimplasma ist kalt; es gehört der Welt des dritten Schöpfungstages an. Sein Bereich und Reich ist der grenzenlose überall im verfließende gärende Schöpfungsbrodem. Wärme nun setzt Abgeschlossenheit voraus. Blut ist wesentlich warm und kann nur in der Abgeschlossenheit lebendig fließen. Deswegen ist das Blut dem Menschen erstes und vornehmstes Sinnbild ursprünglicher Zugehörigkeit. Das Urbild der Menschen-Gemeinschaft ist der abgeschlossene Körper des Warmbluts, das in und gegenüber aller Umwelt, solang es lebt, seine Eigentemperatur bewahrt. Ihre Urform ist die Blutsverwandtschaft. Diese ist und bedeutet allemal einen geschlossenen Kreis, welcher unabhängig von aller Seelenstimmung und -zustimmung besteht. Mit diesem geschlossenen Kreise steht und fällt Verwandtschafts- und Heimatsgefühl. Meinen Kreis hatte ich in Europa zurückgelassen. Aus den geschlossenen Kreisen Südamerikas aber fühlte ich mich desto ausgeschlossener, je näher sie mich heranzogen, denn nur auf zwei Wegen gelangt man in Verwandtschafts- und Heimatkreise hinein, welche sonst ohne Ein- noch Ausgang sind: durch Blutvermischung und durch Wurzelschlagen in der Landschaft.

So fühlte ich mich denn einsam und fremd. Aus dieser Fremdheit heraus aber trieb es mich, Heimat zu schaffen. Und aus diesem Drang heraus verstand ich den Ur-Weg der Besiedelung der Erde durch die Menschen. Welt-offen, wie er geistig-seelisch ist, musste der Mensch sich mit seinesgleichen zusammenschließen, um an ihrer Kälte nicht zu erfrieren, so wie sich Rebhühner im Schneesturm aneinander­schmiegen. Der erste Drang geht dahin, die Einsamkeit zu überwinden. Deshalb sah Gott schon wenige Stunden, nachdem er Adam schuf, dass es nicht gut war, dass der Mensch allein sei, und formte ihm die Gefährtin aus dessen eigenem Fleisch. Daher das Primat des Gruppenbewusstseins im Menschen; nicht mangelnde Individualisierung ist sein tiefster Grund, wie denn stärkstes Familien-, Stammes- und Nationalbewusstsein unter individualisiertesten und durchgeistigtesten Völkern vorkommen. Aus dem Brodem der Schöpfungsnacht ward mit dem ersten Anbrechen des Tags, da Licht die Wärme des Blutes ermöglichte, der abgeschlossene Blutsverband. Auch dessen Wurzel reicht tief in die Unterwelt hinab. Die Abgeschlossenheit des Warmbluts ist auch Sicherung, ist insofern auch Kind der Ur-Angst. Aber die Welt des Blutes ist doch eine neue Welt, die Welt des anbrechenden Tages. Und damit wandelt sich das Verfließen der Schlange, welche diesseits der Zahl west, in artikulierte Gruppen, und das Chaos ununterscheidbaren Fressens und Gefressen-Werdens in Kriegführung. Es ist verfehlt, zwischen Pflanzen- und Fleischfressern allzu säuberlich zu unterscheiden: der Unterschied zwischen beiden ist ein geringerer noch, als der zwischen ausbeutender Wirtschaft und vergewaltigender Politik, die immer wieder ineinander übergehen: das Wesentliche ist, dass beide hungrig sind und von Lebendigem leben. Ebensowenig gibt es in diesem Zusammenhang einen wesentlichen Unterschied zwischen Tier und Mensch. Schon das jagen der Raubtiere ist echter Krieg. Und da es sich dabei um Ursprüngliches, mit der Erdhaftigkeit des Lebens unlöslich Zusammenhängendes handelt, so führt kein Fortschritt über die Bedeutung des Blutsverbandes, und was damit zusammenhängt, endgültig hinaus; so können Urzustände auf jeder Stufe neu bestimmend werden. Daher die Bedeutung der Sippe in den modernsten Kreisen Südamerikas. Alteingesessene argentinische Familien bilden richtige Stämme, gleich denen der Kinder Israel; nicht nur äußerlich, auch innerlich halten sie unerhört zusammen; bei kürzester Trennung ist ihnen, als zerrisse etwas in ihrer Seele. Hier fassen wir eine weitere Wurzel der Freude am Krieg: gerade in der Stunde des Überganges in die letzte Einsamkeit der kalten Todesnacht will der Mensch Zusammengehörigkeit spüren. Daher der moderne Nationalismus. Wo lange Perioden der Zusammenfassung der Menschen in Staaten unabhängig vom natürlichen Zusammenhang, wo zumal ins Privatleben tief eingreifende intellektgeborene Mächte, wie das Kapital, die Bedeutung des Blutes direkt zu erledigen drohen, dort drängt es die Urkräfte krampfhaft zur Abwehr an die Oberfläche. Nur Staatsverbände vereinheitlichter Tradition, in denen den Normen des Blutes selbstverständlich Rechnung getragen wird, wie im Nachkriegseuropa an erster Stelle Frankreich, sind heute nicht nationalistisch im primitiven Gruppenverstand. Und so kann in durchgeistigtester Zeit, bei besonderer Konstellation, das Blut unmittelbar als Schicksal empfunden werden, so wie dies in nordischer Urzeit geschah. Dies gilt vom deutschen Rassen-Idealismus, den eben deshalb kein Volk sonst ähnlicher Bildung versteht. Wahrscheinlich in Kompensierung hypertropisch entwickelter Sachlichkeit legt der Deutsche heute vielfach den Nachdruck auf das Blut in vorzeitgemäßem Sinn und Grad. Dann ist es natürlich Schicksal, wird es zum Schicksal. Dann muss völlig irrationale Blutpolitik als sinnvoll einleuchten. Denn überall bedingt Beachtung und Betonung, Belebung.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
IV. Blut
© 1998- Schule des Rades
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