Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

I. Der Kontinent des dritten Schöpfungstages

Ur-Wille zur Macht

Südamerikas kann ich noch heute nicht gedenken, ohne ein Gefühl tiefster Bindung zu erleben. Es handelt sich nicht um Liebe, wie ich sie früher kannte, sondern um das, was altafrikanische Felsenbilder meinen, wenn sie den schweifenden Mann mit der Nabelschnur an seine ferne Mutter gefesselt darstellen. Mein erstes Wort, da ich in Argentinien an Land stieg, war:

Ich komme nicht, um zu lehren, sondern um zu lernen.

Das schien mir alle Seelen aufzuschließen. Denn nun fand ich solche Bereitschaft, solches Sich-Öffnen, dass ich gab und geben konnte und geben musste, wie nie vorher. Doch indem so Tiefe zu Tiefe in Beziehung trat und das neue Kraftfeld sich vollständig auswirken konnte, veränderte ich mich selbst. In mein Bewusstsein drängten die meiner Gründe und Abgründe, die den bestimmenden Gründen jener Welt entsprachen. Ich gewann Zugang zur Schicht des dritten Schöpfungstags in mir. Das ist die Schicht, in der zuerst sich das Leben, wie wir es nacherleben können, der trägen Proté Hyle entrang. In dieser Schicht gibt es keine Freiheit, sondern nur schlechthinnige Bindung; dort herrscht auf psychischem Gebiet die vollendete Entsprechung der materiellen Schwerkraft. Dort ist Urerlebnis die Erde im Menschen, nicht der Geist in ihm. Und weil ich, der Unbändige, Unbindbare, dieser Schicht zum erstenmal auf dem Erdteil, den ich seither den Kontinent des dritten Schöpfungstages heiße, bewusst ward, fühle ich mich an seine und nicht an meine Erde gebunden.

Die ganze Tiefe meiner Berührtheit ward mir zum erstenmal auf dem Hochplateau Boliviens zur Erfahrung. Dass ich dort Ungeheuerliches erleben würde, hatte ich vorausgeahnt. An einem Nachmittage, lange bevor ich Europa verließ, fiel mir ohne bewussten Kenntnis-Anlass der Satz ein: das Interessanteste an Südamerika ist die Puna — jene innerhalb der genauen Grenzen bestimmter Erzlager, offenbar von deren Emanationen ausgelöste Bergkrankheit. So begab ich mich in innerer Bereitschaft auf ihr Revier. Doch was mir da wirklich widerfuhr, kam mir doch unerwartet — und meines Wissens hat kein Weißer Ähnliches erlebt, wohl weil keiner bisher ähnlich tief berührt ward. Die Puna durch Höhe zu erklären, ist ebenso töricht und ehrfurchtslos, wie zwecks Verständnisses der Hölle über Streichholzmarken zu spekulieren. In kürzester Frist war mein organisches Gleichgewicht zerstört. Zuerst versagten die eigentlichen Gleichgewichtsorgane, dann folgten Symptome von Groß- und Kleinhirnentzündung; Nieren und Leber erkrankten schwer, die Speicheldrüsen kündigten den Dienst, nur das Herz hielt durch. Das war mehr als Erkrankung, es war ein richtiger Aufschluss meines Organismus, gleichwie Gestein von Flusssäure aufgeschlossen wird. Ähnliche Einflüsse, nur unermeßlich mächtigere noch, müssen es gewesen sein, die im Verlauf der Erdgeschichte die katastrophalen Verwandlungen der Faunen bedingten. Mir war da ähnlich zumute, wie Reptilien zumute gewesen sein mag, da Erdeinflüsse sie zwangen, zu Säugetieren zu werden oder auszusterben. Da fühlte ich mich Teil des kosmischen Werdens genau so innig, wie sich der Embryo, hätte er Bewusstsein, als Teil eines überindividuell-organischen Prozesses fühlen müsste. Da wusste ich: ich bin unter anderem reine Erde und Erdkraft. Nicht nur als Material: dieses Nicht-Ich ist Wesensteil dessen, als was ich mich erlebe. Im Schmelztiegel der Puna rang die Konstellation von Erdelementen, die ich selbst verkörpere, mit anderen mächtigeren. Und hätte ich nicht vorzeitig den Schauplatz verlassen, es wäre entweder mein Tod, oder aber Mutation erfolgt.

Nur Mutation kann zu neuer Kräftekonstellation die Entsprechung herstellen. Einheitlich ist der Organismus und allemal als Ganzes passt er sich neuen Konstellationen an. So legen, nach astrologischer Lehre, die Sterne den Menschen in dem Augenblick als Ganzes fest, wo er sich selbständig dem kosmischen Werden einfügt. Nicht anders wirken Medikamente. Leisten solche dort, wo der Körper in seiner Tiefe ergriffen ist, erschreckend wenig, so liegt das daran, dass kein somatisches Regulationszentrum des Gesamt­organismus — falls es ein solches gibt — gefunden ist, weswegen bei jeder Anregung untergeordneter Zentren die Gefahr besteht, dass ein Organkomplex auf Kosten anderer geheilt wird. Deswegen stirbt der Mensch, bis auf ganz seltene Ausnahmen, zu seiner Stunde; die besonderen Anlässe sind nur auslösende Momente. Dass nun Stoffverbindungen überhaupt wirken, beruht auf dem letztlich Erdhaften der Physis. Schon sind manche Hormone, die Zauberer unter den Stoffen, synthetisch herzustellen: grundsätzlich sind es alle, denn bei allen handelt es sich um Erdkräfte (nichts letztlich Organisches), und ihr scheinbar ausschließlich Lebendiges beruht nur darauf, dass Leben sie auf spezifische Weise bindet, ob in Form unbewusster Regulation oder chemischer Kunst.

Wie ich nun im Schmelztiegel der Puna um meine Identität rang, da erreichte mein eigenes Mineraltum mein Bewusstsein. Und ich begriff jene Todessehnsucht, die mich immer wieder mit dem Zwang des Schwindels ergreift, in einem neuen Sinn. Der Tod ist vom Erdbewusstsein her Erlösung. Welcher Kampf, welcher Krampf liegt im Leben-Müssen! Von Gleichgewichtsmangel zu Gleichgewichtsmangel entzieht sich eine Kräftekonstellation, die in bezug auf jedes einzelne ihrer Elemente künstlich ist, unermeßlicher Übermacht. Wenn sich da die Glieder lösen, wie Homer das Sterben so schön beschreibt, da handelt es sich um echte Lösung; daher die Befriedung des Antlitzes zu rechter Zeit natürlich Verstorbener. Und so hatte vom Erdbewusstsein her der Buddha vollkommen recht: der Sinn des Lebens ist seine Aufhörbarkeit. Buddha war im Zeichen des Stieres geboren. Tief eingesenkt und verfestigt im stofflichen Samsara, musste er Lösung als Befreiung empfinden.

Diese Übermacht tellurischer Einflüsse hat den Menschen der andinen Höhe geprägt. Es hat symbolische Bedeutung, dass Fürstenwohnungen noch in der Tihuanacu-Zeit in Form und Format von Gräbern angelegt wurden: dieser Mensch ist recht eigentlich mineralisch. Freilich kann der Akzent im Organismus so liegen, dass die Eigenart des Minerals bestimmt. Driesch hat mit Recht die Voraussetzung alles möglichen Philosophierens in dem Satz ich habe bewusst etwas zusammengefasst: ist erstes Erlebnis das Haben, und nicht das Sein, dann ist die logische Folgerung nicht abzuweisen, dass Bewusstsein von Ich und Geist nicht notwendig primär sein muss. Tatsächlich entsteht es entwicklungsgeschichtlich zuletzt. Soweit es sich um das Erleben organischer Vorgänge handelt, scheint der Tatbestand jedem geläufig, obgleich auch er schlechterdings unverständlich ist, da das Denkende im Menschen geistig ist; deswegen leuchtet keine Schöpfungsgeschichte ein, deren primus movens nicht der Geist wäre. Anders steht es dort, wo Anorganisches bestimmt. In Alto-Peru ging mir zum erstenmal der Sinn jener Mythen auf, nach denen der Zwerg, der unterirdisch hausende Erzgräber und Schmied, gegenüber dem Menschen das ältere Geschöpf sei. Nie schaute ich so bronzene Seelen, wie die jener Höhenbewohner, nie befremdete mich mehr, was ich doch als Menschentum anerkennen musste. Diese Trägheit und Zähigkeit, dieses ungeheuerliche Gedächtnis, diese Unempfindlichkeit jenseits der Oberfläche, deren Sensibilität eines Sinnes ist mit der schnellen Erhitzung und Abkühlung von Metallen, dieses selbstverständliche Nichtbeachten der Geschichte, diese dumpfe Melancholie, welche diesseits des bloßen Begriffs der Hoffnung west, ist recht eigentlich anorganisch. Kommt man einmal auf diesen Zusammenhang, dann erscheint er auch nicht mehr unerklärlich, so unverständlich er bleibe. Alle Bestandteile des Menschen bestimmen mit in ihm; die Umwelt, welche ihn formte, gehört organisch zu ihm: so muss auch der Geist des Metalls, die Tugend des Minerals an der Bildung der Seele mitwirken. Ja, wird nicht jeder, in dem der lebendige Geist nicht vorherrscht, mit dem Alter der Erde sich nähernd, mineralisch? Rührt daher nicht dessen Unheimliches für alle Jugend? Es verhärten nicht allein die Gefäße, sondern auch Gesinnung und Seele. Das typische Alter ist konservativ, zäh, materiell, oberflächlich aus Undurchlässigkeit. So wird der Zwerg von keiner Mythe anders als greisenhaft beschrieben.

Hier nun, in Bolivien und Alto-Peru, handelt es sich überdies wohl um historisches Alter. Meinem Gefühl nach sind diese Indianer viel älter, als Geschichtsforschung wahrhaben will. Warum leben sie auf so unsinniger Höhe? Sie flüchteten wohl da hinauf, als im Westen und Osten Festländer oder Rieseninseln ins Weltmeer absanken. Mich mutet diese Hochkultur um den Titicaca-See herum unmittelbar unmenschlich an. Die Landschaft rauher als in Nordsibirien, die Erzemanationen lähmend, wenn nicht mörderisch, der Boden trostlos karg. Wie versteht man hier den Kult des warmen Bluts und den des Goldes als schwerebefreiter flüssiger Sonne! Die Steppen auf viertausend Meter Höhe, rauh und grau, kahl und fahl, über die sich schier ebenso hoch wolkenartig geformte Schneeberge türmen, vergegenwärtigen recht eigentlich die Zeit, da die Erde noch wüste und leer war. Desto mehr, als sie nicht unbewohnt sind — nie hatte ich den Eindruck ähnlicher Verlassenheit, wie beim Anblick der Lama- und Eselherden, welche traurige kleine Menschlein trieben, in letzter Selbstbejahung mit leuchtend roten Ponchos angetan, die Weiber im grotesken Kopfputz grauer Zylinder.

Wie ich in dieser phantastischen Welt weilte, konnte meine Seele nicht umhin, zu mythisieren. Ich schreibe den kosmogonischen Einfall, der mir da kam, zur Erinnerung nieder. Schwerlich entspricht er der Wahrheit, aber sinnlos scheint er mir nicht. — Als der Mensch des mineralischen Zeitalters aus seiner Höhle auskroch, da vertraute er sich dem Lama an, welches schon vor ihm da war, das ist das urtümlichste der Haustiere. Nicht der Mensch zähmte dieses, so wie der Mensch den Hund geschaffen hat, sondern das Lama züchtete sich den Menschen, auf dass er seinem Dasein Sinn gäbe. Das Lama verkörpert den Ur-Willen zum Dienst; der aber ist der Ur-Wille zur Macht. Nachgeben-können kennzeichnet zuerst das Lebendige, dann folgt das Vorwegnehmen des Wunsches, ganz zuletzt kommt offene Herrschaft. Und noch heute ist diese die wenigst sichere. Das Lama ist und kann alles, es verlangt nichts. Es bedarf weder der Fütterung noch sonstiger Hege. Seinerseits aber kleidet, trägt, heizt es, nach seinem Tode ernährt es. Dem einsamen Hirten ersetzte es ehemals das Weib — das bedeutet es wohl, wenn noch heute an gewissen Feiertagen das Geschlechtsteil des Lamas angebetet wird. Sogar die Lustseuche, überliefern die Indianer, soll das Lama den Menschen geschenkt haben. Seinem Wesen nach aber ist es das Urbild der Schlüsselfrau. Wie ich, krank und entsprechend feinfühlig, das erste große Leittier gewahrte, eine Truhe mit der Kasse um den Hals — die Herde zog herum, ihren Mist den frierenden Menschen zur Feuerung verkaufend, das Leittier aber erhob und betreute den Erlös —, da erschrak ich: wie es dastand, allmachtstrotzenden Blickes, mit hocherhobenem Hals, zurückgelegtem Haupt, die Lippen zum Spucken gespitzt, da evozierte es in mir die Vision der ersten Mutter der Welt, nach kabylischer Sage des ersten Geschöpfes auf Erden, wie sie mit in den Hüften aufgestemmten Fäusten vor Gott dem Herrn stand, sich Einmischung in ihre Privatangelegenheiten verbittend.

Hier oben war im Anfang das Lama, nicht der Mensch. Von jener ersten Mutter der Welt berichtet Frobenius: Einst war sie unzufrieden mit ihren Mägden. Die unsorgsamste schalt sie: Du Schwein. So ward das Wort Schwein bekannt, bevor Gott der Herr das Schwein erschaffen hatte. In unserer Welt war im Anfang das Wort. In Südamerika war das Fleisch erste Materialisation. So wirkt das Lama seit der Mineralzeit als Urprinzip körperlich fort. Beinahe überall kennzeichnen den wurzelechten Südamerikaner, gleichviel wes Blutes, gegenüber dem Europäer und Afrikaner, kleine gedrungene Gestalt, schwerer Leib und winzig kleine Hände und Füße. Wer sich angesichts der häufigen Schönheit jener Menschenart über diese Bestimmung wundern sollte, vergesse nicht, dass die Königin der Lamas die gazellenartig zarte, zierliche und unzähmbare Vicuña, und dass hier allein vom Urbilde die Rede ist.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
I. Der Kontinent des dritten Schöpfungstages
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