Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

VIII. Delicadeza

Wahrheit und Schönheit

Wir können jetzt eine Erkenntnis, die uns schon mehrfach unterlief, besser verstehen, tiefer begründen und weiter ausführen: dass im Anfang nicht die Wahrheit, sondern die Lüge war. Im Anfang war in der Tat nicht der Mut, sondern die Angst und damit die bejahte Empfindlichkeit. Und stellt sich als erste und wichtigste die Frage, was verletzt und was nicht verletzt, so kann Wahrhaftigkeit weder Norm noch Ideal sein. So lehren Primitive ihre Kinder zunächst einmal die Unwahrheit zu sagen, denn offene Darlegung könnte gefährden. Für klug gilt primär nicht, wer die Wahrheit findet, sondern wer am geschicktesten auf dem Instrument der Empfindungen anderer spielt. Dies stellte Frobenius kürzlich in bezug auf die Intelligenznorm der Neger fest1: das Idealbild des Klugen verkörperte in einem Stamme der, welcher seinen Schwiegervater am besten hereinlegte. Die gleiche Anschauung klingt im hebräischen Mythos vom Erzvater Jakob und im hellenischen vom vielgewandten Odysseus nach. Unsere Betrachtungen setzten in dieser Meditation nicht bei der Lüge, sondern bei der Höflichkeit ein, und sie führten uns zu einer Bejahung des Positiven einer Welt bestimmender Delicadeza, wie immer es mit der Kehrseite bestellt sei. So können wir von dieser Stelle her denn auch tiefer als bisher in den positiven Sinn des ursprünglich Bösen eindringen. Die Frauen sind nicht allein das lügnerische, sondern auch das schöne Geschlecht. Verstellung ist die Wurzel nicht allein der Hinterhältigkeit und des Verrats, sondern auch der Rücksicht. Die gleichen Wurzeln wie die Rache und die Grausamkeit hat auch das Mitleid. Also muss wohl das Schöne direkt aus der Unterwelt, es muss aus anderer Wurzel sprießen als das Wahre. Plato, der große Schönheitsversteher, ahnte das; er erkannte, dass die sokratische Gleichung: dass was schön sei, auch gut und wahr sein müsse, nicht stimmt. In seiner wahrheitsfanatischen Spätzeit wollte er deshalb die Kunst und deren Diener aus seinem Staat verbannen. Auch das Christentum ahnte den Zusammenhang. Deswegen war es in seiner radikalen Frühzeit sowohl Weib- wie Schönheitsfeindlich. Und beunruhigt dadurch, dass Liebe und selbstloses Dienen und Dulden gerade in der weiblichen Naturanlage begründet liegen, brachte es das Element asketischer Härte überall hinein, wo es Werte anerkennen sollte. Und es war richtiger Instinkt, der es dazu bewegte, denn mit der Härte-Forderung schaltete es unmerklich die ganze Empfindungssphäre aus seinem bejahten Weltbild aus. Nur geistige im Gegensatz zur natürlichen Liebe sollte es geben, nur Zucht im Gegensatz zur self-indulgence, nur Sündenbekenntnis oder gegenseitige Vermahnung anstatt Rücksichtnahme auf das, was gefällt.

Für die Dauer war diese Entwertung aller Schönheit nicht durchzuhalten, und so stellten die Väter der anatolischen Kirche, als Söhne eines ursprünglichen Schönheitsvolks, die sokratische Gleichung zwar nicht als Bestimmung dessen, was ist, wohl aber als Höchstforderung wieder her. Schönheit, Wahrheit und Liebe sollten eins sein. So sehr versinnlichte sich bald das Christenideal, dass für den Heiligen der Geruch der Heiligkeit, ja bei der Verwesung seines Körpers Ersetzung des Gestanks durch Wohlgeruch gefordert ward. Doch zu sinn- und sachgemäßer Einsicht gelangte das Christentum nie. Und ebensowenig gelang dies der Christentum-entsprossenen Philosophie. Die Wahrheit, die wir anzuerkennen haben, ist, dass die süßesten Düfte aus Verwesungsstoffen hergestellt werden. Dass die Erde, aus welcher schönste Blumen sprießen sollen, gedüngt werden muss. Dass Verstellung die Wurzel dessen ist, was im Menschenverkehr der Empfindung wohltut. Insofern ist Schönheit Tochter des Falschen und Häßlichen und insofern des Bösen. Auf dass auf Erden Schönheit werde, muss sich primär die Frage stellen, was verletzt und was nicht verletzt — nicht was wahr sei oder gut. Die Angst, verletzt zu werden, führt primär zu Verstellung, und die Angst zu verletzen zu umschreibender Höflichkeit. Daher das gleißnerisch-Schöne der Produkte gerade des dritten Schöpfungstages, wo sie nicht abschreckend häßlich sind und anderen damit gebührende Rücksicht nahelegen. Und auch hier erscheinen Positives und Negatives unauflösbar verschmolzen. Die schönsten Blumen und Reptilien sind giftig, die verführerischsten Frauen falsch.

Doch das alles sagt, noch einmal, nicht das allermindeste gegen das rein und absolut Positive der Welt der Schönheit aus. Psychologische Wissenschaft hat neuerdings festgestellt, dass Schönheit im Traumleben Angezogenwerden schlechtweg bedeutet. Schön ist in der Tat ursprünglich das, was der Empfindung wohltut. Diese Erwägungen zwingen uns denn, wie mich bedünkt, endgültig, einen wurzelhaften Gegensatz zwischen Wahrheit und Schönheit anzunehmen. Eine Welt ist an der Wurzel entweder Wahrheits- oder Schönheitsbestimmt. So waren die Griechen ebenso ursprünglich lügnerisch wie die Südamerikaner. So galt es in den gebildetesten Kreisen des alten Orients für verwerflich, in Gegenwart eines Gastes auch nur zu denken, was ihm missfallen könnte. Dies ist der wahre und positive Sinn dessen, was der Europäer orientalische Verschlagenheit heißt. Im Fall des Chinesen hätte er es längst besser wissen können, denn dieser ist als Händler zuverlässiger und ehrlicher als der Okzidentale; desgleichen im Fall des so wesentlich vornehmen und großmütigen Türken. Sehr bezeichnender Weise erfolgte die erste Wiedergeburt des antiken Geists, nämlich die in der Provence, im Zeichen der Schönheit in ausgesprochenem Gegensatz zu aller christlichen Metaphysik und damit zur Wahrheitserkenntnis, wie solche damals verstanden ward. Der Provence galt die cortesia als höchster Wert — und alle Bildung der nordischen Barbaren hat ihren Ursprung in seiner Vorherrschaft. Wie sehr Schönheit primärer Wert sein kann, beweist die griechische Formel ϰαλός ϰἀγαϑός; das Adjektiv schön steht voran. Wie ich einmal im Plaza Hotel zu Buenos Aires, wie so oft, von Unbekannten mit jener spontanen Herzlichkeit, welche für Argentinien charakteristisch ist, zum Mit-Essen an ihrem Tische eingeladen wurde, sagte mir eine Dame, sie hätte noch nie einen Yankee bewusst gesehen und fragte, ob ich ihr einen zeigen könne. Ich wies auf einen Vertreter des guten Durchschnitts hin, der in der Nähe saß. Que feo! (wie häßlich) rief die Frau. Tatsächlich bedeutet Männerschönheit den dortigen Frauen schier ebensoviel, wie Frauenschönheit den Männern.

1 Vgl. sein Buch Erythraea, Atlantis-Verlag, Berlin 1931.
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
VIII. Delicadeza
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME