Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

VIII. Delicadeza

Erlösung von der Brutalität

Und doch, und doch: hat nicht Südamerika gerade um seiner Grenzen und Schwächen willen eine Menschheits-Mission? Oft fragte ich mich drüben, ob wohl ein europäischer Kavalier des ancien régime diese Welt bestimmender Delicadeza ähnlich fremd empfunden hätte wie ich. Die nächstliegende Antwort lautete: nein; wer in erster Linie auf seine persönliche Ehre hält, wer jedes andere Interesse dieser zu opfern bereit ist, muss den vitalen Akzent auf die Empfindlichkeit legen. Und wirklich ist die ritterliche Kultur in ihrem Edelsten Delicadeza entsprungen; ihre Hauptwurzeln waren der exklusive Schönheitssinn der Provence und das natürliche Feingefühl der Araber. Diesen Anlagen bildete sich dann das spirituelle Prinzip der Ehre, d. i. der äußersten Wertbetonung der einzigen Persönlichkeit, als dem ihm angemessenen Körper ein, denn ohne Akzentuierung der Empfindlichkeit kann es bestimmendes Ehrgefühl nicht geben. Dann aber kamen mir Zweifel. Auf historischem Gebiet gilt uneingeschränkt der Satz an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Nicht zufällig ist aus der europäischen Ritter-Welt im Verfolg des Fortschritts die wahrscheinlich ehrloseste Zivilisation aller Zeiten hervorgegangen. Ebensowenig zufällig ist im gleichen Zusammenhang die moderne Brutalität und die beispiellose Häßlichkeit aller historisch bestimmenden modernen Erscheinung. Dies liegt einerseits an der immer ausschließlicher und einseitiger sich auswirkenden Wahrheits-Zentriertheit unserer Welt. Wer die Wahrheit und alle Wahrheit und nichts als die Wahrheit will, der muss, je tiefer seine Einsicht dringt, desto brutaler werden, und desto mehr das Häßliche wollen, denn häßlich sind die Urgründe aller Erscheinung. Der muss zuletzt Verrat und rohe Gewalt und Grausamkeit bejahen, wie dies die Bolschewisten tun, denn Machtpolitik ist böse, kann nur böse sein, und je wahrhaftiger ein Politiker, desto mehr muss er, so er seinen Beruf bejaht, auch dessen Technik bejahen. Doch vor allem liegt die Entwicklung Europas vom Schönen dem Häßlichen zu am einseitigen Aktivismus unserer Welt. Jede Kultur der Schönheit setzt Primat der Empfindlichkeit und damit passive Einstellung voraus; eben daher die physiologische Schönheits-Bestimmtheit der Frauen-Welt. Ist nun ein Wesen extrem aktiv bei sonst noch so beträchtlicher Empfindlichkeit, dann muss der Endausdruck seiner Selbstgestaltung und -darstellung häßlich sein.

Hierzu bieten die Eroberervölker des Ostens die besten Vorbilder; vor einigen Jahrhunderten hätte ich Mongolen und Türken genannt; heute bieten die Kaukasier das beste Beispiel, gerade weil sie von Hause aus schön sind und in ihrer Tradition die Ehre über allem steht. Gelangen sie zur Macht, so erweisen sie sich als die brutalsten aller Herrscher; was Jahrhunderte lang von türkischen Feldherren und Satrapen galt, in deren Adern so viel tscherkessisches Blut floß, gilt heute im höchsten Grad von Stalin. Dessen Geradlinigkeit ist rücksichtsloser noch als die Timurs und Dschingis Khans, weil er über die Machtmittel verfügt, die der moderne Intellekt schuf. Wahrscheinlich werden Asiaten Stalinscher Artung der Nachwelt überhaupt als Vollender des wissenschaftlichen Zeitalters gelten, denn Wahrheitskultur fordert Rücksichtslosigkeit und vollendeter Rücksichtslosigkeit sind nur so harte, kalte und starke, so willensmächtige und aktivistische Männer fähig, wie sie allein unter Asiaten vorkommen. Man verkennt ja die wahre Sachlage ganz, wenn man die westliche Aufrichtigkeits- und Wahrhaftigkeitskultur aus dem abstrakten Sinn des Erkenntnisstrebens heraus definiert. Hat der Westen das Streben nach Wahrheit um ihrer selbst willen erfunden und zur historischen Macht erhoben, so sind es andererseits nur ganz wenige seiner Söhne, die dieses Werk erschufen; Desinteressiertheit ist im kontemplativeren Osten sehr viel häufiger. Nicht die reine, sondern die angewandte Wissenschaft, das Wissen als Werkzeug des Willens zur Macht ist das allgemein westliche Phänomen. Die Wurzeln des Westländertums sind deshalb sein Aktivismus und seine Weltgewaltigkeit. Insofern nun sind die erobernden Asiaten seine prädestinierten Testamentsvollstrecker, womit schließlich nur die ursprüngliche Tatsache zur End-Geltung gelangt, dass Europa eine Halbinsel am Rande Asiens ist. Verglichen mit dem modernen sich asiatisierenden Russland wirkt Nordamerika gebrechlich, denn des letzteren Stärke liegt gar nicht in seinen Menschen, sondern einzig in seinem herausgestellten Machtapparat; wirkt Deutschland schwächlich, weil es alles versteht und dadurch relativiert, England unsicher, weil allzu kompromissbereit, und Frankreich endlich zu gebunden, um der Stoßkraft fähig zu erscheinen, die im Gefälle des modernen Aktivismus liegt. Betrachtet man die Lage vom hier eingenommenen Gesichtspunkt aus, dann besteht kein Zweifel darüber, dass Sowjet-Russland die Vollendung der modernen Entwicklung darstellt, die mit der europäischen Aufklärung begann. Seine Wertbetonung des Untersten und Niedersten ist der Extremausdruck Intellekt-bestimmter Wahrheitskultur, denn gelten nur die Normen analytischer Wissenschaft, nicht die vorausgesetzter geistiger Werte, dann ist das Unterste freilich das Entscheidende, wie dies ja Freuds Psychoanalyse, ein Kind des gleichen Geistes, auch behauptet; dann ist auch die Masse mehr als die Persönlichkeit, denn nur das Vergleichbare, nicht das Unvergleichliche zählt vor dieser Instanz, und die Begriffe mehr und weniger sind nur quantitativer Deutung fähig.

Nun ist aber klar, dass weder der Materialismus des Bolschewismus, noch sein Kollektivismus, noch erst recht sein Satanismus unserem tiefsten und wesentlichsten Streben gemäß sind. Und diese eine Erwägung genügt zur Widerlegung der Behauptung des absoluten Werts einer einseitigen Wahrheits- und Aktivitätskultur. Mehr noch: gleiches gilt von einseitiger Erkenntnisgeist-Kultur überhaupt. So sinnwidrig es ist, diesen Geist schlechthin als Widersacher der Seele hinzustellen — herrscht seine Initiative unbeschränkt, dann schafft er die Erde nicht zum Himmel um, wie ausgerechnet der Bolschewismus dies erhofft, sondern zur Hölle; großartiger als irgendein Ereignis altertümlicher Geschichte bestätigt die russische Revolution die Wahrheit des Mythos von Luzifer. Gerade dann gelangt der Geist der Unterwelt auf der Oberwelt zur größten Vormacht. Die Möglichkeit dieser Enantiodromie nun beweist endgültig, dass Ober- und Unterwelt organisch zusammenhängen. Und hieraus scheint mir zu folgen, dass gerade die Ungeistigkeit und Passivität Südamerikas in dieser Wende eine Menschheitssendung haben kann.

Nur aus der Bejahung der Empfindlichkeit und ihrer Hochkultur heraus scheint, in der Tat, in dieser Zeit sich übersteigernden aktivistischen Geists eine Apokatastasis der Seelenkräfte möglich, und von dieser her eine neue Schönheitskultur. Weder neuerwachende Religiosität noch irgendeine Spiritualität kann sie bewirken, von intellektueller Kritik zu schweigen, die ja das einzige ist, was die heutigen Seelensekundanten Europas mit einigem Erfolge üben. Es handelt sich ja um keine Widerlegung des Geists oder um eine Umformung der bisherigen Geistigkeit; auch nicht um eine Neubestimmung der anderen psychischen Kräfte, sondern um deren reale Neuhineinbeziehung ins Leben von deren realen Wurzeln her, die andere sind, als die des Erkenntnisgeists, und anderen Gesetzen folgen und sich an anderen Normen orientieren. Mich hat Südamerika vor allem eins gelehrt, was ich als mögliches Ergebnis meines Philosophierens nie erwartet hätte: am absoluten und exklusiven Wert der Wahrheitssuche zu zweifeln. Sogar die höchste und reinste Geistigkeit früherer Zeiten war nicht wesentlich und jedenfalls nicht ausschließlich Wahrheitswollen. In Europa galt bis zur Aufklärung die letzte Wahrheit als vorgegeben: sie sollte einerseits aufgezwungen, andererseits geglaubt werden, genau wie Marx’ Lehre in Sowjet-Russland, und auch die Behauptung, dass höchste Einsicht den Glauben bestätigen müsse, findet sich hier wie dort. Indiens Wahrheitswille hatte eine bestimmte Zuständigkeit zum Ziel, die zwar eine höchstdurchgeistigte war, jedoch mit dem, was wir Wahrheitswissen heißen, wenig zu tun hatte. Die meiste hohe Geistigkeit aller Zeiten hat sich auf dem Gebiete dessen betätigt, was ich in Menschen als Sinnbilder und Schöpferische Erkenntnis als Magie bestimmt habe, und an zweiter Stelle auf dem der Kunst; Ziel war fast ausnahmslos, eine Welt zur Welt zu tragen, wie Goethe es nannte, nicht die Erfahrungswelt zu begreifen, wie sie ist.

Die Zeiten hoher Religion, Magie und Kunst sind nun zwar auch oft aktiv genug gewesen. Aber da ihnen nicht allein der durchdringende Wahrheits- und der überwältigende Herrschaftstrieb, sondern auch die Empfindlichkeit, sonach ein Passives, Gana-mäßiges, als lebendige Wurzel zugrunde lag, so konnten sie Höchstblüten integralen Menschentums hervorbringen. Diese Blüten sind allesamt verwelkt und die entsprechenden Pflanzen wo nicht abgestorben, so doch gar lebensschwach geworden. Deshalb tut radikal Neues not. Nun verläuft aller historischer Fortschritt kontrapunktisch; der Weg von einer Einseitigkeit zur Ganzheit führt immer über eine andere kompensatorische Einseitigkeit, oder wenigstens Über die Polarisation mit solcher hinüber. Hier denn sehe ich die mögliche große Sendung Südamerikas. Der Argentinier Ernesto Quesada wies neulich auf die Möglichkeit hin, die Nachfolger der Westeuropäer als Protagonisten der Geschichte könnten sehr wohl die Indianer und nicht die Russen sein. Die Frage ist falsch gestellt, denn Russlands Stunde hat bereits geschlagen. Und es ist äußerst unwahrscheinlich, dass es nicht noch weit größere Kontaktmetamorphose bewirken sollte, als es schon bewirkt hat. Wie sollen die Massen anders aufsteigen als dank extremem Aktivismus, extremer Rücksichtslosigkeit, religiös geglaubtem Materialismus, betonter Qualitätsfeindschaft und vollkommenem Verzicht auf alle Schönheit? Weniges beeindruckte mich stärker während der großen russischen Revolution, als die Hellsichtigkeit des Hasses gegen alle Schönheit, die dort am Werke war. Auch die dumpfen russischen Bauern wollten die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, nur eben im Sinn des Dogmatismus einer- und des Naturalismus andererseits. Und wenig anders steht es mit dem nordamerikanischen Manne auf der Straße. Es bleibt sich wesentlich gleich, ob der Wahrheitsbegriff abstrakt-intellektualistisch, wie in Russland, oder pragmatisch, wie in den Vereinigten Staaten gefasst wird. Letzterer unterscheidet sich vom ersteren nur dadurch, dass er einzig an der Erfahrung erwiesene und nützliche Wahrheit gelten lässt; der vitale Maßstab ist der gleiche, denn gleiche Urkräfte speisen beider Triebe.

Wo nun Empfindlichkeit bestimmt, da stellt sich nicht allein die Frage der absoluten Wahrheit oder bestimmter Wahrheit als absoluten Wertes nicht: ebensowenig stellt sich die der Nützlichkeit. Empfindlichkeit kann unter anderem biologisch sichern; bestimmt sie indessen über die Grenzen des Naturzusammenhangs hinaus, wie dies beim Menschen von Hause aus der Fall ist, dann gefährdet sie mehr als sie nützt. Doch Empfindlichkeit in ihrer ganzen Ungeistigkeit allein führt zur Befriedigung und Beglückung dessen im Menschen, was im Höchstfall reine Schönheit will. Plato vertrat Schönheits- und nicht Wahrheitskultur, da er lehrte, man müsse erst einen schönen Körper lieben und dann wieder einen und so weiter, bis dass man zuletzt der Idee der Schönheit teilhaftig werde. Im Körper bestimmender Delicadeza allein kann sich auch das spirituelle Prinzip der Ehre unverbildet materialisieren: denn auch die Natur-Voraussetzung des Ehrgefühls ist die Verletzbarkeit und sein Ideal ist Vollkommenheit im ästhetischen, nicht im moralischen Verstand; wer für seine Ehre kämpft, kämpft für die Integrität seiner Seele und damit deren Schönheit.

Hier liegt denn die große Bedeutungsmöglichkeit der Menschenart, welche den südamerikanischen Kontinent bewohnt. Gerade dank ihrer Ungeistigkeit und Primitivität, die jedoch ursprünglich raffiniert ist, mag sie als erste nach langer, langer Zeit eine exklusive Schönheitskultur hervorbringen, die als Polarisator der sich unaufhaltsam Intellektualisierenden sonstigen Welt allen Menschen neue Möglichkeiten und Wege wiese. Vor dem russisch-asiatischen Ansturm ist Südamerika sicher. Zum nordamerikanischen steht es in angeborener Abwehrstellung; zwangsläufig wird es immer mehr das in sich verneinen, worin Nordamerika ihm überlegen ist, und das betonen und pflegen, worin es sich einzig fühlt. Südamerika wird ganz gewiss ebensowenig je nordamerikanisiert werden, wie Griechenland romanisiert ward. Der südamerikanische Mensch scheint freilich schwach, insofern er passiver Artung ist. Aber nicht allein ist das Schwache und Nachgebende, gemäß chinesischer Lehre und aller Männererfahrung in bezug auf Frauen, für die Dauer stärker als das Starke — der Nordamerikaner ist trotz seines Aktivismus tatsächlich schwächer als jener, denn sein Lebendigstes hat er in sich abgeschnürt. Deswegen scheint mir Südamerikas kulturelle Zukunft äußerlich gesichert. Freilich muss erst der Geist über diesen Erdteil kommen, ehe er eine originale und ihm gemäße Kultur hervorbringen kann. Aber alle Vorbedingungen sind da. Es ist möglich, ja es ist wahrscheinlich, dass die nächste Wiedergeburt jenes Geists, der das hellenische Wunder ermöglichte, welcher zuerst in der Provence, dann der italienischen Renaissance, zuletzt in der französischen Formkultur wiedererstand, welch letztere aber heute leider schon intellektualistisch verhärtet ist —, dass die nächste Wiedergeburt jenes Geists in Südamerika stattfinden wird; zum Heil aller Menschen, zur Erlösung ihrer aller von der Brutalität.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
VIII. Delicadeza
© 1998- Schule des Rades
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