Schule des Rades
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen
I. Der Kontinent des dritten Schöpfungstages
Moral des Drachen
Auf der Höhe der Cordilleren mit ihren Erzlagern, von denen noch heute Emanationen ausgehen, wie sie einstmals Faunen und Floren plötzlich verwandelt haben, ward ich mir meiner Mineralität bewusst. Doch schon wie ich auf See Brasilien nahte, klangen die Grundtöne des auf das mineralische folgenden Zeitalters in mir an. Das war, als ich des Wesensunterschieds zwischen der letzten Insel afrikanischen Gepräges und der ersten brasilianischen gewahr ward. Und ein verwandtes Landschafts-Kardiogramm fand ich überall in Südamerika wieder, wo die Erde nicht wüste und leer
ist. Ein seltsam blasses oder fahles Grün, bisweilen silberartig schillernd. Die Sonne entweder so abgeschwächt, dass es sogar in den sommerlichen Tropen selten des schützenden Helms bedarf, oder aber nicht anders sengend, wie auf der Tundra im Hochsommer auch. Im südamerikanischen Spektrum müssen manche rote und gelbe Strahlen fehlen. Der Wassergehalt übersteigt überall, wo nicht gerade Wüste oder Hochgebirge ist oder die Hochsommerhitze solche zeitweilig schafft, den aller anderen Erdteile. Gesamtergebnis ist, dass die südamerikanische Landschaft eine noch so abgeschwächte Wiederverkörperung des Gleichgewichts zwischen Lebendigem und Leblosem darstellt, das jenen frühesten Zeiten eignete, da Lebendiges zuerst aus eigenem Gesetz bestimmte. Südamerika perpetuiert diese in ähnlichem Sinn, wie die Massai-Steppe in Afrika die Tertiärzeit des griechischen Pikermi, oder die Tiefsee die Fauna des Mesozoikums. Es ist kein Zufall, dass in Südamerika noch gegen Beginn unserer Ära Mastodonten von Indianern gejagt und Megatherien als Haustiere gehalten wurden. Die allgemeine Verteilung der Naturkräfte ist auf diesem Kontinente so, wie sie anderweitig längst aufgehört hat zu existieren. Beim genealogischen Alter in bezug auf später Gewordenes handelt es sich ebensowenig um ein zeitlich Absolutes, wie beim gegenseitigen Verhältnis von Schöpfer und Schöpfung. Haeckel missdeutete die Aufeinanderfolge der Phasen der Embryonalentwicklung dahin, dass die Individualgeschichte die Artgeschichte repetiere: in Wahrheit war das Kaltblut nicht notwendig im Zeit-Verstande vor dem Warmblut da — von frühester Vorzeit an sind die meisten organischen Typen festzustellen —, sondern jenes verkörpert eine tiefere Schicht des Lebendigen überhaupt, was sich in allen theoretisch möglichen Erscheinungsformen einer gleichen funktionellen Grundbeziehung ausprägen mag, so unter anderen denen onto- und phylogenetischer Folge. Deswegen ist alles, was je war, noch heute virtuell vorhanden, zur Aktualisierung bereit; ob und wie diese erfolgt, hängt von der Grundverteilung der Erdkräfte ab.
In diesem Sinn nun beherrscht Südamerika, wo sich das Lebender Mineralität entrang, der Zeitgeist, dessen organischer Urausdruck das Kaltblut ist. Wie ich mich, noch in Europa, in die ersten Südamerikanerseelen versenkte, kamen mir Schlangenvisionen: ich schaute gepardelte und getigerte Rumpffragmente mächtiger Pythonen, vom durch die Kronen der Bäume gesiebten Lichte fleckenweis erhellt, hervorquellend und -rollend aus grundlosem trübem Teich. In ihrer Heimatlandschaft gewann diese Unterwelt, die das außer mir Wirkliche als Entsprechung in mir heraushob, ihr ursprünglich-urtümliches Gepräge. Alle Farben verblassten, alle festen Umrisse verschwammen. Ich fühlte mich umronnen und umwälzt von einem Gewühl sich windender Larven, wobei das erste Mal die schaurige Musik des Schatten-Tanzes im Orpheus von Gluck in mir anklang, als bedeute diese notwendige Begleitung. Und wirklich ist sie’s: nur im Tempo hat der große Seher sich geirrt. Zeitlupenhaft langsam, so wie sich heute das Chamäleon bewegt, kreucht und schleicht die Brut der Unterwelt im Kreise, in unendlich-geschlossenem Raum. Und Menschen-Schatten ähneln diese Larven am wenigsten. Sie sind keine richtigen Schlangen, aber schlangenhaft; Steigaalen, jener frühesten Form des entlarvten Aals, sehen sie am ähnlichsten, nur dass sie nicht Licht-, sondern gleichsam Finsternis-durchlässig sind. Wie ich zuerst die kalten schleimigen Leiber auf mich zukriechen und die Unzahl starrer glasiger Basiliskenblicke auf mich gerichtet sah, erschrak ich; ich fühlte mich dem Bösen preisgegeben. Doch bald merkte ich, dass sie weder auf mich zukrochen noch auch mich anstarrten; sie waren ständig bewegt, doch richtungslos, und obwohl weitoffenen phosphoreszierenden Auges, blind. Und dann offenbarte sich mir, dass das, was in mir zuerst die Assoziation des Bösen wachrief, nichts anderes ist als das Ur-Leben; die Qualifizierung entsteht dadurch, dass ein verzerrender Spiegel es auffängt. Und dann verstand ich auch, warum das unterste Leben sich gerade als Schlange im Tagesbewusstsein spiegeln muss, wie denn die Chaldäer für Schlange und Leben nur ein Wort besaßen. Unser Bewusstsein kann nur spiegeln, was am Lichte teil hat. Die Unterwelt ist aber unaufhellbar finster. So erscheint sie, wenn überhaupt, als Gegen-Schatten, als Gegenteil des Schattens an die Oberfläche projiziert, das Blinde als sehend, das Träge als geschwind, das Unsichtbare als glänzend; so erglitzert das was an sich
unterweltlicher Urwurm ist, der nimmer aufsteigen kann, als listige, böse und kleinodhafte Schlange.
Aber vor allem handelt es sich nie um ein besonderes Tier, auch nicht um viele, sondern um ein Diesseits der Zahl; alle möglichen Schlangen zusammen bilden eine einzige Ur-Mannigfaltigkeit, ein unzerreißbares, doch ständig sich entschlingendes und verschlingendes, vergehendes und neu werdendes Ur-Etwas, bei dessen Schau mir als einzig adäquat der Ausdruck Schöpfungsbrodem einfiel. Dieses Ur-Etwas ist das Gegenteil von bildhaft und seelenhaft; von der Erde her gesehen, gibt es keine Urwelt beseelter Bilder. Die Urwelt ist zwar ständig bewegt und gärend, aber blind und dumpf; sie verhält sich noch zu dem, was Tiefenpsychologie mit scheinbar größtem Recht als urtümlich hervorzuholen wähnt, wie Darmbewegung zu künstlerischem Schaffen. Tiefer als die tiefste Seelenkunde schürfen kann, liegen unermeßliche Reiche des Wesenden, die dem üblichen Begriff des Physischen zwar auch entrinnen, doch nur vom Körper her erlebbar sind. Alle, die den Zusammenhang mit den irdischen Müttern nicht ganz verloren, haben wenigstens in kurzen Augenblicken erlebt, was das Wort Wissen des Bluts
bedeutet. Doch es gibt auch im Menschen Tieferes als das Blut. Blut ist schon flüssiges Licht. Blut ist schon Lebens-Tag. Doch vor dem Tage war die kalte Nacht. In seiner untersten Schicht ist das Leben kalt, schleimig, viskös, es ist Gallert im Gegensatz zum Mineral, unzerreißbar wie Polypenarme, wuchernd, erstickend. Das zeitlose Dasein der Minerale wird hier zum unaufhaltsamen Werden in der Zeit; das Gesetz der Erhaltung der Energie, welches das Reich jener in ewig schönem Gleichgewicht erhält, ordnet sich hier dem Gesetz unbegrenzter Wucherung und Vermehrung unter, und dieses hat zur Urgrenze den Mord, dessen bloße Möglichkeit beweist, dass die Gleichung des Lebens wesentlich nicht aufgeht. Und Mord gab es lange vor dem natürlichen Tod, der vielleicht eine Kompromissschöpfung ist zur Beschwichtigung dämmernden moralischen Bewusstseins.
Die Prokreation nun — nur dieses Fremdwort gibt vollkommen der Ur-Sinn alles Zeugens und Gebärens wieder — verewigt auf allen Ebenen den Urgeist des Kaltbluts. Dass dem so ist, tritt auch beim Menschen allemal zu Tage, wo sich seine Sinnlichkeit losgelöst auslebt. Dann kriecht allemal aus der dunklen Unterwelt die kalte Schlange herauf. Daher die glasigen Augen der Huren, das Fahle des Wüstlings; bei beiden muss Rauschgift, je länger desto mehr, die Eigenwärme ersetzen. Daher zumal das schweißig Kalte des Onanisten. Hier gehört der Sexus in die Latrine; in wurmhafter Konvulsion gibt er dem Sumpf seinen Urschleim zurück. Daher das Häßliche im Ausdruck der Männer, welche nichts als Sinnenbefriedigung wollen. Daher die kalte Grausamkeit von Mann und Weib, in denen Urtrieb bestimmt, wenn ein Teil des anderen überdrüssig ward; da löst die Moral des Drachen jäh und übergangslos diejenige des Menschen, so wie er sein sollte, ab; wenige Verbrechen sind so gemein, wie die tagtäglich totgeschwiegenen Erscheinungen intimen Zerwürfnisses. Daher das so häufige Bittere, Verkrampfte, Verzweifelte im Ausdruck jung Vermählter, deren Bewusstsein gewaltsam von früher unbekannten Urtrieben übermannt wird. Diese Urliebe ist verschwistert mit dem Tod. Hierzu bietet der männliche Frosch nach vollzogener Dauerhochzeit das Sinnbild für alle Kreatur. Daher letztlich das Häßliche aller Sexualorgane. Sie gehören der Unterwelt an, der Schöpfungsnacht; nicht umsonst dienen gleiche Gebilde der Fortpflanzung und Ausscheidung. Sobald der Mensch sich seiner losgelösten Sinnlichkeit verschreibt, wird auch er zu Schöpfungsbrodem. Dann ist die Unzahl Spermatozoen, welche der Mann bei jedem Akt ejakuliert, sein entsprechender Ausdruck.
Freilich muss das von der Erde her beurteilt ursprüngliche Leben dem selbstsicher gewordenen Tagesbewusstsein böse erscheinen. Zersetzung, Fäulnis, Gestank sind allgegenwärtige Begleiterscheinungen der Vermehrung, und alle Selbstbehauptung fordert häßliches Tun. Diese Häßlichkeit erscheint einseitig herausgestellt und materialisiert in der Schlangen- und Molch-Welt. Welch entsetzliche Phantasie erschuf die brasilianischen Riesenkröten, diese lebendigen Fallen und Apotheken, deren Mörderaugen, umkränzt von grotesk tätowierter Haut, aus dem Schlamm und Kot, in dem sie sich vergraben, gemütlich heraufblinzeln! Welch grauenvoller Einfall, Lebendiges als Gifterzeuger zu typisieren! Wer sich dessen Entsprechungen in der Menschenwelt vergegenwärtigt, muss zugeben, dass es sich hier um objektiv Häßliches und Böses handelt. Nur liegt eben das Böse insofern allem Guten objektiv als seine offenbar notwendige Unterwelt zugrunde. Dieser Evidenz gegenüber nützen moralische Erwägungen nichts. Das übliche Preisen der Schönheit der Natur beruht großenteils auf dem unbewussten Versuch, deren Unterseite zu verdecken, so wie sämtliche Hochzeitsbräuche unter Menschen den eigentlichen Zweck überkleiden. Tatsächlich verhält sich das Schöne in der Natur zum Häßlichen, im großen betrachtet, nicht anders, wie die seltene Blüte zur perennen Wurzel. Nur dass die Wurzel hier Zersetzung, Verwesung, Fäulnis, Schmutz, Gestank, Unform, Scheußlichkeit und selbstverständlicher Dauermord ist. Die abstoßendsten Begleiterscheinungen der Krankheit und des Sterbens sind zugleich nicht allein Begleiterscheinungen, sondern Bedingungen und Vorstufen alles Neuwerdens. Wie mir dies am Eindruck des Werdens und Vergehens im brasilianischen Urwald, wo kaum festzustellen gelingt, wo das Sterben aufhört und das Geborenwerden beginnt, ganz deutlich ward, da ging mir der ganze Wahnwitz der Paradoxie des Ideals der Reinheit auf. Dieses Ideal, auf die Erde übertragen, ist recht eigentlich erdfeindlich. Und sein Überzeugendes scheint mir Beweis dessen, dass eine unserer Wurzeln nicht irdisch ist: es beweist Ursehnsucht nach Erdüberwindung. Zumal das nordamerikanische Bestreben, die Erde endgültig zu entschmutzen, bedeutet unmittelbaren Widersinn; es unterfängt sich, die Dunkelheit und Finsternis auch irdisch zu überwinden. Das aber ist unmöglich. Solange es Geburt und Tod gibt, kann das irdisch verstandene Reinheitsideal niemals verwirklicht werden. Und tatsächlich fördert es nicht, es sterilisiert. Es sterilisiert nicht allein die Kost von schädigenden Mikroben, sondern das Leben überhaupt. Alle Geburt erfolgt aus der Erde heraus. Alles Entstehen ist schmutz- und grauenbehaftet. Was die Weltanschauung des reinen Geistes in die Hölle bannt, ist der irdische Mutterschoß alles Lebens. Kein primitiver Maler erfand je Schauerlicheres, als was alles Ur-Werden charakterisiert.
In Südamerika bedingt es der bestimmende Geist des dritten Schöpfungstags, dass dieses Schauerliche zuerst überall beeindruckt. Dort sieht der Mensch unwillkürlich die Magna Mater von Angesicht zu Angesicht. Ich schreibe einige Stellen aus dem Roman des Columbianers José Eustasio Rivera La Voragine heraus, der, wie immer es mit ihm als Kunstwerk bestellt sei, als bisher größte Epopöe des mörderischen Urwalds gelten muss. Da schildert Rivera einen Einbruch der Tambochas, jener fürchterlichen fleischfressenden Ameisen, wahrer Wespen ohne Flügel, roten Kopfs und zitronenfarbigen Rumpfs, die durch die Angst, welche ihr Gift der gesamten Schöpfung einflößt, überall, wohin sie kommen, siegen wie ein Präriebrand.
In jede Höhlung, jede Spalte, jede Ritze, in alle Bäume, alles Laub, alle Nester und Bienenstöcke dringt die dicke stinkende Welle ein, welche Vögel, Ratten, Reptilien verzehrt und ganze Völker von Menschen und Tieren in die Flucht jagt.Und weiter schreibt Rivera von der Termite:Sie lässt die Bäume dahinsiechen wie von galoppierender Syphilis; an der Oberfläche unmerklich zermahlt sie Gewebe und Rinde, bis dass sie plötzlich auf einmal schwer in sich zusammenbrechen… Indessen aber schafft die Erde immer wieder Erneuerung. Am Fuß des verfallenden Riesen sprießt der Keim; inmitten der Miasmen fliegt der Pollen; überall der Atem des Gärens, heiße Dämpfe des Halbdunkels, der Duft des Todes, der Marasmus der Prokreation…
Wo findet man da die Poesie der Einsamkeit, wo bleiben die Schmetterlinge, welche durchsichtigen Blumen gleichen, wo die magischen Vögel, der singende Bach! Arme Einbildungskraft der Dichter, die nur gezähmte Einsamkeit kennen! Nichts von verliebten Nachtigallen, nichts von Gärten à la Versailles, nichts von sentimentalen Panoramas! Hier ist die Heimat der Responses aufgedunsener Kröten, des Stauwassers faulenden Röhrichts. Hier herrscht der aphrodisische Parasit, welcher die Erde mit toten Bienen bedeckt, hier die Mannigfaltigkeit obszöner Blumen, die sich wie Geschlechtsorgane zusammenziehen und deren klebriger Geruch wie eine Droge berauscht; hier die bösartige Liane, deren Flaumhaar die Tiere blendet, die Pringamosa, welche die Haut entzündet… Und in der Nacht unbekannte Stimmen, phantasmagorische Lichter, das Schweigen der Beerdigung. Der Tod geht vorbei und gibt Leben. Man hört das Aufschlagen der Frucht, die im Zerbersten Saat verheißt, das Fallen des Blattes, das die Berge mit unbestimmten Seufzern erfüllt und sich dem väterlichen Baum zum Dung anbietet; das Knirschen der Kiefer, welche fressen, aus Angst gefressen zu werden; das Gepfeife der Aufgestörten, das Stöhnen der Sterbenden, das Gerülpse der sich Entladenden. Und wenn das Morgenrot über den Bergen seine tragische Glorie offenbart, beginnt das Lärmen der Überlebenden: das Gegurre der Tauben, das Gegrunze der Schweine, das groteske Gelächter der Affen. Alles um der kurzen Freude willen, einige wenige Stunden mehr zu leben…
Dieser sadistische und jungfräuliche Wald weckt in der Seele die Halluzination ständig-naher Gefahr. Die Pflanze ist ein feinfühliges Wesen von uns unbekannter Psychologie. Spricht sie zu uns in dieser verlorenen Einsamkeit, dann versteht ihre Sprache allein das ahnende Vorgefühl. Unter seinem Drucke spannen sich alle Nerven wie Seile — zum Angriff, zur Falle, zum Verrat. Die Sinne wechseln ihre Tugenden: das Auge hört, der Rücken sieht, die Nase durchforscht die Horizonte, die Füße berechnen, das Blut schreit. Fliehen wir, fliehen wir!Wir haben uns verlaufen!Diese einfachen und gewöhnlichen Worte bringen in diesen Bergwäldern eine so entsetzliche Angst zur Entladung, dass sich mit ihr sogar dasRette sich wer kannder Niederlagen nicht vergleichen lässt. Vor dem Geiste dessen, der diese Worte hört, ersteht die Vision eines menschenfressenden Abgrunds. Es ist der Wald selbst, welcher weit offen dasteht wie ein Maul, das die Menschen einschlingt, welche Hunger und Verzweiflung ihm unter die Zähne bringen…
So ist das Leben zuunterst. So stellt es sich noch heute unverschleiert und zynisch-offen dar in der Sumpf-Welt des Kaltbluts.