Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

V. Schicksal

Neid der Götter

Von dieser Erkenntnis her hätten wir eine Koordinate mehr zum Verständnis dessen gewonnen, was Blut bedeutet. Denn Blut ist unter anderem auch Schicksal, und unter Umständen dessen wichtigster Teil. Und von hier her wird deutlich, wie sehr nahe es liegt, mit dem Schicksal zu rechten, es sei denn, ein Glück sei so vollständig und so vollkommen, wie es das Menschengeschlecht von je als Provokation beurteilt hat, die den Neid der Götter weckt. Man darf geradezu sagen: nur der Höchstüberlegene rechtet gar nicht mit seinem Schicksal, denn nur er ist groß genug, um frei zu akzeptieren, was von ihm nicht abhängt, was mit ihm nicht identisch ist und doch unlöslich zu ihm gehört. Nicht umsonst tragen die vollkommen schöne Frau oder der Mann als vollendeter Rassemensch oder die in allen Hinsichten reich ausgebildete Persönlichkeit ihr Haupt bis zur Hybris hoch: sie verkörpern eine Glückskonstellation, welche den Glauben an Gnadenwahl nahelegt. Meist aber gilt hier in entsprechender Umdeutung der Satz, dass der Geist willig, jedoch das Fleisch schwach sei. Wir bemerkten es schon: in höheren Entwicklungszuständen des Menschen rührt das meiste Ressentiment, der meiste Neid, das meiste Häßliche daher, dass der Geist in seinem Freiheitsbewusstsein nicht anerkennen kann, dass Schicksals-Ungunst seinem guten Willen Grenzen setzt. Warum sollte ich nicht ebenso berufen sein als jener andere? Warum soll ein anderes Volk größere Werbekraft beweisen oder eine höhere Stellung einnehmen als das meine? Warum darf ich nichts Bedeutsames leisten, wo ich nicht unbegabter bin, als viele, deren Leben Erfüllung war? In solchen Gedanken wurzelt die tiefste Kraft der Proletarierrevolution. Die ungeheure Wucht der Massenbewegungen dieser Zeit ist nur aus der geistig-seelischen Kraft, welche Revolte gegen Schicksal auslöst, begreiflich. Und solche Revolte ist an sich nicht unwürdig. Gleichsinniges Aufbegehren war es, das den Menschen aus dem scheinbar ein für allemal auf bestimmte Art konsolidierten Naturzusammenhang überhaupt heraushob. So war jede Revolution Auflehnung gegen Schicksal, und glückte sie, so verehrte die Nachwelt ihre Führer allemal als Helden. Bescheidung ziemt dem Menschen, in der Tat, allein von der Erfülltheit seiner höchsten Möglichkeiten her. Bis dahin, ist möglichst unbegrenzter Ehrgeiz, ja Begehren des Unmöglichen das einzige gerade dem Menschen-Schicksal Gemäße; denn hier spielt, im Gegensatz zum Schicksal des Aals, die freie Initiative die wichtigste Rolle. Deswegen lehrt jede höhere Religion, dass auf guten Willen letztlich alles ankommt.

Wohl aber muss jeder sein Schicksal insofern als letzte Instanz akzeptieren, als er sich nicht anders will, als der er ist. Und da hat mir meine Fremdheit in der südamerikanischen Welt die Augen für manches geöffnet, was ich früher übersah, oder vielmehr so nicht sah. Mir ward der Sinn der Bedingtheit alles Jetzt und Hier durch spezifische Vergangenheit klar. Ich fühlte mich dort fremd nicht allein wegen fehlender Verwandtschaft, sondern auch, weil ich die meisten Probleme von Hause aus aus anderer Perspektive sah als die Südamerikaner, welcher Umstand letzte Verständigung ausschloss; wir redeten nicht die gleiche Sprache. Jedes Jetzt und Hier ist und bedeutet anderes, je nachdem was hinter ihm liegt. Ist es lange, durch kein Unstetigkeitsmoment unterbrochene, in der Tradition wenn nicht des Bewusstseins so doch des Unbewussten fortlebende Vergangenheit, dann schafft diese kumulierte Erinnerung einen besonderen Ausgangspunkt für das Erleben, welchen niemand faktisch einzunehmen vermag, der nicht die gleiche Geschichte hinter sich hat, und nur der Mensch höchster Einbildungskraft, der nicht Verwandtes verkörpert, nacherleben kann. Hierauf beruht die besondere Mystik des Nationalismus. Jeder wurzelbewusste Spross eines Gestalt gewordenen Volks trägt ein Intimes in sich, das er mit allen gleich wurzelbewussten Volksgenossen teilt, jedoch mit keinem Angehörigen fremder Völker; so empfindet er jedes Dreinreden dieser nicht nur als unstatthafte Einmischung, sondern als Entweihung. Auf dem gleichen beruht der besondere Hochmut alter Rassen. Sie tragen wirklich ein Wissen in sich, welches jüngeren fehlt, und verkörpern ein diesem entsprechendes überlegeneres Sein. Daher die physiologisch schwer erklärbare größere Kraft, welche altes Kulturblut im Mischungsprozess beweist. Joseph Reibmayr hat in seiner Entwicklungsgeschichte des Genies und des Talentes nachgewiesen, dass sich diese größere Kraft — oft nach langer Inkubationsperiode — doch irgend einmal unfehlbar manifestiert; so beruht das fortschreitend spätere Auftreten großer Begabungen im nachantiken Europa von Süden und Westen gen Norden und Osten zu auf der in der gleichen Richtung fortschreitend geringeren Zumischung antiken Kulturbluts. Das gleiche Phänomen tritt besonders klar in Südamerika zu Tage. In Mexiko und Peru indianisiert sich der Spanier; dort wohnten Völker älterer Kultur als es das spanische war, und demgemäß steht dort eine indianische Renaissance zu erwarten. In Chile hingegen europäisiert sich der Araukaner, denn er hatte keine eigene Kultur. Allgemeiner aber haben alle alten Völker genau im gleichen Sinn bestimmte Erinnerungen, wie Individuen. Die Franzosen sind anders als die Deutschen, weil sie eine bestimmte große Revolution erlebt haben, und zwar Ende des 18. Jahrhunderts. Die Spanier sind anders als die anderen Europäer, weil ihre Erinnerung einerseits ins Prähistorische zurückreicht, andererseits jedoch Renaissance, Reformation und 18. Jahrhundert nicht mit einschließt. Insofern ist Rasse ein sehr realer Wert; nicht zwar im Verstande angeblich besseren oder schlechteren Blutes, sondern im Sinne dieser oder jener zu Sein und Übung gewordener Erinnerung als physiologischer Tatsache, die natürlich sehr verschiedenwertig sein kann. Jahrhundertelanges Sklaventum bedingt ebenso notwendig bestimmte Erbgesinnung, wie jahrhundertelanges Herrentum. Das heutige Europa und Russland erschiene moralisch nicht so häßlich, wenn nicht allzulange Unterdrückte in ihnen bestimmten.

Andererseits aber beginnt jedes, auch das in ältester Tradition verankerte Leben neu mit jeder Generation, als sei nichts vor ihr dagewesen, und dieser Umstand ist in jedem Falle mit zu berücksichtigen. Alle Jugend schüttelt das Haupt, wenn die Älteren sie mit ihrer Erfahrung führen wollen über den Zustand des Flüggewerdens hinaus. Und sie hat recht: ihr bestimmter Insertionspunkt in das Weltgeschehen ist nicht der ihrer Erzeuger, weshalb sie gerade von diesen am seltensten richtig gesehen und beurteilt werden; denn diese gehen ja in den meisten Fällen vom Vorurteil aus, dass die Kinder den Eltern gleichen müssen. Dies Verhältnis übersteigert sich im Fall des Zusammenpralls von alten und jungen Völkern. Mutter-Nationen vergessen, dass die bloße Tatsache, dass die Geschichte der Tochter-Nationen später als die ihre anhub, sie zu wesentlich anderen Völkern macht. Jede Nativität ergibt eine neue und einzigartige Grundsituation, zumal eine Grenze nach rückwärts zu, jenseits welcher nichts persönlich Bedeutsames liegt; sie ergibt eine besondere Perspektive für die Anschauung und einen besonderen Takt des aktiven Lebens. Schon Revolutionszeiten datieren, wenn sie irgend können, die Zeitrechnung um. Wenn die der Juden und griechisch-orthodoxen Christen mit der Weltschöpfung anhebt, wenn die Zeitrechnung der alten Römer mit der Gründung der Stadt und die der Jakobiner mit der französischen Revolution begann, so erleben wir heute gleiches bei den Faschisten. Bleibt es bei alten Völkern, die jedoch am Geschichtsprozesse teilnehmen, nie beim Exklusiven, so liegt das daran, dass immerhin ein gemeinsamer Strom die Vorwärtsstürmenden und die Beharrenden trägt. Doch neue Völker auf neuer Erde graben sich neue Strombetten, und so hätten sie ein Götterrecht, anderes Zeitmaß anzuwenden als wir. Die Geschichte der beiden weißbesiedelten Amerikas begann erst mit der Kolonisation. Auswanderer nehmen, mit geringer Übertreibung ausgedrückt, nur den heimatlichen Körper, nicht jedoch die heimatliche Seele mit. Beide Amerikas verstehen deshalb unsere vergangenheitsbedingte Problematik überhaupt nicht, denn für sie lebt diese nicht mehr. Sie haben an anderer Stelle als wir in das Lied der Geschichte eingestimmt, sie haben einen anderen Insertionspunkt in das Weltgeschehen, und dies ergibt eine grundverschiedene Melodie und einen anderen Rhythmus; denn das spezifische Gewicht der gleichen Ereignisse ist ein anderes für die neue als für die alte Welt. Die Nordamerikaner sind anders als die Europäer unter anderem deshalb, weil sie niemals Heiden waren; ihre Geschichte setzte erst im 17. Jahrhundert puritanisch-christlich ein. Die Südamerikaner begannen ihr historisches Dasein im Zeitalter Machiavellis und des Landsknechttums. Diese Tradition wurde dann durch die friedliche alt-spanische überschichtet, und wenn schon Spanien Renaissance, Reformation und 18. Jahrhundert für sich nicht erlebt hat, so gilt gleiches erst recht für Südamerika. Dazu tritt die Beeinflussung des europäischen Einwanderers durch den Lebens-Rhythmus der Indianer sowie durch die lange Tradition der Oberherrschaft über Sklaven, die dank dem arbeitsverachtenden Kavalierethos der Spanier besonders tiefe Spuren in den Seelen zurückgelassen hat. So entsinne ich mich eines Fragments eines kubanischen Lieds, in dem ein Sohn seine Mutter ansingt, ihr damit höchstes Lob zu zollen meinend:

El solo trabajo que hiciste
Soy yo que te le di

(Die einzige Arbeit, die du je geleistet, ist die,
welche ich [nämlich durch das Gebären] dir gab.)

Andererseits aber sind alle Südamerikaner durch das Europa, das nach der französischen Revolution entstand, und damit vor allem durch Frankreich, tief beeinflusst; dies macht sie der Zukunft zugewandt, liberal gesinnt im Verstande der Weltanschauung, die seit dem Weltkrieg in Europa stirbt, und trotz aller natürlichen Passivität der Intention nach fortschrittlich. Alles dies zusammen ergibt eine einzigartige Synthese von Altem und Modernem. Eine völlig neue Melodie mit ungeahnten Rhythmen beginnt laut zu werden in der Menschheitssymphonie. Indianische Zähigkeit und Passivität, fortwirkende Erinnerung des Entdeckungszeitalters, ausschließliche Kavaliertradition und Modernismus: diese vier Koordinaten genügen, fürwahr, um eine von der europäischen grundverschiedene Einstellung, Haltung und Lebensmodalität zu bestimmen, und damit ein anderes Schicksal. Wie sollte ich da, wo ich einmal dem Problem der Erde zugekehrt war, nicht tiefste Fremdheit spüren? Ich habe südamerikanische Horoskope nie gesehen. Doch sie müssen zumal nordeuropäischen antipodisch entgegengesetzt sein. Die Freiheit bedeutet diesen Menschen so gut wie nichts. Ihr Leben ist wesentlich Erleiden. Und trotzdem sind sie fortschrittlich gesinnt. Daraus allein schon ergibt sich ein gänzlich un-europäisches Schicksal.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
V. Schicksal
© 1998- Schule des Rades
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