Schule des Rades
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen
VII. Gana
Verfallenheit
Betrachten wir nun die Fragen, welche uns hier beschäftigen, von höherer Warte aus, so wird uns, meine ich, endgültig klar, inwiefern im Anfang das Weib war und nicht der Mann: die Gana ist einerseits die Urform lebendiger Strebung überhaupt, andererseits weibliche Ureigentümlichkeit. Sie lebt freilich auch in jedem Mann, nur eben in einerseits spezialisierter, andererseits latenter oder rudimentärer Form. Von der spezifisch männlichen Gana werden wir später handeln. Hier nur so viel: vollkommen unecht erscheint der Mann, wo er sich weibartig auslebt. Daher das objektiv Lächerliche des Mannes als nichts-als-Familienvater
. Ist es Sitte, über den Pantoffelheld zu lächeln, der jeder Mann der wirklich geliebten Frau gegenüber ist, so bedeutet das Ablenkung aus unbewusstem Takt, so wie es im Hause eines Großonkels von mir geboten war, vor jungen Mädchen tambour an Stelle von amour zu sagen. Daher das Pathologische des Don Juan. Wie ich in Spanien zuerst über diesen Typus Gespräche pflog und zugleich sein klassisches Abbild im Madrider Prado sah, da fiel mir auf, dass Don Juan überall in Spanien, im Gegensatz zu Europa, als effeminiert vor- und dargestellt wird. Das Bewusstsein des Spaniers spiegelt eben noch die primär erlebte und geistig bejahte Gana; deshalb sagt sein Instinkt ihm, was kein heutiger Deutscher oder Franzose weiß. Kann ein Mann von Frau zu Frau vergessen, an jeder neuen Einzigartiges erleben, dann ist er weibisch. Man verwechsle dies ja nicht mit dem echt männlichen Eroberertum, welchem auch an dauerndem Eigentum nichts liegt. Der echte Eroberer ist das Gegenteil des Don Juan: er ist nicht Gana-besessen, er verfolgt von Verkörperung zu Verkörperung ein Seelenbild und ist den Frauen dauernd untreu nur aus Treue zu ihm. Wogegen der Don Juan unter Frauen Normalerscheinung ist. Wo immer ihr Geschlechtstrieb oder ihre Erotik zur selbständigen Macht wird, liegt es in der Frau, immer wieder freibleibend
zu verfallen. Hier führt eine stetige Reihe von der grande amoureuse über den Typus, von welchem Goethe schreibt,
Fraun, gewohnt an Männerliebe,
Sind nicht Wählerinnen, sondern Kennerinnen
bis zur Courtisane. Denn nur ganz selten ist diese bei ihrem Geschäfte gar nicht dabei
. Es kennzeichnet sie nur ein abnormes Verhältnis der Überlegenheit ihrem Körper gegenüber und ein auf Geld spezialisierter Besitztrieb. Die Courtisanen genießen einen unverdient schlechten Ruf. Sie sind in ihrer Mehrheit durchaus nicht kriminell, sondern gutherzig und nächstenliebend. Sie sind nicht arbeitsscheu, wie alle echten Verbrecher, sondern höchst gewissenhaft und ausdauernd in ihrer Arbeit. Ihre Käuflichkeit ist nur ein Sonderausdruck des typisch-weiblichen und durchaus berechtigten Anspruchs, ausgehalten zu werden. Und es finden auch viel mehr Prostituierte, als man glaubt, ins bürgerliche Leben zurück. Außerordentlich viele gediegene Kneipenbesitzerinnen zumal Südfrankreichs haben ihr Betriebskapital durch käufliche Liebe verdient. Im übrigen vergesse man nicht jene japanischen Samurai-Töchter, die noch vor kurzem für eine Zeit ins Freudenhaus zogen, um dem Bruder den Dienst in einem guten Regimente zu ermöglichen…
Wohl aber stellt die Courtisane keinen Typus dar, welchen die Frau aus eigenem Gesetz hervorbringt, was die besondere Verständnislosigkeit der anderen Frauen für diese Abart ihrer erklärt. Die Courtisane ist die Frau, die in ihrem Sein den Wünschen des Mannes, der sich nicht binden will, am meisten entgegenkommt und insoweit ihrer Weiblichkeit untreu wird. Denn das Urweib will vor allem binden. Es will den Mann so unfrei machen, wie es selber ist. Freilich will auch der Mann die geliebte Frau dahin bringen, dass sie nicht anders kann, als liebend zu gehören. Aber letzteres erleidet die Frau doch so gern. Sie wartet ja nur darauf, erobert zu werden und trägt es dem Bewerber als Verfehlung nach, wenn ihm die Eroberung missglückte. Die Frau ist so ganz und vollkommen Gana-Wesen, dass sie im Verfallen niemals in Konflikt mit sich selbst gerät, so dass sie sich im Gehören desto mehr behauptet und andererseits wiederum ohne weiteres los kann, wenn die Melodie ihrer Liebe ausgespielt ist. Anders steht es mit dem Manne. Dieser verliert sich selbst, indem er verfällt, denn seine spezifische Lebensform ist nicht von der Gana her bestimmt, deren Gesetze er nicht instinkthaft kennt. Ihn wirft Verfallen meist aus seiner Bahn. Und vom Manne her allein ist klar ersichtlich, inwiefern es sich bei der Gana um ein nach unten zu Tieferes handelt, als beim seelischen Gefühl, denn beim Mann besteht keine normale Bewusstseinsverknüpfung von Gana, Empfindung und Emotion. Verfallenheit ist bei ihm wesentlich nicht das, was er als Liebe vorstellt. Schon deshalb nicht, weil Verfallenheit nie mit Vorstellung zusammenhängt. Es ist nie eine Imago nie eine Anima, die unlöslich bindet. Im Verfallen wird der Mann so blind, der Sonderart der Gana gemäß, dass man füglich zweifeln mag, ob es sich bei solchem Gehören überhaupt um ein psychisches Verhältnis handelt. Die Beziehung ist vorpsychisch, ja, sie ist vorphysisch; sie ist eine Urbeziehung auf der Ebene des dritten Schöpfungstags, der gegenüber sogar die Nabelschnur, die auf alt-afrikanischen Felsenbildern den schweifenden Sohn an die ferne Mutter kettet, ein veräußerlichendes Bild ist. Männer solcher Bannkraft sind selten. Nicht nur weil beim Mann die Vorstellung primär ist, was mangelnden Bezug auf die Wirklichkeit bedingt, sondern weil er von Instinkts wegen erobern, nicht besitzen will. Deswegen binden die Männer, welche am schnellsten und sichersten verführen, am wenigsten dauerhaft; sie fürchten ja auch selbst nichts mehr, als gebunden zu werden.
Doch die Frau, deren Gana bannen kann, bindet absolut und rettungslos. Die also bannende Frau ist das Erd-Weib. Sie ist selten geistreich; ihre Seele ist stumm. Ihr eignet oft eine bis zur Starrheit passive brütende Weiblichkeit, welche tiefer wurzelt als Sinnlichkeit und Mütterlichkeit. Fast ohne etwas zu tun, zieht sie den Mann unaufhaltsam in die Unterwelt hinab. Das ist das feuchte
Weib Goethes, von dem er sang
Halb zog sie ihn
Halb sank er hin.
Und dieses urmächtige Urweib, diese femme fatale, bannt meistens, ohne es zu wollen; ihre am meisten in die Augen springende Anziehungskraft beruht gar oft darauf, dass sie an ihrer Verführungskraft leidet. Sie empfindet es als Fremdes gegenüber ihrem Ich, sie möchte von ihrer Bannmacht erlöst sein und anstatt zu herrschen, dienen. So ist die geistbegabte femme fatale fast immer eine Kundry. Doch durch diese Einstellung bannt sie desto mehr, denn nun regt sie des Mannes Phantasie mit an; wie jede Frau erlösen will, so will es auch jeder Mann. Aber die unüberwindlichste, die letztlich siegreiche Bannkraft liegt doch gerade in der Tiefe, an welcher Kundry leidet. Sie liegt unterhalb des Bereiches möglicher Vorstellung, möglicher Bilder, unterhalb des Bereiches des Eros der Seele, unterhalb des Sexus. Sie liegt in der Unterwelt des dritten Schöpfungstags, wo sich die fahlen finsternis-durchlässigen Schlangen mit den Basilisken-Augen in unlöslichem Zusammenhängen und Verfließen in ewigem Kreise winden. Verfallen Männer dieser Kraft, dann handelt es sich um Unterweltlicheres als bei aller Liebe und bei allem Begehren. Da setzt eine gleich schlechthinnige unlösliche Abhängigkeit nach unten zu ein, wie sie der religiöse Mohammedaner als Islam nach oben, zu Gott zu, spürt. Dass hier ein anderes als Liebe im Spiel ist, beweist allein die unheimliche Unpersönlichkeit solcher Bindung. Sie ist insofern der richtige Gegensatz zur echten Passion im spanischen Verstand, die das absolute Gehören einer bestimmten Frau, doch als Persönlichkeit, mit Leib und Seele bedeutet, und die den Menschen sublimiert, insofern Körper und Seele verschmelzen und jedes Atom in den Dienst idealer Vorstellung tritt. Diese Unpersönlichkeit allein erklärt das Furchtbare der Verfallenheit. Es ist die Unpersönlichkeit der Wesen der Schöpfungsnacht, welchen Töten und Getötet-Werden, Fressen und Gefressen-Werden eins sind. Deswegen spiegelt sich Verfallenheit im Bewusstsein immer zugleich als Liebe und als Hass. Sie bedingt überschwengliche Eifersucht, denn die Ausschließlichkeit der Gana verlangt unbedingte Alleinherrschaft. Der Kampf gegen die innere Fesselung, die jeder Verfallene unbewusst führt, zeitigt Grausamkeit. Allzuleicht, beinahe freudig mündet sie ein in Mord. Diese Äußerungen des verfallenen Mannes bedeuten ganz anderes, als die äußerlich gleichen der verfallenen Frau. Der Frau ist die Verfallenheit Heimat, natürliches Milieu. Sie will gebunden sein, will leiden. Glaubt sie allem Tatbestand zum Trotz an den Geliebten, so ist das nicht Verblendung, sondern reichstes Ausleben ursprünglicher Frauennatur. Mag sie noch so sehr von Eifersucht gequält werden: es entspricht ihrem Gana-Wesen, dass sie eifersüchtig sei, und insofern leidet sie lieber, als dass ihr Leben leer sei. Ihre Grausamkeit bedeutet nie mehr als Liebes-Spiel und ihr Morden und Selbst-Morden nie mehr als Laune. Deshalb verurteilt kein verständiger Gerichtshof eine Frau, die einen crime passionel beging. Tragischer Konflikt setzt bei der verfallenen Frau erst dann ein, wenn sie Geistigem verfiel. Dem Mann, dessen sämtliche Normen der Oberwelt angehören, bedeutet Verfallenheit immer Fall. Deshalb verachten Frauen instinkthaft den, welcher verfallen konnte und ziehen ihm den treulosesten und grausamsten vor.
Und doch ist das ursprünglich Böse hier, wie überall, der Untergrund alles Großen und Schönen. Nur die Frau, welcher der Mann verfallen konnte, inspiriert ihn, denn nur sie macht seine Urkräfte frei. Und alle irdische Schöpfung stammt als Gestaltung von der Erde. Es wird die ewige Tragödie der allzugeistigen Frau bleiben, dass gerade sie nicht Muse und Sibylle sein kann. Wohl gehört die Sibylle und Muse auch nie dem Typus des brutalen Erd-Weibs an. Aber Erd-Weib muss sie sein, durch und durch. Nur von der Erde her kann sie das Schöpferische im Mann zur Betätigung anregen; deshalb spielte die Frage des Besitzens oder Nicht-Besitzens im Fall von Liebesbeziehungen, die Künstler und Muse verbanden, allemal eine ausschlaggebende Rolle. So waren auch alle weiblichen Propheten wesentlich Erd-Weiber; als Erd-Wesen wussten sie von Künftigem; sie wussten von dem Schicksal, welches nicht metaphysisch ist. So ist es denn kein Wunder, dass die Höchstgestalten der eigentlichen femme fatale von ungeistigen Völkern hervorgebracht worden sind. Der Carmen-Typus ist spezifisch spanisch. Ich könnte mir leicht denken, dass in Südamerika noch einmal ungeahnt Gewaltiges dieser Art geboren werden könnte, denn Südamerika ist der Gana-Kontinent par excellence. Schon gibt es Vorboten dessen. José Ortega y Gasset behauptet, dass Paris zur Zeit der französischen Revolution de facto von einigen Creolinnen beherrscht wurde. Im Fall Joséphines zum mindesten trifft das zu. Sie war durchaus femme fatale. Sie war durchaus ungeistig. Aber ihr war Napoleon verfallen. Und das war es, was ihm sein ungeheures Werk ermöglichte. Suprem hellsichtig, wie er war, hütete er sich, sich von ihr loszureißen; klar bewusst ließ er ihre immer wiederkehrenden Helena-Verfehlungen und Quälereien hingehen. Er wusste, dass seine ungeheure Geistesfreiheit diese Bindung an das schlechthin Unfreie, dass sein Tätigkeitsdrang die Fesselung an das schlechthin Träge als Ergänzung forderte. Gleichsinnig forderte seine Logik ihre Unberechenbarkeit, seine Beherrschtheit ihre Undiszipliniertheit. Der Mensch soll eben gar nicht nur
frei sein, und je tiefer er ist, desto weniger will er es. Je freier er ist als Geist, desto mehr braucht er andererseits Bindung an die Erde. So will der Tag die Nacht letztlich gar nicht besiegen. Es ist nicht wahr, dass Zeus die Titanen in den Tartaros, aus dem ihr Ruf nicht mehr heraufdringt, verbannt, oder Christus der Schlange den Kopf zertreten hätte. Nichts verständlicher, als dass neugeborene und deshalb leichtfertige Geistes-Religion, im ursprünglichen Wortsinn der Bindung an das Geistige, solch falschen Mythos ersann. Wie die Hellenen nur die Schönheit gelten ließen, so lehrte Jesus die himmlische im Gegensatz zur irdischen Liebe; nicht die Jungfrau Maria, sondern Maria Magdalena ist die Zentralgestalt des Christentums. So lehrte der Brahmanismus Überwindung der Gana durch Entsagung, und der Buddha, alle Erdenbande wegzuanalysieren mit dem Endziel so vollständiger Enthaftung, dass schließlich nichts mehr da ist. Doch hienieden ist und bleibt die dunkle böse Unterwelt der Mutterschoß aller nur möglichen Lichtwelt. Und deshalb ist Weltflucht hienieden immer zugleich Ausdruck der Ur-Angst; deshalb beruht Verherrlichung des Schwachen gegenüber dem Starken immer auch auf Ressentiment und damit auf unterweltlich Bösem. Und Unsterblichkeitssehnsucht immer zugleich auf unersättlicherem Ur-Hunger, als solcher je spanische Habsucht beseelte.