Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

IV. Blut

Anpassung an die Umwelt

Das Blut und das, wofür es als Sinnbild steht, gehört ganz und gar der Erde an. Mehrere Male schrieb ich unwillkürlich Heimat, wo ich Verwandtschaft meinte. So mündet Meditation des Blutproblemes ganz von selbst in die des Zusammenhangs des Menschen mit seiner Landschaft ein. Vom Zusammenhang des Blutes mit der Erde ist nie abzusehen, auch beim Nomaden nicht. Des letzteren Zustand spiegelt in spezifizierter Form den Unterschied des freibeweglichen Tieres von der verwurzelten Pflanze. Nomaden sind unter Menschen im besonderen das, was unter Tieren die wüsten- und steppenbewohnenden Raub- und Huftiere darstellen. Auch von letzteren kann man sagen, dass ihnen die Seelenhaftigkeit des Standwildes fehlt. Aber andererseits stammt das meiste Herrenmenschen- und das meiste wagemütige Händlertum von ursprünglichen Nomaden her.1 Jedes Lebewesen passt sich seiner Umgebung an oder wird von dieser gemodelt. Die extreme Variabilität und besondere Sensibilität des Menschen bedingt, dass dies bei ihm im höchsten Grad der Fall ist. Auf die Dauer entsteht allemal als letzte Gegebenheit eine Synthese von Erde und Blut, welche so fest und zäh ist, dass der Irrtum wohl verständlich ist, der Oswald Spengler unterlief, da er die Wurzel aller Kultur einseitig in der Landschaft sah. Wäre Spengler im Recht, dann hätten so viele Kulturwandlungen auf gleicher Erde unmöglich stattfinden können. Wohl aber stellt einmal geschaffener Zusammenhang von Blut und Erde eine unauflösliche Einheit dar. Je länger er gedauert, desto schwerer gelingt es, eine Gestaltung einseitig auf das eine oder das andere Element zurückzuführen. Sogar das ursprünglich Geistgeborene tritt dann als integrierender Bestandteil in die Synthese von Blut und Erde ein, das Wort wird Fleisch, und nur im Fleische ist es wirksam. Das aber bedeutet, dass nicht das an-sich-Sein des Geistes, nicht seine Wahrheit, nicht sein Wert die kulturelle Bedeutung bedingt, sondern seine Wirklichkeit im Rahmen der Erscheinung, als Verstanden-Werden und Betätigung. Dies nun hängt ausschließlich von den vitalen Kräften ab, die ihn empfingen. Was Spengler zu seiner Theorie einer selbständigen Landschaftsseele verführt hat, ist der Umstand, dass die Lebensmodalität des Menschen, je mehr er sich verwurzelt, desto mehr mit derjenigen der Pflanze konvergiert, die in ihre Umwelt unlösbar hineinverwoben ist. So erweisen sich alteingesessene Völker auf die Dauer wirklich als Kinder der Gesamtlandschaft, welcher sie zugehören; so sehr leben sie von ihr her und auf sie hin. Empfindungen entstehen aus Umweltseindrücken; diese setzen sich in Gefühle um. Letztere heften sich an die Umwelt, welcher sie angemessen sind; sie steigern sich durch gegenseitige Ansteckung, differenzieren sich; das Differenzierte fixiert sich, die verschiedenen Zweige verschiedener Wurzeln anastomosieren sich, und schließlich ist tatsächlich eine besondere Landschaftsseele da, welche freilich von den besonderen Menschen, welche sie bewohnen, abhängt, doch einmal vorhanden, als psychische Atmosphäre jeden Eingeborenen von Hause aus bildet und jeden Zuwanderer ergreift. Diese Landschaftsseele ist das geschichtlich Entscheidende, so lang sie lebt. Sie zu besiegen gelingt sogar Religionen, von Theorien zu schweigen, nie, denn der einseitigen Machteinheit des Geistgeborenen steht da ein Gefüge sämtlicher Kräfte entgegen, welche den Menschen machen in seinem Zusammenhang mit der Natur. Sitten, Gebräuche, Gewohnheiten sind auf die Dauer so festgelegt in ihrer Eigenart, wie körperliche Funktionen. Ob der Zusammenhang von Mensch und Landschaft die Form einer Kultur annimmt, hängt nur insofern von der Landschaft ab, als Kultur sich nur bei Verwurzelung entwickelt. Nomaden sind meist geistiger als seßhafte Völker, aber als solche und für sich allein bringen sie Kulturen nicht hervor. Über dieses ganz Allgemeine hinaus entscheidet bei aller Kulturentstehung das Blut und dessen Fähigkeit, Geist zu empfangen und Geistiges zu gebären. Wohl mag Erde die zur Geistesbetätigung erforderlichen Organe spezifisch anregen und ihr Wachstum fördern; so hängt die religiös-metaphysische Begabung der Inder sicher irgendwie mit den Kräften der indischen Erde zusammen. Doch Kultur steht und fällt mit ihrem Sinn und geistigen Gehalt, und niemals ist dieser aus Erdhaftem abzuleiten.

Legen wir nunmehr den Akzent auf die Erdseite des Zusammenhangs, den wir zuerst vom Blute her betrachteten, so lernen wir am meisten an der inneren Beziehung des Menschen zu neuer Erde. Genau wie diese als Sicherung gegen die Vereinsamung Familiensinn weckt, genau so weckt junge Erde heißeste Heimatliebe. Sie tut es in ähnlichem Sinn, wie das junge Weib heißeste Leidenschaft entzündet, zumal wenn der Mann nicht vollkommen sicher ist, es endgültig an sich gebunden zu haben. Das Heimatgefühl des Festverwurzelten gleicht demgegenüber den beinahe unbewussten Gefühlsbanden, welche alte Eheleute verknüpfen. Die heimatliebendsten Menschen dieser Zeit sind meiner Erfahrung nach die Südamerikaner, und deren Betrachtung führt deswegen am schnellsten zum Überblick der Seite des Problems, welches die seelische Bedeutung der Erde am deutlichsten erweist. Woher kommt es, dass in Südamerika, trotz aller Blutmischung, mehr Europäisches fortlebt und zu dauern verspricht, als in den Vereinigten Staaten Nordamerikas? Es kommt daher, dass die Spanier im Gegensatz zu den Angelsachsen sich der neuen Erde hingegeben haben. Letztere traten niemals in lebendige Beziehung zu ihr; im industriellen Zeitalter kehrten sie sich sogar bewusst von ihr ab. Damit zerriss das lebendige Band zwischen Mensch und Landschaft; die Nahrung des Teiles der Seele, der mit der Erde zusammenhängt, wurde immer kärger, und so bildete sich die Seele immer mehr zurück. Damit ging aber die europäische Tradition ihres physiologischen Substrates verlustig. Nur im Körper von Gefühlen und Gewohnheiten lebt selbst die geistigste Tradition unsterblich fort. Geist als solcher bindet nicht und schafft auch keine Bindung.

Alle Bewohner der Iberischen Halbinsel nun kennzeichnet primäre Anerkennung der Erde und Zukehr zu ihr. Destierro, desterrado (Enterdung, enterdet) sagt der Spanier dort, wo der Franzose exil, exilé, der Deutsche Verbannung, verbannt sagt. Die Erde stand von je so sehr im Vordergrunde seines Interesses, dass er eben deshalb nie unbefangen die Rassenfrage gestellt hat; die kurze Zeit betonter Reinblütigkeit in seiner Geschichte war Ausdruck krampfhafter religiös bedingter Reaktion auf allzuviel Blutmischung. So erhoben sich die Kolonialen gegen die Spanier zur Zeit der Befreiung ausdrücklich als nacidos en la tierra, als in der neuen Erde Geborene, die deshalb selbstverständlich ein anderes waren, als die Eingeborenen der Iberischen Halbinsel und sich darum ein selbstverständliches Recht zusprachen auf sonderliche Existenz. Da es nun von der Akzentlegung des Menschen in sich abhängt, welche Teile seiner Seele belebt werden und damit wachsen und gedeihen, so leuchtet ein, dass die Erde im Fall des Spaniers einzigartige Gelegenheit hat, ihre sämtlichen Kräfte im Menschen auszuwirken. Mehr als jeder andere Mensch stellt sich der Hispanier als Sohn des Bodens dar, den er bewohnt; schneller und tiefer als jeder andere schlägt er kraft seiner inneren Einstellung in ihm Wurzeln. Dies erklärt, warum er allein in Europa durch die Jahrtausende hindurch sich selber gleich geblieben ist, trotzdem nirgends mehr Überschichtungen und Blutmischungen stattgefunden haben als auf der Iberischen Halbinsel. Wie ich die Ruinen Numantias besichtigte, jener Keltibererfeste, die, so winzig sie war, den Legionen Scipios jahrzehntelang widerstand, da staunte ich über die Geistesgleichheit mit allen späteren großen Erscheinungsformen des Hispaniertums. Das keltiberische Blut ist auf der Halbinsel schon seit Gotentagen kaum mehr als ein Sauerteig — doch fortlebt der gleiche Individualismus, der gleiche Partikularismus, die gleiche Biegsamkeit und Fähigkeit, Strapazen zu ertragen, die gleiche Zähigkeit, die gleiche Treue zu sich selbst, die gleiche Kraft der Defensive. Alles zugemischte Blut hat sich dem ursprünglich bodenständigen schnellstens angeglichen, weil eben aller Nachdruck auf der Erde lag. Die gleiche Einstellung bedingt freilich höchste Differenzierung innerhalb des Hispaniertums, weshalb es auf der Iberischen Halbinsel mehr und ausgesprochenere regionale Typen gibt als irgendwo in Europa — doch die psycho-physische Einheit der Halbinsel als solcher blieb zu aller Zeit das entscheidende Moment. Insofern nun der Hispanier mit allen seinen Gefühlen in der Erde wurzelt und auf sie hinlebt, hat seine Seele mehr an den Erdkräften teil, als die irgendeines anderen Europäers: die ganze emotionale Sphäre durchblutet zentraler irdischer Lebensquell. Eben daher denn auch sein besonderes inniges Verhältnis zum Blut, obgleich er die Rassenfrage gar nicht stellt: ihm ist das Blut das Sinnbild irdischen Lebens, wie keinem Europäer mehr seit den Tagen des Mithraskults. So liegt beim Spanier auch beim Christentum aller Nachdruck auf dem Irdischen. Das Christentum ist ihm wesentlich Agonie, wie Miguel de Unamuno so schön und überzeugend ausführt, nicht Überwindung des Todes; das Verströmen des Bluts des Heilands, also richtiges Menschenopfer im urtümlichen Verstand, ist ihm die Hauptsache. In jenem gewaltigen Bildwerk der Kathedrale zu Burgos, das den Zusammenhang aller Welten versteinert darstellt, hängt der gekreuzigte Christus leibhaftig, aus dem Plan des Himmels heraustretend, dem Beschauer näher, in die Erdenwelt hinein.

Diese ihre erdgewaltige, erdgeschwängerte Seelenhaftigkeit nahmen die Conquistadores nach Amerika mit. Nicht nur als Krieger kamen sie — sie führten von vornherein Vieh und Getreide mit, um gleichsam in mitgebrachter Heimaterde neue Wurzeln zu schlagen. Und da sie also mit dem lebendigen Erd-Teil ihrer Psyche zur neuen Erde in Beziehung traten, fand überall Vermählung statt. Einerseits wurde der Einfluss der neuen Erde von Hause aus widerstandslos hingenommen, andererseits konnte das Verpflanzbare aus Europa sogleich neue Wurzeln schlagen. Dies denn erklärt das Fortleben der europäischen Kulturtradition in Südamerika im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten. Dort ging es so zu, wie mit einem nach dem Ausgraben sofort neu eingepflanzten Baum. Und in vielen Fällen hat sich der südamerikanische Boden dem Alten holder erwiesen als der ursprüngliche, so wie manche Gewächse in fremder Erde besser gedeihen oder schönere Blüten treiben oder bessere Früchte tragen. Viel reicher entwickelt und ausgeschlagen als daheim erscheint die Gefühlsseite des hispanischen Familienzusammenhanges auf der neuen Erde, da drüben das Gegengewicht des aus anderer Wurzel entsprossenen Individualismus fehlt. In Südamerika begegnet man heute beinahe mehr und lebendigeren alt-spanischen Sitten als daheim. Im Gaucho lebt der caballero andante, der fahrende Ritter, fort; im kultivierten Peruaner der höfische Spanier des 17. Jahrhunderts; im undisziplinierbaren Revolutionär und im skrupellosen caudillo aller Staaten der Sohn des Zeitalters Machiavellis. Und so ergreift spanische Sitte unaufhaltsam auch den modernen Einwanderer; den Italiener, den Syrier, den Slawen. Bei dieser Konservierung spielt der Einfluss des ultrakonservativen Indianers natürlich mit. Dank dem leben in Südamerika gelegentlich sogar, in Form richtiger Mumifizierung, verjährt-europäische Zuständlichkeiten fort; das heißt nicht lebendige alte Sitten und Gewohnheiten, sondern verhärtete Geisteszustände. Mehrfach begegneten mir drüben posthume Vertreter des Geists von 1800-1830, sogar physisch den damaligen Menschen gespensthaft ähnlich. In einer Stadt musste ich gar an Conan Doyles Lost World zurückdenken: wo ich’s am wenigsten erwartete, im äußersten Winkel der Welt, fand ich die letzten Exemplare von Molières femmes savantes, pathetisch in ihrer unentwegten Echtheit; Frauen, welchen Geist und Geistesbetätigung ein noch Unnormales war, die ob dieser gepflegten Exzentrizität willen Geschmack und Takt und weibliche Intuition und Wirklichkeitssinn vollkommen verloren hatten.

Weil also aller Akzent bei den Nachkommen der Spanier auf der Erde liegt, steht der wachsenden Entvitalisierung und Entseelung des Nordamerikaners beim Südamerikaner immer reicheres Ausschlagen der Erdseite des Menschen gegenüber. Und dieses Erdhafte pflanzt einerseits Altes fort, während es andererseits überall den Originalstempel der neuen Erde trägt. Tritt der Mensch im Daseinskampfe fremder Natur gegenüber, dann ist Anpassung an die Umwelt so sehr Elementarerfordernis, dass zunächst nahezu alles durch Milieu erklärbar scheint. Das stärkste allgemeine Beispiel dessen bietet im heutigen Weltzustand keine Anpassung an neue Erde, sondern die der Mehrzahl aller weißen Menschen an die neuen Bedingungen, welche die industrielle Revolution erschuf. Wie lang ist es her, seit der erste moderne Arbeiter geboren ward? Wissen viele, dass John D. Rockefeller den ersten Trust organisierte und dass damit die ganze Standardisierung des nordamerikanischen Menschen auf diesen einen Mann zurückgeht? — In Südamerika schuf die Erde und keine industrielle Konjunktur den Menschen nach ihrem Bilde um. In der Pampa konnten die Spanier nicht die Gärtner und Weinbauer bleiben, die sie zu sein gewohnt waren. So erwuchs der beduinenähnliche Gauchotyp. Aber die Indianer konvergierten ihrerseits mit den Einwanderern. Auf den Pampas und Llanos schuf erst die Einführung des Pferdes dem Menschen normale Daseinsmöglichkeit: kaum war aber dieses Bindeglied da, da entstanden, wie über Nacht, echte Reitervölker, nicht minder zu Pferde geboren wie Beduinen und Kaukasier, mit entsprechenden Grundgefühlen. Doch dieses Oberflächliche nur zur verständniserleichternden Einführung. Das wichtigste an der Veränderung des europäischen Einwanderers durch die neue Erde ist das bestimmend-Werden der Schicht des dritten Schöpfungstags. Nichts Kaltes, nichts Reptilienhaftes lebt im Spanier. Doch ebensowenig kennt dieser jene für Südamerika so charakteristische Süßigkeit, von welcher später ausführlich die Rede sein wird. Wenn ich der Südamerikaner spanischen Bluts in bezug auf ihre peninsularen Vorfahren gedachte, fiel mir allemal das Gleichnis in Wasser aufgelösten Zuckers ein. Auch der Spanier ist in seinem intimsten Wesen süß und zart, aber er erscheint kristallinisch und hart; diese Seite ist in der neuen Welt verlorengegangen, während das Süße sich überallhin ausgebreitet und gesteigert hat. Charakteristischerweise braucht der Argentinier in seiner Ausdrucksweise dort passive Wendungen, wo der Spanier selbstverständlich die aktive bevorzugt; jener sagt z. B.: Ich werde von meinem Vater geliebt und nicht mein Vater liebt mich. Gleichsinnig verlorengegangen ist in der neuen Welt der spanische Glaube, während Indifferentismus und Fatalismus fortleben. Andererseits aber hat der Hispanier auf der neuen Erde an Differenziertheit und geistiger Behendigkeit gewonnen. Er ist neugierig geworden im ganzen reichen Sinn des deutschen Worts, was der Spanier so gar nicht ist.

1 Man lese die ausgezeichneten Betrachtungen über dieses Problem in Otto Corbachs Offene Welt (Berlin 1932, Ernst Rowohlt Verlag).
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
IV. Blut
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