Schule des Rades
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen
VI. Tod
Angst vor dem Leiden
Eine Lösung aller Probleme liegt allerdings darin, keine Problematik zu spüren noch anzuerkennen und die Dinge selbstverständlich so zu nehmen, wie sie sind. Während des Weltkriegs geriet mir eine russische Erzählung in die Hand, welche mir dazumal einen tiefen Eindruck machte. Ihr Held war ein auf Lebenszeit nach Sibirien Verschickter, der in verlorener Gegend eine Fähre lenkte, die nur ein paar Menschen im Jahre benutzten. Ein junger Sträfling ward ihm zukommandiert. Und wie dieser sein Entsetzen über die Trostlosigkeit des ihn erwartenden Lebens äußerte, antwortete er gelassen, mit einem leisen Unterton von Heiterkeit:
Du wirst dich schon gewöhnen — Gott gebe jedem ein solches Leben.
Ist nicht die meiste Frauenweisheit Variation des einen Satzes es ist nun einmal so?
Die Kindheit kann und soll selig sein. Dann muss und soll die öde Routine der Schule kommen, die der genossene Feiertag unterbricht. Höchste Hoffnungen werden den Töchtern hinsichtlich der Heirat in die Seele gesät, welche die Mütter aufrichtig teilen. Nachher aber betonen sie die Selbstverständlichkeit erforderlicher Resignation. Das ist nun einmal Frauenschicksal. Die Männer sind nun einmal so. Aufs gründlichste wird jede Krankheit durchlebt; ebenso gründlich das Gefühl mählichen überflüssig- und störend-Werdens. Den Abschluss bildet Vorbereitung auf den Tod. Das ist im besten Falle, den allein ich meine, nicht Oberflächlichkeit, sondern vollkommene Identifizierung mit dem erlebten Leben, wie es ist. Diese Frauen machen sich nichts vor. Sie können sich gar nichts vorstellen, was nicht vor ihnen steht. Jedes Stadium auf dem Lebenswege erleiden sie intensiv. Sie erfahren immer genau das, was sie tatsächlich affiziert, und gleichmäßig bejahen sie alle Affektionen. Sie stehen gleich positiv zu Geburt und Tod, zu Freude und Leid, zu Glück und Trübsal, denn alles erfüllt jeweils ihr Leben. So vertragen sie das Zusehen bei fremder Qual, genießen sie schwere Krankenpflege, assistieren sie gern bei jedem ihnen zugänglichen Sterben. Dann trauern sie mit vollkommener Aufrichtigkeit. Doch ihre Trauer hat nichts mit der Idee des Abschieds für immer zu tun, sie ist einfach ein besonders tiefer Lebensinhalt. Dies gilt auch vom Zustand jener Witwe im Neuen Testament, die nicht getröstet werden wollte.
Alles dieses wird gänzlich missverstanden, wenn es als Philosophie oder Religion gedeutet wird. Das Wesentliche ist, dass hier Geistmotive gar nicht mitbestimmen; dass jede Vorstellung, jede Zusammenschau und damit jede Problematik fehlt. Es handelt sich um ein völlig unreflektiertes Mitgetriebenwerden von Sekunde zu Sekunde im Gefälle und im Rhythmus des Ur-Lebens. Aber ist das Bewusstsein in dessen Grund verankert, spiegelt es alle seine Etappen treu, dann lebt der Mensch trotz aller Problemlosigkeit ein tiefes und unendlich reiches Leben. Es ist tiefer und reicher als das jedes Vorstellungsbewussten, der nicht alles bemerkt und es nicht tief versteht. Denn das Vorstellungsvermögen bedingt zunächst Verarmung und Veroberflächlichung. Zunächst gelten da Kants Sätze, dass die Welt meine Vorstellung ist und dass der Verstand der Natur seine Gesetze vorschreibt
. Und die Innenwelt der meisten ist dürftig, und die Zusammenhänge, die der Verstand von sich aus schafft, schließen die meisten tiefen und wesentlichen Zusammenhänge aus. So hatte ich, ehe in mir in Argentinien das unmittelbare Erdbewusstsein erwachte, nie die Sehnsucht erlebt, zur Erde zurückzukehren, aus der ich hervorgegangen bin.
Doch mit dem Ausgeführten sind die Vorzüge der Identifizierung mit der blinden Unterwelt noch nicht erschöpft. Allein die Blindheit, die sich mit dem Gesetz der Erde solidarisiert, ermöglicht unbefangenes Leben überhaupt. Wer gar nicht an ihr teilhat, oder wer nicht spürt, dass Geistforderungen der Ganzheit des Lebens nicht gerecht werden, dass also nicht das Leben schuld ist, wenn es unzulänglich scheint, sondern Unvollständigkeit seines Erlebens; wer z. B. nicht erfasst, dass Leid und Schmerz nicht nur Negativa sind, sondern auch Erfüllungen, und zwar nicht nur als Vorstufen oder Antriebe, sondern an sich: wer insofern alles Blindheitserlebens verlustig ging, der muss Ähnliches empfinden, wie Prinz Siddharta, da er den ersten Kranken gewahrte. Der muss versuchen, Tod und Töten aus der Welt zu schaffen. Der muss, sintemalen dieses unmöglich ist, im Leben ein reines Übel, ein nichts-als-Leiden sehen und in einem Nirvana, einem Aufhören des Lebens in irgendeiner Form, das Ziel. Der Buddha war der tiefste aller Revolutionäre. Er suchte nicht, wie alle Religionsstifter sonst, das Absolute des Bösen und Leidvollen zu ignorieren oder wegzudeuten. Er kannte die Eigenart des unterweltlichen Lebens. Seine ganze Lehre fußte auf der Erkenntnis des Primats des Ur-Hungers; das bedeutet es, wenn ihm das Leben, nach Paul Dahlkes glücklicher Paraphrasierung, ein einziges Essen und Gegessen-werden war. Die einzigartige Erhabenheit seiner Lehre beruht aber darauf, dass sie Ausdruck einerseits der reinen Ur-Angst ist, in Buddhas Spezifizierung der Angst vor dem Leiden, und andererseits der Überwindung derselben durch äußersten Mut, den Mut zum vollkommenen Wachsein, zum vollständigen Sehen des Lebens, wie es ist, in seiner ganzen Furchtbarkeit. Der Buddha lehrte und unternahm nichts Geringeres, als mittels geistgelenkten Triebs den Lebenstrieb zu vernichten. Aber wenn der Buddha der tiefste aller Revolutionäre war, welcher je gegen Bestehendes ankämpfte, so konnte er eben deshalb keine Weltwende einleiten. Wohl ist es möglich, vom Geiste her die Natur in neue Zusammenhänge einzubeziehen; nie aber, sie zu vernichten. Die mögliche Lösung gab der Buddha mit seinem Leben, nicht mit seiner Lehre. Es ist möglich, solche innere Überlegenheit zu erreichen, dass man es aushält, vollkommen erwacht
das Leben so zu sehen und hinzunehmen, wie es ist, und dabei vollkommen selig zu sein. Aber es ist nicht möglich, die unterweltliche Wurzel dieser Seligkeit auszureißen.