Schule des Rades
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen
I. Der Kontinent des dritten Schöpfungstages
Geist der Schlange
Wie der Geist des Minerals eine ganze Landschaft bestimmen kann, so kann es der Geist der Schlange. Auch der ihr entsprechenden Schicht in mir ward ich mir in Südamerika bewusst. Zuerst äußerte sich dieses Bewusstwerden in Projektionen. Ich hatte nicht allein immer wieder Schlangenvisionen — ich sah mehr Amphibien und Reptilien in die Landschaft hinein, als ich tatsächlich gewahrte, und ahnte urweltliche Hintergründe gar in flachsten Vordergrundwesen. Doch bald stellte sich das rechte Verhältnis zwischen dem in mir
und außer mir
ein. Südamerika ist wirklich Schöpfungsbrodem
, wie heute kein anderer Kontinent. Hier liegt in der Natur mehr zeugerische Phantasie fixiert, wie irgend sonst. Kein Erdteil bringt auch nur annähernd so viele Heilkräuter, Gifte und Nährpflanzen hervor. Nirgends tritt die Pflanzen- und Kaltblüterwelt so reich und aufdringlich in die Erscheinung, reich in jedem Sinn. Der Haut brasilianischer Frösche eignen Gaben, um die sie das größte medizinische und technische Genie beneiden könnte. Der Amazonas allein soll eintausendeinhundert dort allein heimischer Fische beherbergen, und in den sein Stromgebiet bedeckenden Urwäldern kaum weniger Vögel- und Insektenarten, als die ganze übrige Erde zusammen. Wie verdichtet-spezifiziert dort die Natur als Schöpfungsbrodem in die Erscheinung tritt, verdeutlicht die folgende Schilderung des Besuchs eines brasilianischen Urwaldtümpels1 am besten.
Ich schreibe sie als Sinnbild hin; auf allen Ebenen ist Entsprechendes zu finden, doch das Schauerliche gerade dieser Schilderung dient am besten dem Zweck, den ich erreichen möchte. Zunächst die Nachtstimmung:
Das schwerflüssige Wasser zwischen den Bäumen zitterte leise unter dem brandroten Licht des glühenden Monds. Melancholische Vogelrufe drangen durch das Helldunkel der Nacht, ein kaum wahrnehmbarer Windhauch wisperte in Laub und Röhricht. Und im Wasser begann jetzt ein unheimliches Treiben, ein Glucksen, Plätschern und Rauschen, ein immer wilderes Spritzen und Klatschen. Das ganze tote Gewässer regte sich in unsichtbarem Leben, und mir wurde allgemach klar, was für ein Leben das war, und die Haare wollten sich mir sträuben. Es waren Krokodile. Das ganze Gewässer schien buchstäblich nur aus Krokodilen zu bestehen! Und die Reptilien fielen jetzt bei Nacht anscheinend übereinander her, ein unaufhörliches dumpf quarrendes Brüllen schwoll aus der Mitte der Lache herüber, ein rasendes Schwanzschlagen, ein dröhnendes Klappern mächtiger Kiefer, ein gischtendes Aufspritzen von Wasser, und über die Kämme der aufschwellenden Wogen hinweg huschten die trübroten Reflexe des geisterhaften Mondlichts. Mir war, als wäre ich zwanzig Millionen Jahre zurück in die Urwelt versetzt — so mögen die Nächte am Jura-Meer gewesen sein, wenn die Kämpfe der Ichthyosaurier im Dunst der Kohlensäurewolken tobten und im roten Glanz das Feuerlicht des noch nicht erkalteten Mondes darüber schimmerte.Und von der Jagd des nächsten Morgens heißt es:Die Vaqueiros stiegen mit Knüppeln bewaffnet ins seichte Wasser und begannen da alles Lebendige aufzustochern, und dieses Lebendige waren ausschließlich Krokodile, Krokodile, Krokodile. Die Panzerechsen müssen in dieser Lagune wie gepackte Bücklinge übereinander gelegen haben, sonst hätten sie gar keinen Platz darin gehabt. Denn allein an dem schmalen Ausläufer des Gewässers, an dem ich stand, sind nicht unter fünfhundert vorbeigezogen… Kurz bevor die Vaqueiros die Mitte des Pfuhls erreichten, war er zu einem einzigen wimmelnden Chaos von Krokodilen geworden. In wildem Entsetzen stoben die gepanzerten Riesen vor den schreienden stochernden Menschen her, rauschten wie eine anrollende wallende Brandungswoge zu beiden Seiten des Ausläufers an Land herauf, wackelten in schwerfälliger Eile über den trockenen Boden davon, fuhren drunten im rauschenden Strudel wie das Kielwasser eines Dampfers und mit der wimmelnden Gedrängtheit eines Heringszuges das flache Wasser hinauf, und unaufhörlich krachten die Keulenschläge der nachstapfenden Vaqueiros auf die gepanzerten Schädel nieder.
Eben dieser Geist des Schöpfungsbrodems beherrscht Südamerikas Landschaft überall, wo die Erde nicht wüste und leer
ist. Wo drüben neues Leben anhebt, gewinnt es also bald den Charakter eines Urbeginns. Letzteres gilt von Argentinien. Zu seiner überkommenen Landschaft passen allein die ausgestorbenen Vorwelttiere, zumal die riesenhaften Edentaten. Und die wenigen alten Lebensformen, denen man noch begegnet, machen alle, so oder anders, vorweltlichen Eindruck. So der Ombú, der einzige eingeborene Baum der Pampa, mehr Schwamm als Holz, eine Pseudomorphose ähnlich jenen Echsen, die einstmals spätere Säugetiere vorausskizzierten; das Gürteltier, der Guanaco, der Strauß; jener jazzbandartig kreischende gelbe große Vogel, welcher Wespennester baut; der patagonische Hase, dieses Hirsch- oder Antilopen-Rudiment. Doch was dem heutigen Argentinien seinen wahren Charakter gibt, ist samt und sonders von außen eingeführt. Ohne europäische Gräser gäbe es die heutige Pampa nicht; hätte Cook Australien nicht entdeckt, ihr fehlte das Element des Vertikalen, das aus ihr ohne Gewaltsamkeit nicht wegzudenken ist: der Eukalyptus. Die wahre Fauna Argentiniens nun besteht aus eingeführten und dort verwilderten Haustieren, Kühen und Pferden; diesen aber in solcher Unzahl, von so ungeheuerlicher Fruchtbarkeit, als handelte es sich um Frösche. Das Kaltblut als solches spielt in der argentinischen Landschaft eine geringe Rolle. Doch der Geist des Kontinents des dritten Schöpfungstags bedingt, dass gerade das warme Blut an der Lebensmodalität des kalten teil gewinnt. Die Viehmassen der Pampa sind nur vom Schöpfungsbrodem aus zu verstehen. Und gleiches gilt von der Animalität des argentinischen Menschen. So anders er sei, als die tropenbewohnenden Südamerikaner — er ist doch Sonderausdruck des allgemeinen Genus, so dass man von hoher Warte aus den Brasilianer und Venezolaner und ihn unwillkürlich in eins zusammenschaut. Und da springen als erstes gemeinsames Kennzeichen kaltblutgemäße Züge in die Augen. Im folgenden werde ich vereinfachen und verallgemeinern, und obwohl vieles im Falle einiger Typen nicht in dem Gewichtsverhältnis zutrifft, wie ich es schildere, so gilt es im qualitativ-differenzialen Verstande durchaus. Der südamerikanische Mensch ist wesentlich stumm. Desto stummer, je tiefer er ist. Je ernster ein Konflikt, desto mehr verhält er die Stimme. Wichtiges wird nie ausgesprochen, nur angedeutet; nur Angedeutetes, umgekehrt, sofort verstanden. Hier scheut der Geist das Licht. Der Zusammenhang, welchen oberweltlichen Menschen die Rede schafft, besteht hier vom Schweigen her. Alle wurzelechte Geistigkeit ist passiver Artung, die Gesichter sind starr. Der undurchdringliche, dumpfe, blinde und zugleich lauernde unheilschwangere Ausdruck, welchen drüben so viel mehr Menschen zeigen, als böse sein können, spiegelt den Blick der Amphibien und Reptilien jenes Erdteils wider. Sogar der gelegentlich vulkanisch hervorbrechende prachtvolle Enthusiasmus des südamerikanischen Menschen hat etwas Schlangenhaftes: er gleicht dem sich-Schleudern der königlichen Anaconda, die unmittelbar darauf in brütende Apathie zurücksinkt. Und als ich da zuerst spirituell strebendem Menschentum begegnete, fiel mir von selbst — ohne jede archäologische Kenntnis dazumal — das mexikanische Ursymbol der gefiederten Schlange ein.
Solche Reptilisierung des Menschen ist keine Unverständlichkeit. Sobald die Dominanten des dritten Schöpfungstages anklingen, entsteht zwangsläufig ein Gesamtbild ähnlich dem hier schematisch Geschilderten. Schon bloße Hypertrophie der Sinnlichkeit, durch tellurische und atmosphärische Einflüsse bedingt, wirkt dahin. Es ist wohl gut, wenn ich hier einige Oberflächenschilderung einfüge. Die Atmosphäre Rio de Janeiros ist ein einziger Aphrodisiacus; die des Urwalds ist allenthalben überreizend. In den kühleren Breiten jedoch schafft der Geist der Landschaft ungeheuerliche Potenz und Fruchtbarkeit. So äußert sich die Angleichung der Eingewanderten an die neue Erde in nichts so sehr, als in der dort erwachenden frenetischen Sexualität. Mehr als irgendwelchen Männern auf Erden bedeutet Argentiniern ihre Manneskraft. Ihr Leben ist wie das keiner anderen mir bekannten Mannesart auf Sinnenbefriedigung und Fortpflanzung gerichtet. Allein dadurch, dass dies dort als selbstverständlich gilt, gewinnt dieses Leben, sogar wo es unzweideutig Laster ist, die Unschuld des Schöpfungsbrodems, des Teichs zur Laichzeit. In Südamerikas Freudenhäusern herrscht nicht gellende Unzucht, sondern die Stille konzentrierter Prokreation, im Ur-Sinne des deutschen Wortes Zucht, und in den Pausen wie Feierabendstimmung. Ich entsinne mich eines Soupers, das mir Männer des beamteten Geistes und der Politik in einem primitiven Bordell gaben: dessen Atmosphäre war gemütlich-häuslich, wie die des Heims eines viehzüchtenden Bauern. So zeichnet sich auch das Sklavinnen und Zuhältertum drüben dadurch aus, dass an den Mädchen nicht allein verdient, sondern für sie gesorgt wird. Die nach Argentinien und Brasilien Verschleppten enden meist nicht unglücklich. Mit den eigentlichen Queridas, den Geliebten, ist es unmittelbar glänzend bestellt. Die Vornehmsten unter diesen, meist größte Schönheiten, werden eingeführt, so wie ein orientalischer Herrscher sich schönste Mädchen für seinen Harem sammelt; um ihre Stellung könnte manche europäische Gattin sie beneiden. Es gibt verschiedenste Kreise und Schichten von Queridas, die einander nicht stören, meist nichts von einander wissen, die nebeneinander herleben wie die verschiedenen Tierarten in der Natur. Insofern besteht auch kein Widerstreit zwischen Laster und Familie. Diese ist Sanktuariurn, weil der Mann dies eben auch, und zwar an erster Stelle will, wo er obendrein ein losgelöstes Sinnenleben führt; hier ist er der sorgsame Patriarch. Die Mädchen sind keusch, die Frauen treu — so will es die Urordnung der Natur. Die Familien sind richtige Brutanstalten. Es gibt phantastisch viele Kinder. Ob in bezug auf das Bordell oder das Heim — auf dieser Erde fielen mir immer wieder die französischen Zeitwörter grouiller, pulluler ein.
Und dies zwar stets mit der Nuance der brodelnden Prokreation des Kaltbluts. Deswegen wirkt Südamerika auf oberflächliche Beobachter so leicht als Sündenpfuhl. Pfuhl ist es freilich, nur der Begriff der Sünde hat da nichts zu suchen. Und lasterhaft ist vieles typischerweise auch — aber hier nur in dem Verstand, dass es nicht nur Säugetiere, sondern auch Molche gibt. Dieses Kaltblüterhafte berührt einen, bis dass man verstanden, auf unheimliche Weise paradox, denn zumal Argentinien ist überdies das Land der Herzlichkeit, Impulsivität und Spontaneität. Die Frauen sind von großer Süßigkeit, und da die ganze Lebensordnung im Gemüt wurzelt, so sollte dies wärmste Atmosphäre ergeben. Der Schluss scheint so zwingend, dass meine Phantasie lange solche Wärme konstruierte. Allein zu Unrecht. Die Zärtlichkeit, Sanftmut, Süßigkeit und Freundlichkeit sind da wesentlich Eigenschaften des Kaltbluts: von sich aus fröstelnd, stellt der Mensch dieser Breiten sein ganzes Leben instinktiv darauf ein, durch wohltuende Eindrücke erwärmt zu werden. Wie keiner reagiert er auf Wärme, aber er hat sie nicht. Er ist durchlässig für Wärme wie Kälte eben wie der Kaltblüter; deswegen perhorreszieren dortige Frauen auf sonst unbekannte Weise jegliche Härte; Zorn ist ihnen Laster, aus warmer Leidenschaftlichkeit fühlen sie zuerst und zuletzt die Heftigkeit heraus, und diese vertragen sie nicht. Aber andererseits wollen sie im tiefsten Innern vergewaltigt werden; sie wollen ganz passiv sein können, jeder Verantwortung bar; und der häufige sexuelle Erfolg südamerikanischer Männer in Europa beruht darauf, dass sie ihrerseits bei allem Zartgefühl mit Ur-Selbstverständlichkeit vergewaltigen. Groddeck hat nicht ganz unrecht, wenn er sagt: die primitive Frau erkennt zutiefst nur einen Liebesbeweis an — die Notzucht.
In der kaltblüterhaften frenetischen Sexualität des Südamerikaners liegt denn auch eine Wurzel der tiefen südamerikanischen Melancholie. Post coitum animal triste. Es herrscht die Stimmung des erschöpften Froschmännchens oder des an seinen Eiern zerspringenden Weibchens. Wie sich der Mensch im Urwald des Amazonas verschlungen fühlt, so fühlt er sich versinkend im Sumpf seiner eigenen Unterwelt. Die Exuberanz südamerikanischen Lebens steht nie unter dem Zeichen der Freude. Das argentinische hieß ich una vida a la sordina. Die Straßen sind halbdunkel bei Nacht, die Gesichter impassibell leise wird gesprochen, vernehmliches Lachen gilt als taktlos, äußerstes Dekorum wird überall äußerlich gewahrt — alles dies zur Verdeckung des Sumpfes im eigenen Innern.
Aber eben daher andererseits der besondere Trieb nach Schönheit. Gibt es den irgendwo auf Erden ohne häßlichen Untergrund? Ward er nicht überall am dritten Schöpfungstag geboren? Nirgends läutert Gestein sich so vielfach zu Edelgestein wie in Südamerika. Den Ursinn des Smaragds, des Rubins, des Turmalins verkörpern auf der Ebene der Tierheit die Korallennatter, der Glanzfalter, der Kolibri, vor allem das reiche Geschlecht der Kleinod-Fische des Amazonas. So ist auch Selbstverwirklichung in Form der Schönheit keinem heutigen Menschen so primärer Drang, wie dem Südamerikaner. Zunächst wirkt dieser noch leicht wie halbgeschaffen; als Rohprodukt oder Skizze der Natur. Was als vollkommene Schönheit intendiert war, bleibt ein Zusammenbestehen von gleißender Oberfläche und unterweltlichem Wesen. Daher das für diesen Erdteil Typische der Erscheinung des rastaquaire: seine übertriebene und falsche Eleganz, seine juwelenbesätheit, seine protzige Zurschaustellung meist nicht vorhandenen und keinesfalls soliden Reichtums sind nicht Kennzeichen des wesentlichen Hochstaplers, sondern der Inkongruenz von Wesen und Form. Der rastaquaire sehnt sich aufrichtig zu sein, was er nur scheinen kann. Eben dank dem aber wird sein Nachkomme es einmal wirklich sein.
1 | Zitiert aus einem Aufsatz Arthur Heyes in der Neuen Schweizer Rundschau, August 1930. |
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